Frau mit Griffel

Um das Jahr 50 gemaltes Fresko aus Pompeji, entdeckt 1760

(Quelle: Wikipedia)


Brief 146 | Nichts ist beständiger als die Veränderung

Liebe F.,

Gut versichert?

Ich würde auf die Frage, was denn erstaunlicher sei, die Veränderung oder die Festigkeit, ganz anders antworten und zwar so: Für unsere Orientierung in der Welt brauchen wir Stabilität, Kontinuität und Regelmäßigkeit. Wir müssen davon ausgehen können, daß wir nach durchschlafener Nacht am nächsten Morgen in –ungefähr- derselben Welt wieder aufwachen, in der wir eingeschlafen sind. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Aufgang der Sonne am Morgen und ihr Untergang am Abend. Nur das Feste, immer Wiederkehrende gibt uns einen Halt, in dem wir leben und handeln können. Aus diesem Bedarf heraus entsteht, so vermute ich, die Annahme, die wie selbstverständlich erscheint, daß das Normale die Dauerhaftigkeit und Festigkeit dessen ist, was besteht und jede mehr oder weniger starke Abweichung das Unnormale, das Außergewöhnliche ist. Ich würde daher den Umstand, daß wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschen vom „Bestand der Dinge“ (auch in menschlichen Beziehungen) ausgeht, von einem kreatürlichen Orientierungsbedürfnis her erklären. Das Unveränderliche scheint wie ein Hintergrund, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird.

Ob Du zu der „Mehrzahl der Menschen“ gehörst, das lasse ich offen. Es geht auch, wie ich finde, nicht aus Deiner ganz anders gearteten Antwort hervor. Muß es ja auch nicht :-).

Aber machen wir nicht immer wieder beide Erfahrungen: die der Beständigkeit und die der Unbeständigkeit? Dinge und Beziehungen (auch menschliche) bilden sich, bestehen eine Weile, zerbrechen wieder. Was von beidem ist Hintergrund, was Vordergrund? Dass das Unveränderliche als Hintergrund gesehen wird, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird, überzeugt mich nicht so recht. Mich persönlich ohnehin nicht, dazu klingt es mir viel zu sehr nach Metaphysik. Aber auch was die „Mehrzahl der Menschen“ angeht, so bezweifle ich, dass es bei ihnen so ist. Woher sonst kämen Zukunftsängste bis hin zur Angst vor dem Tod, wenn nicht aus der Erfahrung heraus, dass alles veränderlich ist, dass eben nichts Bestand hat, so fest es im Moment auch erscheinen mag? Wovon leben die Versicherungen, wenn nicht von dem Bedürfnis der Menschen sich wenigstens die Illusion von Sicherheit zu schaffen, weil sie nur zu gut wissen, dass alles jederzeit den Bach runtergehen kann? 

Ja, im Alltag vertrauen wir unhinterfragt der Beständigkeit der Dinge, das ist bei mir nicht anders als bei wohl den meisten anderen Menschen. (Außer bei Majestix, der fürchtet jeden Tag, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte, obwohl das noch nie passiert ist. :-)) Das ist ja auch nicht verkehrt, sondern eine immer wiederkehrende Alltagserfahrung. Aber wenn wir schon die Einteilung von Vorder- und Hintergrund vornehmen wollen, so kommt es mir so vor, als wenn im Hintergrund nicht das Beständige ruht, sondern gerade umgekehrt die Unbeständigkeit droht, vor der nur eine sehr dünne, brüchige Schicht des vermeintlich Beständigen mehr schlecht als recht schützt.

Diese negative Betrachtungsweise des Unbeständigen, Veränderlichen kann man natürlich auch ins Positive wenden (Stichwort Freiheit). Aber nicht heute. :-)

 

Kein Ende des Wertens? Doch :-)

Mir ist nicht klar, ob Deine „Erinnerung“ das ist, was Du als Deinen „Privat-Buddhismus“ bezeichnest oder anders, ob es Deine Auffassung wiedergibt? Alle Gefühle annehmen und durchleben ohne sich zu identifizieren würde ich, um das komplizierte „identifizieren“ schlicht zu fassen, so übersetzen, daß man an den eigenen Gefühlen nicht festklebt, sie nicht festhält, sondern sie vorbeigehen lässt, um wieder neue Gefühle zu erleben. Aus all dem, was Du bisher dazu geschrieben hast, würde ich meine Frage zwar mit „ja“ beantworten, aber die ganze Passage „Privatbuddhismus“, „Zen“, Erinnerung“ und „Du heute“ ist mir nicht ganz durchsichtig. Ich vermute, es liegt daran, daß Dir die Lust an der Bewertungsthematik vergangen war :-))) und Du Dich deswegen kurz gefasst hast.  

Ja, ich habe mich hier kurz gefasst, aber nicht aus Unlust an der Bewertungsthematik, sondern weil ich mich nicht schon wieder ellenlang über buddhistische Sichtweisen auslassen wollte. :-)

 

Vom Kopf in den Körper

Ja. Die Schreibsituation war folgende: Ich dachte an „Freiheit“ und „Selbstverständnis“ und für eine kurze Zeit wechselte mein Lebensgefühl. Ich fühlte mich größer, stärker, befreiter, hatte mehr Luft zum Atmen, „Weite“ ist ein guter Ausdruck für meine Körperwahrnehmung, für mein Gefühl, wie ich mich in der Welt befinde. Das dauerte ... vielleicht 10 Minuten? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Und dann unvermittelt überkamen mich wieder die alten, eingeübten Gedanken, der Zustand des Erleidens, der Unfreiheit, der Ohnmacht usw. usf. – und an der Stelle dachte ich grimmig, was für ein Quatsch, Größenwahnsinn geradezu zu glauben, es würde sich durch neue Gedanken was ändern. Nicht nur für einige Minuten ein Umschwung, eine neue Erfahrung des Erlebens, sondern dauerhaft.

Na ja, wie soll sich von einmal Denken auch Dauer einstellen? Deine abwertenden Gedanken sind ja auch „eingeübt“, wie du selbst schreibst. Es war ja vermutlich nicht die eine einzige abwertende Schlüsselsituation, die dein Selbstbild geformt hat, sondern ein stetig träufelndes Gift.

Vermutlich findet man überhaupt nur dann heraus, ob ein Gedanke dauerhafte Wirkung hat, wenn man ihn in irgendeine Form der Praxis, also der Handlung umsetzen kann und er sich dort bewährt. Wenn er sozusagen vom Kopf in den Körper wandert. Aber das ist natürlich nicht bei allen Gedanken so leicht machbar. Was könnte sich in deinem Leben verändern, ganz konkret, im Alltag, wenn du dieses Gefühl der Weite dauerhaft hättest?

B.

