Brief 192 | Die ganz großen Themen :-)
Liebe F.,
Wandel
Wandel setzt „Zeit“ voraus, zumindest ist es dem Homo Sapiens, so glaube ich, nicht möglich, Veränderung ohne die zeitliche Dimension zu denken, oder? Zeit und Wandel wiederum sind zugleich auch mit dem Denken eines „Anfanges“ und eines „Endes“ verknüpft, mit dem Werden und Vergehen. Behaupte ich jetzt schwungvoll. Den biblischen Schöpfungsmythos zum Beispiel finde ich sehr schön, insbesondere die poetische Kraft darin. Das jüngste Gericht und der Endzustand hingegen sind verblasst, sie spielen, soweit ich weiß, keine Rolle mehr im theologischen und christlichen Denken. Endlos oder ewig geht es weiter, das Ende wird zumindest nicht thematisiert. Die Urknall-Theorie, eine andere, naturwissenschaftliche Form, den „Anfang“ zu denken. Ich schweife ab, fällt mir auf, wenn ich nun naheliegend finde, nach dem zu fragen, was denn vor dem Anfang war und nach dem Ende sein wird. Nichts – ebenso wenig zu denken wie die Zeitlosigkeit.
Zum „Wandel“ zurückkommend, schließt „Wandel“ nicht notwendig die Zielstrebigkeit aus. Weißt Du, ob der Wandel im Buddhismus ungerichtet, ziellos gedacht wird? Treten die zeitliche und die kosmische Dimension überhaupt in den Blick? Der unendliche oder besser der unbegrenzte Raum, das Universum scheint mir unvorstellbar, mir zumindest ist dieses Bild nicht vorstellbar. Lediglich begrifflich geht es. Entsprechendes gilt für die Zeit.
Oha, da gehst du ja richtig in die Vollen. Zeit und Raum und Anfang und Ende und Unendlichkeit … Ja, das sind auch für mich lauter Sachen, die im Begrifflichen steckenbleiben. Vorstellen kann ich mir das meiste nicht.
Nein, wie der Wandel im Buddhismus näherhin gedacht wird, weiß ich nicht. Mir fällt nur ein, dass es zumindest das ultimative Ziel gibt, aus diesem Wandel auszusteigen, sprich: ins Nirvana zu gelangen. Wobei auch das eine komplizierte Sache ist. Früher dachte ich immer, damit sei gemeint, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen, in dem selbst das Erreichen der Götterebene nicht davor bewahrt, zum Beispiel wieder ins Reich der Hungergeister zurückzufallen. Im Nirvana hätte man endlich seine Ruhe, sozusagen. Die Auslegungen im Zen, die ich bisher gehört habe, gehen aber in eine andere Richtung, denn dort spielt der Gedanke der Wiedergeburt kaum eine Rolle (oder ich habe davon noch nichts mitbekommen). Hier verwirklicht sich das Nirvana im Samsara, also im alltäglichen Leben. KEINE AHNUNG, was damit gemeint ist! :-) Hier spielt wieder die Verschränkung von Absolutem und Relativem eine Rolle, von der ich in meinem letzten Brief gesprochen hatte.
Auf jeden Fall sehe ich das wie du, dass Wandel und Zielstrebigkeit einander nicht ausschließen müssen. Dass sich alles im Wandel befindet, bedeutet ja nicht, dass wir völlig ziellos durchs Leben taumeln. Mir fällt das Bild einer Wanderung ein. Irgendwann erreicht man sein Ziel, die Wanderung endet. Aber was passiert dann? Ist dann Schluss? Hört die Welt plötzlich auf zu existieren, nur weil ich an ein Ziel gekommen bin? Nach meiner Vorstellung ist jedes Ziel immer nur ein Durchgangspunkt. Selbst wenn ich MÖCHTE, dass ein erreichter Zustand als endgültiges Ziel dauerhaft bleibt, hat „die Welt“ dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden, die sich weiterbewegt und ich als ein Teil von ihr mit ihr, und schwupps! ist der „endgültige Zustand“ schon wieder passé. Oder wie es in unserem Blog-Untertitel heißt: Das Leben geht weiter.
Ich habe meine Gedanken ziellos umherschweifen lassen und komme am Ende zu meiner Person zurück. Der Gedanke, dass auch ich mich während der Spanne meiner Lebensdauer beständig wandle, ohne ein Ziel, der gefällt mir gut.
Warum? frage ich jetzt mal ganz schnörkellos interessiert.