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Brief 145 | Zurück zur Bescheidenheit

Liebe B.,

Die pragmatische Version

[...] Aber gibt es überhaupt Festes, Beharrendes? Eigentlich doch nur auf der Makroebene. Je mehr man auf die Mikroebene geht, umso mehr gerät alles in Bewegung und löst sich auf, bis es auf der untersten uns bisher zugänglichen Ebene fast nur noch Leere gibt. Angeblich besteht ein Atom zu 99,99 % aus leerem Raum! Insofern finde ich es erstaunlicher, dass wir überhaupt so etwas wie eine stabile Welt wahrnehmen. Die Stabilität, so stelle ich mir vor, kommt nicht von irgendetwas Materiellem, egal wie feinstofflich, sondern aus den mehr oder minder stabilen Verbindungen zwischen den restlichen 0,01 %, also aus einem veränderlichen Beziehungsgeflecht. Hat eine Konstellation länger Bestand, erscheint sie uns als feste Materie. Wobei diese Verflechtungen nicht total sein müssen, sie können viele Lücken haben oder an vielen Stellen instabil sein; aber erst, wenn ein bestimmtes Maß überschritten ist, zerfällt die Materie nach unserer Wahrnehmung.

Ich würde auf die Frage, was denn erstaunlicher sei, die Veränderung oder die Festigkeit, ganz anders antworten und zwar so: Für unsere Orientierung in der Welt brauchen wir Stabilität, Kontinuität und Regelmäßigkeit. Wir müssen davon ausgehen können, daß wir nach durchschlafener Nacht am nächsten Morgen in –ungefähr- derselben Welt wieder aufwachen, in der wir eingeschlafen sind. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Aufgang der Sonne am Morgen und ihr Untergang am Abend. Nur das Feste, immer Wiederkehrende gibt uns einen Halt, in dem wir leben und handeln können. Aus diesem Bedarf heraus entsteht, so vermute ich, die Annahme, die wie selbstverständlich erscheint, daß das Normale die Dauerhaftigkeit und Festigkeit dessen ist, was besteht und jede mehr oder weniger starke Abweichung das Unnormale, das Außergewöhnliche ist. Ich würde daher den Umstand, daß wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschen vom „Bestand der Dinge“ (auch in menschlichen Beziehungen) ausgeht, von einem kreatürlichen Orientierungsbedürfnis her erklären. Das Unveränderliche scheint wie ein Hintergrund, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird.

Ob Du zu der „Mehrzahl der Menschen“ gehörst, das lasse ich offen. Es geht auch, wie ich finde, nicht aus Deiner ganz anders gearteten Antwort hervor. Muß es ja auch nicht :-).     

 

Kein Ende des Wertens

Ja, ich glaube, du hast Recht, der Buddhismus hat wohl tatsächlich diese stoische Tendenz. Gerade weil ich das nicht so sehe, habe ich oft das Gefühl, meinen eigenen kleinen Privat-Buddhismus zu leben. Oder vielleicht ist das Zen, im Unterschied zum Buddhismus? Ich habe es jedenfalls so in Erinnerung, dass man im Zen alle Gefühle annimmt und auch durchlebt, die guten wie die schlechten, die Freude wie die Trauer, aber sich nicht mit ihnen identifiziert.

Mir ist nicht klar, ob Deine „Erinnerung“ das ist, was Du als Deinen „Privat-Buddhismus“ bezeichnest oder anders, ob es Deine Auffassung wiedergibt? Alle Gefühle annehmen und durchleben ohne sich zu identifizieren würde ich, um das komplizierte „identifizieren“ schlicht zu fassen, so übersetzen, daß man an den eigenen Gefühlen nicht festklebt, sie nicht festhält, sondern sie vorbeigehen lässt, um wieder neue Gefühle zu erleben. Aus all dem, was Du bisher dazu geschrieben hast, würde ich meine Frage zwar mit „ja“ beantworten, aber die ganze Passage „Privatbuddhismus“, „Zen“, Erinnerung“ und „Du heute“ ist mir nicht ganz durchsichtig. Ich vermute, es liegt daran, daß Dir die Lust an der Bewertungsthematik vergangen war :-))) und Du Dich deswegen kurz gefasst hast.  

Und zur Bewertung ist mir im Zusammenhang der Geschichte vom „weisen Bauern“ noch eingefallen, daß sie implizit dazu auffordert, Glücks- und Pecherereignisse nicht zu interpretieren. Eine der starken Interpretationen, über die wir eingehend gesprochen haben, ist die, unerwünschte und unerfreuliche Ereignisse für eine Strafe zu halten und erwünschte und erfreuliche Ereignisse für eine Belohnung anzusehen. Oder auch die „Karma“-Theorie, die Du beiläufig in Deinem e-mail-Brief erwähntest. Das dürfte ebenfalls eine starke Interpretation der Pech- und Glücksereignisse in einem menschlichen Leben sein. Also alle Erklärungen, die im Rahmen einer Religion oder Weltanschauung entwickelt worden sind und die man sich zu eigen macht, das heißt die Übertragung des großen Theoretischen auf das eigene kleine Leben.  

  

Die Anwendung der Theorie auf die Praxis    

Nein, das, was du da geschrieben hast, ist für mich eben nicht nur Theorie, sondern kann weitreichende Konsequenzen für die Praxis haben! :-))

Ja. Die Schreibsituation war folgende: Ich dachte an „Freiheit“ und „Selbstverständnis“ und für eine kurze Zeit wechselte mein Lebensgefühl. Ich fühlte mich größer, stärker, befreiter, hatte mehr Luft zum Atmen, „Weite“ ist ein guter Ausdruck für meine Körperwahrnehmung, für mein Gefühl, wie ich mich in der Welt befinde. Das dauerte ... vielleicht 10 Minuten? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Und dann unvermittelt überkamen mich wieder die alten, eingeübten Gedanken, der Zustand des Erleidens, der Unfreiheit, der Ohnmacht usw. usf. – und an der Stelle dachte ich grimmig, was für ein Quatsch, Größenwahnsinn geradezu zu glauben, es würde sich durch neue Gedanken was ändern. Nicht nur für einige Minuten ein Umschwung, eine neue Erfahrung des Erlebens, sondern dauerhaft.

Wobei mein häufiges Driften von der Theorie zur Praxis keine Abwertung des Theoretisierens bedeuten soll! Es geht mir mehr darum das „Nur-Theoretisieren“ zu durchbrechen, um ihm sowas wie Relevanz zu verschaffen, seine Anwendbarkeit aufzudecken, es also im Grunde aufzuwerten. Das Theoretisieren gleitet so leicht in Abstraktionen, Spitzfindigkeiten, Spekulatives, Unentscheidbares oder Irrelevantes ab. Dabei kann man, möchte ich mal die Behauptung aufstellen, fast jede Theorie ganz konkret auf sein Leben anwenden. Es geht mir also nicht um einen Gegensatz, sondern um die Bewegung zwischen diesen beiden Polen Theorie und Praxis.

Meine obige Überlegung weiterführend passt die Anwendung der Theorie auf die Praxis als eines Deiner Anliegen gut, denn auf einer untergeordneten Ebene oder vielleicht richtiger auf einer, zum Beispiel auf meine Person bezogen, ist es mir so vorgekommen, als hätte mein Geist (die Theorie) klug erfasst, während meine Wirklichkeit (Praxis) ebenso unklug verharrt ist. Oder noch anders: Der Gedanke über die „Freiheit“ und ihre Auswirkung auf mein Selbstverständnis ist nicht verlorengegangen, er ist abgespeichert, nur die Wirkung auf mein Daseinsgefühl ist rasch wieder verflogen. Man kann sich an Gedanken auch besser erinnern als an ein Daseinsgefühl, das einmal für kurz bestand und dann schnell wieder verschwand. Ich kann dieses Daseinsgefühl gedanklich erinnern, nicht jedoch es erlebend wiederholen. Stimmt das so? Mir kommen soeben Zweifel, denn wenn man sich an den Gedanken erinnern kann, dann wird er präsent und somit könnte er auch das entsprechende Lebensgefühl aktualisieren.  

F.

  

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Brief 144 | Großspurig weitergedacht :-)

Liebe F.,

heute keine Zwischenüberschriften. Es fällt irgendwie alles unter das Thema „Theorie und Praxis“.

Und die „Naturbeobachtungen“ lassen mich sofort an die Gelehrten denken, die man als die „vorsokratischen Philosophen“ bezeichnet. Auch sie haben die Naturbetrachtung zum Ausgangspunkt ihrer weiterreichenden Gedanken über die Menschen, das Leben und die Welt genommen. Wobei diese Aufteilung von mir schon irreführend ist, weil das Faszinierende an ihren nur fragmentarisch überlieferten Gedanken ist, wie ich finde, daß sie von der Ungeschiedenheit, der Einheit von Materie und Geist, dem Grob- und Feinstofflichen, ausgehen und zum Beispiel versuchen, den einen Stoff zu finden, der sich in den Erscheinungen nur unterschiedlich ausdrückt. Das Wasser wie bei Thales oder die Luft wie bei Anaximander. Gerade das „apeiron“, das Unfassbare, Unbegrenzte weist sowohl auf das feinstofflich Geistige hin als auch auf die unsichtbar grobstoffliche Materie. Was ist das Feste, das Beharrende, was das Veränderliche, Vergängliche? Ist es erstaunlicher, daß sich die Dinge, die Natur verändern oder ist es erstaunlicher, daß sie verharren können und nicht ständig in Bewegung sind?!

Diese Frage habe ich mir so noch nie gestellt. Sehr interessant. Aber gibt es überhaupt Festes, Beharrendes? Eigentlich doch nur auf der Makroebene. Je mehr man auf die Mikroebene geht, umso mehr gerät alles in Bewegung und löst sich auf, bis es auf der untersten uns bisher zugänglichen Ebene fast nur noch Leere gibt. Angeblich besteht ein Atom zu 99,99 % aus leerem Raum! Insofern finde ich es erstaunlicher, dass wir überhaupt so etwas wie eine stabile Welt wahrnehmen. Die Stabilität, so stelle ich mir vor, kommt nicht von irgendetwas Materiellem, egal wie feinstofflich, sondern aus den mehr oder minder stabilen Verbindungen zwischen den restlichen 0,01 %, also aus einem veränderlichen Beziehungsgeflecht. Hat eine Konstellation länger Bestand, erscheint sie uns als feste Materie. Wobei diese Verflechtungen nicht total sein müssen, sie können viele Lücken haben oder an vielen Stellen instabil sein; aber erst, wenn ein bestimmtes Maß überschritten ist, zerfällt die Materie nach unserer Wahrnehmung.

Das kann man auch auf menschliche Beziehungen übertragen. Eine Partnerschaft kann viele „Lücken“ haben, muss also nicht symbiotisch sein, um trotzdem zu halten. Erst wenn ein gewisses Maß an Bindung unterschritten wird, wird es kritisch.

Ach ja, ich springe sofort an auf dieses spekulative Philosophieren. Wodurch mein Gesagtes über Theorie und Praxis Lügen gestraft wäre. :-)

 

D u hast es nicht geschrieben und möglicherweise ist es eine Geschichte wie diese, die ein Klischee der buddhistischen Lebenseinstellung hervorgerufen hat, die eben schon dahin tendiert, mit größtmöglichem Gleichmut, Leidenschaftslosigkeit, ohne den Jubel der Freude und der Verzweiflung des Schmerzes alle Widerfahrnisse des Lebens wertungsfrei hinzunehmen. Die Botschaft, die ich durchaus nicht schlecht finde, ist natürlich auch die, zu dem, was einem widerfährt, aus einer weiten Distanz zu schauen, die Bewegungen des Lebens zu verstehen und im Fluß der Ereignisse mitzuschwimmen. In der Geschichte ist ja auch nicht von „Freude“ oder „Leiden“ die Rede, sondern von „Glück“ und „Pech“ sowie „gut“ und „schlecht“. Aber andererseits, woran messen wir denn „gut“ und „schlecht“, wenn nicht doch in erster Linie an Freude und Schmerz. „So zu leben, daß es möglichst wohltuend ist“ (für alle Beteiligten) – wenn man die Haltung des weisen Bauern einnimmt, ja, man lebt wohl besser. Und wenn ich meine Haltung, während ich diesen letzten Satz schreibe, betrachte, dann ist es wie ein desinteressiertes „mag sein“, also weder eine ablehnende noch eine zustimmende Resonanz.

Ja, ich glaube, du hast Recht, der Buddhismus hat wohl tatsächlich diese stoische Tendenz. Gerade weil ich das nicht so sehe, habe ich oft das Gefühl, meinen eigenen kleinen Privat-Buddhismus zu leben. Oder vielleicht ist das Zen, im Unterschied zum Buddhismus? Ich habe es jedenfalls so in Erinnerung, dass man im Zen alle Gefühle annimmt und auch durchlebt, die guten wie die schlechten, die Freude wie die Trauer, aber sich nicht mit ihnen identifiziert.

 

Obwohl ich nicht glaube, daß mein Einwurf weiterführend ist, möchte ich ihn dennoch äußern, weil ich s o genau nie weiß, wozu Dich meine Äußerungen bewegen. Mit „weiterführend“ meine ich, wenn ich auf die Unterscheidung in „Theorie“ und „Praxis“ zurückgreife, daß mein Einwand nur theoretischer Natur ist. Wenn man das positiv Bewertete nicht loslassen kann und unbedingt haben will, dann wird man dies erst in dem Moment erkennen, in dem das positiv Bewertete einmal nicht „vorhanden“ ist, was allerdings bedeutet, daß irgendetwas gestört haben muß und zwar „etwas“, das negativ bewertet wird.