Natura non facit saltus
Mehr oder weniger Serotonin begründen die Wahl von Möglichkeit eins oder zwei? Das kommt mir absurd vor. Aber vielleicht steht dahinter sowieso ein ganz anderes Rätsel, wie mir auf einmal in den Sinn kommt, nämlich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass Stoffliches auf Geistiges einwirkt? Näher bedacht ist es ja ganz gleichgültig, ob Gefühle nun mit dem Denken verknüpft sind oder nicht, denn unerklärlich bleibt, wie das Gehirn Gedanken produziert. Wie entstehen aus Nervenzellen, elektrischen Signalen und Hormonen Gedanken –und/oder Gefühle? Wie bringt Stoffliches den Geist hervor? Wenn man sagt, das Denken sei eine Aktivität des Gehirns, dann ist das zwar eine Erklärung auf physiologisch-chemischer Ebene, nur bleibt aus meiner Sicht das Phänomen bestehen, dass aus der Materie das entsteht, was wir „Bewusstsein“ oder „Geist“ nennen, etwas kategorial vollkommen anderes.
Und weiter geht es mit den ganz großen Themen, nun also Geist und Materie. :-) Mein spontaner erster Gedanke war: Ist diese Cartesische Trennung überhaupt notwendig und sinnvoll? Haben wir es hier wirklich mit etwas „kategorial vollkommen Anderem“ zu tun? Ein Weltbild mit stetiger Entwicklung und fließenden Übergängen finde ich viel naheliegender. Für mich ist der Vorgang, dass aus einem Samenkorn ein Baum wächst, nicht weniger mirakulös als der Vorgang, dass aus elektrischen Signalen und chemischen Stoffen Gedanken und Gefühle erwachsen. Schon Einzeller nehmen Informationen auf und verarbeiten sie, warum sollten dann nicht beispielsweise aus Rückkopplungen von hochspezialisierten Zellverbänden wie den Hirnzellen neuartige Phänomene entstehen? Ich muss dazu nicht notwendig einen kategorialen Sprung annehmen. Natura non facit saltus. (Mein Wikipedia-Latein wieder :-).)
Wir nähern uns hier wieder dem Thema der KI. Nullen und Einsen, die menschliches Verhalten simulieren – ab wann schlägt die Simulation in echte Eigenständigkeit um?
Womit ich überleite zum letzten Abschnitt deines Briefes.
Bevor ich Deine Schlußbemerkung las, hatte ich meinen spontanen Einfall schon in die Tat umgesetzt. Es kommt mir vor wie ein Wagnis, eine Art von Tabubruch, entfernt vergleichbar dem Wechsel von der Handschrift zum Tippen. Der Hintergrund ist der, dass ich angefangen habe, mich mit der KI und ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Mich interessieren nicht die selbstfahrenden und einparkenden Autos und auch nicht die kleinen Roboter, die inzwischen in Restaurant die Bestellungen an die Tische bringen, wie ich hörte, sondern ihre Leistungen in Bezug auf Informationen und das eigenständige Erstellen von Texten. Aus diesem Grunde schaue ich manchmal, was ChatGPT im Unterschied zu anderen Auskunftsquellen zu antworten weiß. Für das von mir Zitierte paßt ein Ausdruck, den Du einmal benutzt hattest: "Floskel".
Nein, kein Tabubruch. :-) Mit „und keine KI“ hatte ich gemeint, dass wir beide uns sicher sein können, dass wirklich wir selbst schreiben. Wenn du, wie in deinem letzten Brief, KI verwendest, dann kennzeichnest du das auch deutlich. Und ich wüsste nicht, warum es verwerflicher sein sollte ChatGPT nach etwas zu befragen, als bei Wikipedia nachzuschlagen.
Irgendwann ...
Doch, ich erinnere mich an eine Äußerung von F. Mayröcker, die ich einmal in einem ihrer Texte gelesen habe: „Und wieder ist ein Tag vorbeigegangen, ohne dass ich die großen Fragen des Lebens beantwortet habe“ (aus der Erinnerung zitiert). Für mich schwingt darin mit, dass die großen Fragen von den unerleuchteten Wesen sowieso nicht zu beantworten sind und auch gar nicht beantwortet werden können, dass sie aber benötigt werden, damit immer noch etwas aussteht, das einer Antwort harrt. Der zweite Teil des letzten Satzes ist eine Ergänzung, die wohl typisch für mich ist.
Ja, vielleicht typisch in dem Sinne, dass du, wie du mal schriebst, mehr im Modus des Zukünftigen denkst und lebst? Da muss doch irgendwann noch irgendwas kommen ...
B.
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