Wenn ich das richtig verstehe, beschreibst du, dass Positives und Negatives gemeinsam auftreten können. Mag sein. :-)) Ich sehe allerdings nicht, worin da ein Einwand wogegen besteht?

 

Du hast in den vergangenen Monaten mehrfach auf den Gesichtspunkt der Konsequenz für unser Verhalten, unser Handeln, unser Denken hingewiesen, wenn wir uns mit allgemeinen theoretischen Überlegungen befaßt haben und, soweit ich mich erinnere, bin ich nie darauf eingegangen. Warum nicht, kann ich nicht sagen. Nur jetzt auf einmal finde ich die Unterscheidung in eine Theorie, die man aus Vergnügen hin- und herbewegt, und eine Theorie, aus der sich Schlussfolgerungen für unser Handeln ergeben, schon relevant. Ersteres ist ja völlig in Ordnung, nur ist es gut sich bewusst zu sein, daß man sich einer Sache aus Lust am Denken widmet –so wie man aus Spaß in deutsche Grammatik eintauchen kann- oder inwiefern sich konkrete Auswirkungen ergeben.

Wobei mein häufiges Driften von der Theorie zur Praxis keine Abwertung des Theoretisierens bedeuten soll! Es geht mir mehr darum das „Nur-Theoretisieren“ zu durchbrechen, um ihm sowas wie Relevanz zu verschaffen, seine Anwendbarkeit aufzudecken, es also im Grunde aufzuwerten. Das Theoretisieren gleitet so leicht in Abstraktionen, Spitzfindigkeiten, Spekulatives, Unentscheidbares oder Irrelevantes ab. Dabei kann man, möchte ich mal die Behauptung aufstellen, fast jede Theorie ganz konkret auf sein Leben anwenden. Es geht mir also nicht um einen Gegensatz, sondern um die Bewegung zwischen diesen beiden Polen Theorie und Praxis.

 

„Schlussfolgerungen für unser Handeln“ können es sein, ich würde aber Deine letzte Frage dahingehend beantworten, daß sich unser oder mein Selbstverständnis verändert, je nachdem ob ich den Freiheitsaspekt berücksichtige und wahrnehme. Ja, vielleicht ist „Selbstverständnis“ sogar treffender, denn als welche Person wir uns verstehen, hängt auch von gerade solchen theoretischen Erwägungen ab. Wenn ich feststelle, daß Bewertungen veränderbar sind, dann ist das ein erster Schritt. Die Folgerung der „Freiheit“ ist noch weitreichender, der zweite Schritt, denn er betrifft die ganze Person ... oder nein, entscheidend ist, daß ich mit der Voraussetzung der Freiheit, die ich habe, gleichzeitig mir meiner Verantwortung für meine Bewertungen und mein Handeln daraus bewusst werde. Bitte, lies es richtig, es ist großspurig dahergeredet bzw. gedacht – Du meine Güte, reine Theorie!

Nein, das, was du da geschrieben hast, ist für mich eben nicht nur Theorie, sondern kann weitreichende Konsequenzen für die Praxis haben! :-))

B.

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Brief 143 | "Mag sein" oder die verpönte Weisheit

Liebe B.,

Grob- und Feinstoffliches

Yin und Yang kommen aus dem Taoismus und sind von dort in den Buddhismus gelangt. Die beiden Schriftzeichen stellen die sonnenabgewandte und die sonnenbeschienene Hangseite eines Berges dar. Als ich das mal gelesen hatte, war das für mich ein großes Aha-Erlebnis. Der entscheidende Punkt ist also gar nicht der Gegensatz, sondern die verschiedenen Ausprägungen einer Einheit. All diese Gegensatzpaare, die man daraus abgeleitet hat, sind im Grunde Verkürzungen und Verzerrungen, bei denen dieser ursprüngliche Gedanke verlorengeht. Vor allem der Ausgangspunkt von männlich und weiblich und die Zuordnung aller weiteren Gegensatzpaare zu diesen beiden Anfangsunterschieden ist völlig irreführend. Wenn überhaupt, so sind das keine Unterschiede, sondern Ausprägungen, die, soweit ich das verstehe, auf keiner höheren oder bedeutenderen Stufe stehen als alle anderen. Es sind Polaritäten, in dem Sinne, wie man das bei einem Magneten versteht: Ein Magnet KANN nicht nur einen Pol haben, dann wäre es kein Magnet mehr. Er ist BEIDES.

Mir gefällt an dieser Interpretation besonders, dass es sich ursprünglich um kein abstraktes Konzept handelt, sondern man von ganz konkreten Naturbeobachtungen ausgeht. Und außerdem, aber das geht mir erst jetzt auf, wo ich darüber schreibe: Die Sonne wandert ja, d.h. dieselbe Stelle des Berges liegt mal im Licht und mal im Schatten! Das ist also dynamisch, kein fixer Zustand.

Und die „Naturbeobachtungen“ lassen mich sofort an die Gelehrten denken, die man als die „vorsokratischen Philosophen“ bezeichnet. Auch sie haben die Naturbetrachtung zum Ausgangspunkt ihrer weiterreichenden Gedanken über die Menschen, das Leben und die Welt genommen. Wobei diese Aufteilung von mir schon irreführend ist, weil das Faszinierende an ihren nur fragmentarisch überlieferten Gedanken ist, wie ich finde, daß sie von der Ungeschiedenheit, der Einheit von Materie und Geist, dem Grob- und Feinstofflichen, ausgehen und zum Beispiel versuchen, den einen Stoff zu finden, der sich in den Erscheinungen nur unterschiedlich ausdrückt. Das Wasser wie bei Thales oder die Luft wie bei Anaximander. Gerade das „apeiron“, das Unfassbare, Unbegrenzte weist sowohl auf das feinstofflich Geistige hin als auch auf die unsichtbar grobstoffliche Materie. Was ist das Feste, das Beharrende, was das Veränderliche, Vergängliche? Ist es erstaunlicher, daß sich die Dinge, die Natur verändern oder ist es erstaunlicher, daß sie verharren können und nicht ständig in Bewegung sind?!

 

Theorie und/oder Praxis?

Doch, natürlich sind auch positive Bewertungen Bewertungen. Aber es geht wieder einmal um die Praxis, nicht um die Theorie. Nicht die Bewertung ist das Problem, sondern das, was aus ihr folgt. Wenn die Bewertung in der Praxis keine Probleme aufwirft – und positive Bewertungen führen ja in der Regel nicht zu Problemen –, dann muss man mit ihr auch nichts machen, sondern kann sie lassen, wie sie ist. Warum Energie an etwas verschwenden, was angenehm ist und keine Probleme bereitet? Es geht ja nicht darum, die Dinge weder als gut noch als schlecht zu sehen und alle Emotionen abzutöten, sondern darum, möglichst so zu leben, dass es für mich selbst und alle anderen wohltuend ist.

An dieser Stelle möchte ich, obwohl ich es auch schon in meinem e-mail-Brief getan habe, die bekannte Weisheitsgeschichte des buddhistischen Mönches Ajahn Brahm erwähnen, die mir –entgegen Deiner Darlegung- doch darauf hinauszulaufen scheint, daß klug ist, sich der Bewertung als „schlecht“ oder „gut“ zu enthalten und die Gefühle ... sicher nicht abzutöten, aber vielleicht stark zu dimmen? Ich zitiere einen Auszug der Geschichte in dieser Fassung:

Ein Bauer lebte mit seinem Sohn und einem Pferd, das vor seinem Haus auf einer Weide stand. Es galt als das schönste Pferd im ganzen Land, weshalb die Menschen dem Mann und seinem Sohn voller Bewunderung begegneten. „Habt ihr ein Glück, so ein hübsches Wert zu besitzen“, sagten sie. Doch der Bauer war klug und weise. Er antwortete den Leuten: „Ob etwas gut oder schlecht ist, wer weiß das schon…“

Eines Tages riss das Pferd aus und war verschwunden. Der Bauer traf die Menschen im Ort und sie sprachen voller Mitgefühl: „Du armer Kerl, du hattest so ein schönes Pferd und nun ist es weg. So ein Pech aber auch!“ Doch der Bauer reagierte wieder weise: „Ob etwas gut oder schlecht ist, wer weiß das schon …“

Sein Sohn begab sich auf die Suche nach dem Pferd, um es zurück nach Hause zu holen. Nach einiger Zeit fand er es tatsächlich in einer großen Herde wunderbarer Wildpferde. Als er sein Ross einfing, folgten ihm alle Wildpferde bis nach Hause. Plötzlich besaßen er und sein Vater nicht mehr nur ein Pferd, sondern viele weitere teure und edle Wildpferde. 

D u hast es nicht geschrieben und möglicherweise ist es eine Geschichte wie diese, die ein Klischee der buddhistischen Lebenseinstellung hervorgerufen hat, die eben schon dahin tendiert, mit größtmöglichem Gleichmut, Leidenschaftslosigkeit, ohne den Jubel der Freude und der Verzweiflung des Schmerzes alle Widerfahrnisse des Lebens wertungsfrei hinzunehmen. Die Botschaft, die ich durchaus nicht schlecht finde, ist natürlich auch die, zu dem, was einem widerfährt, aus einer weiten Distanz zu schauen, die Bewegungen des Lebens zu verstehen und im Fluß der Ereignisse mitzuschwimmen. In der Geschichte ist ja auch nicht von „Freude“ oder „Leiden“ die Rede, sondern von „Glück“ und „Pech“ sowie „gut“ und „schlecht“. Aber andererseits, woran messen wir denn „gut“ und „schlecht“, wenn nicht doch in erster Linie an Freude und Schmerz. „So zu leben, daß es möglichst wohltuend ist“ (für alle Beteiligten) – wenn man die Haltung des weisen Bauern einnimmt, ja, man lebt wohl besser. Und wenn ich meine Haltung, während ich diesen letzten Satz schreibe, betrachte, dann ist es wie ein desinteressiertes „mag sein“, also weder eine ablehnende noch eine zustimmende Resonanz.      

Natürlich kann auch eine positive Bewertung zu einem Problem werden, wenn man beispielsweise das, was man positiv bewertet, unbedingt haben will oder nicht loslassen kann etc. Dann kann man sich überlegen, ob man sich darum kümmern will. Man muss aber nicht. Ich muss mich ja auch nicht um die negativen Wertungen kümmern – niemand zwingt mich dazu. Nur wenn das daraus entstehende Problem für mich zu einer Belastung wird, ist es gut zu wissen, wo man eventuell ansetzen kann, um besser damit zurechtzukommen. Man kann sich aber auch dazu entscheiden, mit einem Problem einfach zu leben.

Obwohl ich nicht glaube, daß mein Einwurf weiterführend ist, möchte ich ihn dennoch äußern, weil ich s o genau nie weiß, wozu Dich meine Äußerungen bewegen. Mit „weiterführend“ meine ich, wenn ich auf die Unterscheidung in „Theorie“ und „Praxis“ zurückgreife, daß mein Einwand nur theoretischer Natur ist. Wenn man das positiv Bewertete nicht loslassen kann und unbedingt haben will, dann wird man dies erst in dem Moment erkennen, in dem das positiv Bewertete einmal nicht „vorhanden“ ist, was allerdings bedeutet, daß irgendetwas gestört haben muß und zwar „etwas“, das negativ bewertet wird.  „Nochnmal resümi

„Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.“

Okay, das ginge dann in Richtung einer praktischen Konsequenz, oder?

Du hast in den vergangenen Monaten mehrfach auf den Gesichtspunkt der Konsequenz für unser Verhalten, unser Handeln, unser Denken hingewiesen, wenn wir uns mit allgemeinen theoretischen Überlegungen befaßt haben und, soweit ich mich erinnere, bin ich nie darauf eingegangen. Warum nicht, kann ich nicht sagen. Nur jetzt auf einmal finde ich die Unterscheidung in eine Theorie, die man aus Vergnügen hin- und herbewegt, und eine Theorie, aus der sich Schlussfolgerungen für unser Handeln ergeben, schon relevant. Ersteres ist ja völlig in Ordnung, nur ist es gut sich bewusst zu sein, daß man sich einer Sache aus Lust am Denken widmet –so wie man aus Spaß in deutsche Grammatik eintauchen kann- oder inwiefern sich konkrete Auswirkungen ergeben. „Schlussfolgerungen für unser Handeln“ können es sein, ich würde aber Deine letzte Frage dahingehend beantworten, daß sich unser oder mein Selbstverständnis verändert, je nachdem ob ich den Freiheitsaspekt berücksichtige und wahrnehme. Ja, vielleicht ist „Selbstverständnis“ sogar treffender, denn als welche Person wir uns verstehen, hängt auch von gerade solchen theoretischen Erwägungen ab. Wenn ich feststelle, daß Bewertungen veränderbar sind, dann ist das ein erster Schritt. Die Folgerung der „Freiheit“ ist noch weitreichender, der zweite Schritt, denn er betrifft die ganze Person ... oder nein, entscheidend ist, daß ich mit der Voraussetzung der Freiheit, die ich habe, gleichzeitig mir meiner Verantwortung für meine Bewertungen und mein Handeln daraus bewusst werde. Bitte, lies es richtig, es ist großspurig dahergeredet bzw. gedacht – Du meine Güte, reine Theorie!

F.

erend nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umä. Untdem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.“

 

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Brief 142 | Was treibt dich um?

Liebe F.,

Yin und Yang

Kann Du etwas zu Yin und Yang sagen, einer Einteilung, die, soweit ich es weiß, im Buddhismus vorgenommen wird? Übersetzt werden die Begriffe stets mit „weiblich“ und „männlich“ und weitergehend dann in verschiedene andere, dem Männlichen und dem Weiblichen entsprechende Eigenschaften (flüssig, fest, weich, hart, nass, trocken o.ä.). Inwieweit Yin und Yang an das biologische Geschlecht geknüpft sind, weiß ich nicht, weil ich vor langer Zeit dieses Gegensatzpaar nur in Verbindung mit der makrobiotischen Ernährung kennengelernt habe.

Yin und Yang kommen aus dem Taoismus und sind von dort in den Buddhismus gelangt. Die beiden Schriftzeichen stellen die sonnenabgewandte und die sonnenbeschienene Hangseite eines Berges dar. Als ich das mal gelesen hatte, war das für mich ein großes Aha-Erlebnis. Der entscheidende Punkt ist also gar nicht der Gegensatz, sondern die verschiedenen Ausprägungen einer Einheit. All diese Gegensatzpaare, die man daraus abgeleitet hat, sind im Grunde Verkürzungen und Verzerrungen, bei denen dieser ursprüngliche Gedanke verlorengeht. Vor allem der Ausgangspunkt von männlich und weiblich und die Zuordnung aller weiteren Gegensatzpaare zu diesen beiden Anfangsunterschieden ist völlig irreführend. Wenn überhaupt, so sind das keine Unterschiede, sondern Ausprägungen, die, soweit ich das verstehe, auf keiner höheren oder bedeutenderen Stufe stehen als alle anderen. Es sind Polaritäten, in dem Sinne, wie man das bei einem Magneten versteht: Ein Magnet KANN nicht nur einen Pol haben, dann wäre es kein Magnet mehr. Er ist BEIDES.

Mir gefällt an dieser Interpretation besonders, dass es sich ursprünglich um kein abstraktes Konzept handelt, sondern man von ganz konkreten Naturbeobachtungen ausgeht. Und außerdem, aber das geht mir erst jetzt auf, wo ich darüber schreibe: Die Sonne wandert ja, d.h. dieselbe Stelle des Berges liegt mal im Licht und mal im Schatten! Das ist also dynamisch, kein fixer Zustand.

 

Fliegenschiss :-)

Nein, ich meinte schon währenddessen und leichter kann ich die Frage ex negatio beantworten: Keine Gedanken zu banalen alltagspraktischen Angelegenheiten, die das Nachher und Morgen oder Vorhin und Gestern betreffen. Gedanken, die das eigene Leben in längeren Zeiträumen oder unter entfernter Perspektive in den Blick nehmen oder auch Gedanken zum menschlichen Leben allgemein, die Sterne und den Kosmos betreffend. Vom Persönlichen absehende Gedanken.

Ah, ich verstehe. Nein, ich glaube, „kosmischen“ Gedanken hatte ich beim Zazen noch nie. Über das Persönliche hinausgehende allerdings schon, das kommt sogar ziemlich häufig vor, und das kann dann sehr intensiv werden, weil ich von nichts abgelenkt bin und mehr Zeit als üblicherweise im Alltag dafür habe. Allein schon dieses „sinnlose“ Sitzen führt dazu, dass ich anfange darüber nachzudenken, was überhaupt Sinn im Leben ist und ob man einen solchen Sinn braucht … Das wird also recht schnell grundsätzlich.

Aber oft handelt es sich bei dem, was auftaucht, auch nur um Fliegenschissgedanken (das Wort fiel mir gerade so ein! :-)). Das ist ja gerade das Interessante (und auch Frustrierende) am Zazen, dass man dabei gewahr wird, was für banales Zeugs normalerweise im Kopf abläuft. „Warum denke ich ausgerechnet während Zazen so viel?“ Nein, ich denke nicht nur während Zazen so viel, sondern das tu ich ständig, solange ich wach bin, das wird mir nur in der Stille erst richtig bewusst. So wie man das Ticken der Uhr erst hört, wenn es ganz still ist; dann aber kann es richtig laut und aufdringlich werden. Es war aber die ganze Zeit da.

 

Theorie und/oder Praxis?

Deine Schlussfolgerung lesend, möchte ich fast schon wieder meine Korrektur zurückziehen. Was bliebe von der Situation, wenn Du nur 3 Schritte nach rechts oder links ausgewichen wärest? Ein gleich-gültiges nichts? Mir scheint, daß Nicht-Bewerten aus Deiner Sicht ganz hauptsächlich alle negativen Wertungen meint. Nicht zu bewerten heißt nicht negativ bewerten. Alle positiven Wertungen hingegen fallen bei Dir nicht unter „Wertungen“?

Ach, da sind wir unabhängig voneinander auf denselben Punkt gestoßen! In meiner letzten E-Mail habe ich genau dieses Thema angesprochen. Da war mir das noch nebulös erschienen, aber inzwischen hat sich der Nebel ein wenig gelichtet.

Doch, natürlich sind auch positive Bewertungen Bewertungen. Aber es geht wieder einmal um die Praxis, nicht um die Theorie. Nicht die Bewertung ist das Problem, sondern das, was aus ihr folgt. Wenn die Bewertung in der Praxis keine Probleme aufwirft – und positive Bewertungen führen ja in der Regel nicht zu Problemen –, dann muss man mit ihr auch nichts machen, sondern kann sie lassen, wie sie ist. Warum Energie an etwas verschwenden, was angenehm ist und keine Probleme bereitet? Es geht ja nicht darum, die Dinge weder als gut noch als schlecht zu sehen und alle Emotionen abzutöten, sondern darum, möglichst so zu leben, dass es für mich selbst und alle anderen wohltuend ist.

Natürlich kann auch eine positive Bewertung zu einem Problem werden, wenn man beispielsweise das, was man positiv bewertet, unbedingt haben will oder nicht loslassen kann etc. Dann kann man sich überlegen, ob man sich darum kümmern will. Man muss aber nicht. Ich muss mich ja auch nicht um die negativen Wertungen kümmern – niemand zwingt mich dazu. Nur wenn das daraus entstehende Problem für mich zu einer Belastung wird, ist es gut zu wissen, wo man eventuell ansetzen kann, um besser damit zurechtzukommen. Man kann sich aber auch dazu entscheiden, mit einem Problem einfach zu leben.

Oder aber, vielleicht sollte ich besser von „Interpretation“ statt „Bewertung“ sprechen? Die Wahrnehmung komplexer Situationen, nicht nur die mit anderen Menschen, sondern auch Situationen, die nur den Objektbereich betreffen (der Blick aus dem Fenster in einen Garten zum Beispiel) ist immer interpretierend. Interpretationsbereinigte Situationen gibt es gar nicht? Ja, ich glaube, das ist der Punkt, der mich umtreibt. Unter „Bewertung“ verstehe ich eine Einteilung in „gut“/“schlecht, „falsch/richtig“ oder „positiv/negativ“ mit Zwischenstufen. Worauf ich aber hinauswill, das ist unsere Wahrnehmung, die ich für zwingend interpretierend halte. Wäre sie dies nicht, dann würden wir überhaupt gar nicht zu irgendetwas um uns herum in eine Beziehung treten können. Und dies geschieht über Gedanken und Gefühle.

Dem kann ich nur zustimmen. Mir ist aber nicht klar, was dabei das Problem für dich ist, warum dich das „umtreibt“. Sagst du ja aber auch selbst:

Warum mich die Interpretation so umtreibt, vermag ich nicht zu sagen, und ich weiß auch schon gar nicht mehr, an welcher Stelle in unserem Gespräch ich diese Frage überhaupt einordnen kann. Aus irgendeinem Grunde aber ist mir die Antwort wichtig und deswegen frage ich mich –und Dich- und nehme nochmals die von Dir beschriebene Situation: Sofern die 3 Frauen von mir wahrgenommen werden, weil sie mir den Weg versperren, beziehe ich mich auf sie – aber denke ich tatsächlich und zwingend irgendetwas, wenn ich ihnen ausweiche? Falls ich gerade mit etwas ganz anderem –im Kopf- beschäftigt bin, könnte es doch auch möglich sein, daß die Begegnung derart beiläufig bleibt, daß ich ihnen nur wie in einem Reflex, einer nur körperlichen Reaktion aus dem Weg gehe? Die Situation bliebe im „stream of consciousness“ und das heißt: Unbewusst? Sich des „Denkens nicht einmal bewusst sein“, wie Du oben geschrieben hast. Genau genommen schließt sich das wohl aus, denn wenn man sich nicht einmal des Denkens bewusst ist, kann man auch nicht wissen, ob man denkt. Aber „halb bewusst“ geht wohl. Und auf die Situation angewendet, müsste ich daraus folgern, daß es durchaus Situationen gibt, in denen wir keine Bedeutung geben und nicht interpretieren …

Ich denke, dass ich dir hier zustimmen kann. Aber ich verstehe nicht wirklich, worauf das Ganze hinausläuft. Ist das mehr ein theoretisches Problem für dich? Oder hast du irgendwelche praktischen Folgerungen im Sinn?

Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.

Okay, das ginge dann in Richtung einer praktischen Konsequenz, oder?

B.

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Brief 141 | Unbewußt-halbbewußt-bewußt :-)

Liebe B.,

Vom Binären zm Nonbinären (weil die Begriffe so schön sind)

[...] Aber mir selbst ist dieses Denken in männlich und weiblich auch in Fleisch und Blut übergegangen, ich finde es ganz normal, die Welt so einzuteilen. Bis man dann einer nonbinären Person begegnet – welch eine herrliche Irritation, welch eine Durchrüttelung des unhinterfragten Weltbildes! Ich sehe gern die Netflix-Serie „Queer Eye“, da gibt es eine solche nonbinäre Person, das ist für mich immer noch seeehr gewöhnungsbedürftig, jedes Mal wieder. :-)

Begegnet man einem nonbinären (den Ausdruck lese ich bei Dir das erste Mal) Menschen, dann ist man tatsächlich sehr irritiert, weil die eigene Geschlechtsidentität ins Schwimmen gerät ... oder nein, richtiger noch muß man sagen: Daß die eigene Geschlechtsidentität vollkommen sicher in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist, wird einem erst angesichts solcher Begegnungen bewusst. Egal, ob ich einem Mann oder einer Frau begegne, die sich selber als Mann oder Frau verstehen, so wird meine Identität als Frau bestärkt, auf je eigene und andere Weise. Umgekehrt ist es natürlich ebenso, d.h. bei den mir Begegnenden verstärke ich deren geschlechtliche Identität (der Spiegel). Diesen höchst subtilen Vorgang kann man überhaupt erst in dem Moment erkennen, wenn er „gestört“ wird.

Eine weitere Art damit umzugehen habe ich neulich auf Youtube gesehen. Da wurde die Äbtissin eines Zenklosters interviewt und es kam die Frage auf, ob es einen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann dem Kloster vorsteht (ihr Vorgänger war ein Mann gewesen). Und sie antwortete: „I am not a woman, I am Eko.“ Solche Unterscheidungen spielten für sie offenbar keine Rolle mehr.

Kann Du etwas zu Yin und Yang sagen, einer Einteilung, die, soweit ich es weiß, im Buddhismus vorgenommen wird? Übersetzt werden die Begriffe stets mit „weiblich“ und „männlich“ und weitergehend dann in verschiedene andere, dem Männlichen und dem Weiblichen entsprechende Eigenschaften (flüssig, fest, weich, hart, nass, trocken o.ä.). Inwieweit Yin und Yang an das biologische Geschlecht geknüpft sind, weiß ich nicht, weil ich vor langer Zeit dieses Gegensatzpaar nur in Verbindung mit der makrobiotischen Ernährung kennengelernt habe.

 

Weiter Horizont

Ich weiß nicht recht, was du dir unter „Gedanken, die einen weiten Horizont haben“ vorstellst, auch wenn ich diesen Ausdruck sehr verlockend finde. Aber da in solchen Momenten bei mir das Denken keine größere Rolle spielt (das ist ja gerade das Charakteristikum dieser „Öffnung“, dass die Gedanken in den Hintergrund treten), würde ich sagen: Nein. Oder meinst du im Nachhinein, wenn ich wieder aufgestanden bin? Aber auch da würde ich antworten: Nein. Dann ist dieser Zustand ja vorbei, und es fällt mir immer schwer, außerhalb von Zazen über das nachzudenken, was während Zazen passiert ist. Höchstens sehr abstrakt, aber damit verliert sich das Meiste oder das Entscheidende.

Nein, ich meinte schon währenddessen und leichter kann ich die Frage ex negatio beantworten: Keine Gedanken zu banalen alltagspraktischen Angelegenheiten, die das Nachher und Morgen oder Vorhin und Gestern betreffen. Gedanken, die das eigene Leben in längeren Zeiträumen oder unter entfernter Perspektive in den Blick nehmen oder auch Gedanken zum menschlichen Leben allgemein, die Sterne und den Kosmos betreffend. Vom Persönlichen absehende Gedanken.    

 

Bedeutungsgebung und Werten

Ich kann nicht ganz folgen: Wie kommst du vom Anerkennen zur Nicht-Bedeutung? Das eine schließt das andere doch nicht aus … *verwirrt* Auch bewerten können wir ruhig weiterhin. Nur sollten wir wissen, dass das etwas ist, was nur in unseren Köpfen abläuft.

[...] Aber die Sache hat auch einen qualitativen Aspekt, und damit komme ich zum Punkt der Bewertung. Ein banales Beispiel: Heute auf dem Weg zur Arbeit, der Fußweg ist ziemlich schmal, und mir kommen drei junge Frauen entgegen. Sie quatschen miteinander und kommen überhaupt nicht auf die Idee mir auszuweichen. Ich muss also teilweise auf dem Radweg gehen, um an ihnen vorbeizukommen. In mir kommt Ärger auf, ich empfinde ihr Verhalten als eine Mischung aus Gedankenlosigkeit und Missachtung, wobei der Punkt der Missachtung stärker ist, weil er mein Ego trifft. Als mir das bewusst wird, muss ich lachen und denke: Was ist eigentlich gerade tatsächlich passiert, ganz ohne irgendeine Bewertung? Ich musste für ein, zwei Meter etwas weiter rechts gehen als sonst. Das war alles! Alles andere fand nur in meinem Kopf statt.

Das ist ein tolles Beispiel, weil mir aufgrund dieses Beispiels erst klar wurde, was mir bis dahin nur nebulös vorschwebte. Die 3 Frauen wären wie gegenständliche Objekte geblieben, denen Du reflexhaft und mechanisch ausweichst, wenn Du ihnen nicht auf irgendeine Weise Bedeutung verliehen hättest. Denkend und gefühlsmäßig. In diesem Fall war es ihre Missachtung, die Dich verärgert hat. Aber auch ihr „jungsein“, ihr Gerede sind Bedeutungen, die Du gibst. Achso, daß Du sie als menschliche und weibliche Wesen, gleich Dir, identifizierst, schon das hebt sie aus dem gegenständlichen Objektbereich heraus. Sofern wir Menschen und keine Maschinen/Roboter sind, geben wir allem eine Bedeutung. Das ist ein Vorgang wie das Atmen. Dies war meine Idee, die ich mit der Bewertung verknüpft habe. Nicht bewerten, so hatte ich andersherum geschlossen, würde die Bedeutungsgebung ausschließen. Wenn man nun den Begriff der „Wertung“ aber so sehr ausdehnt, daß jede Bedeutungsgebung ihn einschließt, dann würde er überflüssig, weil er gar nichts Eigenes mehr erfasst.              

Wieviel Ärger könnte man sich ersparen, wieviel gelassener und freundlicher könnte man sein, wenn man gerade im Alltag einige dieser Bewertungen loslassen würde! Es blieben dann immer noch genug übrig, bei denen uns das nur schwer oder gar nicht gelingt.

Deine Schlussfolgerung lesend, möchte ich fast schon wieder meine Korrektur zurückziehen. Was bliebe von der Situation, wenn Du nur 3 Schritte nach rechts oder links ausgewichen wärest? Ein gleich-gültiges nichts? Mir scheint, daß Nicht-Bewerten aus Deiner Sicht ganz hauptsächlich alle negativen Wertungen meint. Nicht zu bewerten heißt nicht negativ bewerten. Alle positiven Wertungen hingegen fallen bei Dir nicht unter „Wertungen“?

Oder aber, vielleicht sollte ich besser von „Interpretation“ statt „Bewertung“ sprechen? Die Wahrnehmung komplexer Situationen, nicht nur die mit anderen Menschen, sondern auch Situationen, die nur den Objektbereich betreffen (der Blick aus dem Fenster in einen Garten zum Beispiel) ist immer interpretierend. Interpretationsbereinigte Situationen gibt es gar nicht? Ja, ich glaube, das ist der Punkt, der mich umtreibt. Unter „Bewertung“ verstehe ich eine Einteilung in „gut“/“schlecht, „falsch/richtig“ oder „positiv/negativ“ mit Zwischenstufen. Worauf ich aber hinauswill, das ist unsere Wahrnehmung, die ich für zwingend interpretierend halte. Wäre sie dies nicht, dann würden wir überhaupt gar nicht zu irgendetwas um uns herum in eine Beziehung treten können. Und dies geschieht über Gedanken und Gefühle.

[...]Ich schätze mal, dass mindestens 90 % meines Lebens in meinem Kopf stattfindet. Und von diesen 90 % sind mindestens 80 % Belanglosigkeiten! Gewiss, ich denke auch über wichtige Dinge nach (z. B. was ich in diesem Brief schreiben will :-), aber oft genug handelt es sich um einen stream of consciousness, der von einer Nichtigkeit zur nächsten plätschert und sich selbst weitertreibt. Nun könnte man sagen, dass ich eben nicht nur sitze und atme, sondern halt auch denke. Aber bin ich mir dieses Denkens bewusst? Nein, nicht einmal das, es läuft völlig automatisch ab.

Warum mich die Interpretation so umtreibt, vermag ich nicht zu sagen, und ich weiß auch schon gar nicht mehr, an welcher Stelle in unserem Gespräch ich diese Frage überhaupt einordnen kann. Aus irgendeinem Grunde aber ist mir die Antwort wichtig und deswegen frage ich mich –und Dich- und nehme nochmals die von Dir beschriebene Situation: Sofern die 3 Frauen von mir wahrgenommen werden, weil sie mir den Weg versperren, beziehe ich mich auf sie – aber denke ich tatsächlich und zwingend irgendetwas, wenn ich ihnen ausweiche? Falls ich gerade mit etwas ganz anderem –im Kopf- beschäftigt bin, könnte es doch auch möglich sein, daß die Begegnung derart beiläufig bleibt, daß ich ihnen nur wie in einem Reflex, einer nur körperlichen Reaktion aus dem Weg gehe? Die Situation bliebe im „stream of consciousness“ und das heißt: Unbewusst? Sich des „Denkens nicht einmal bewusst sein“, wie Du oben geschrieben hast. Genau genommen schließt sich das wohl aus, denn wenn man sich nicht einmal des Denkens bewusst ist, kann man auch nicht wissen, ob man denkt. Aber „halb bewusst“ geht wohl. Und auf die Situation angewendet, müsste ich daraus folgern, daß es durchaus Situationen gibt, in denen wir keine Bedeutung geben und nicht interpretieren ...                

Ich will damit nicht sagen, dass es unwichtig oder falsch ist, dass so viel in meinem Kopf stattfindet. Es ist diese Fähigkeit zur Bewertung und die Distanz, die damit einhergeht, die uns ein gewisses Maß an Freiheit beschert. Nur wenn wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst sind, läuft er wie ein Programm ab, und dann verschwindet der Aspekt der Freiheit wieder.

Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.      

F.

 

 

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