Brief 201 | Vom Glimmern zum Glitzern
Liebe B.,
Fortsetzung des Kontingenten
Mir scheint, wir verstehen unter der Nicht-Notwendigkeit nicht ganz dasselbe, kommen aber zum selben Ergebnis, nämlich dem Raum der Möglichkeiten. Für dich bedeutet Nicht-Notwendigkeit zunächst, dass alles, was ist, genauso gut auch nicht sein könnte, während meine Gedanken eher in die Richtung gingen, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. Deshalb hatte mir die Definition spontan so gut gefallen. Es ist nicht zwingend notwendig, dass etwas so ist, wie es ist, und vor allem: dass etwas so und so kommen muss. Kausalität (die ich damit nicht leugnen will) ist nicht absolut, sondern gilt sozusagen nur näherungsweise, mit einem unscharfen, „lichtgrauen“ (schön!) Spielraum an den Rändern. Die Zukunft ist (zu einem gewissen Grade) offen, und auch in meinem Handeln bin ich (zu einem gewissen Grade) frei. Fuzzy-Logik! :-) (Keine Ahnung, ob der Begriff hier passt, fiel mir nur gerade so ein.)
„Verschwommen“, „verwischt“, „unscharf“ ist die umgangssprachliche Bedeutung von „fuzzy“, wie ich mich eben versichert habe. Fuzzy-Logik oder Unschärfelogik ist eine Theorie, welche in der Mustererkennung zur „präzisen Erfassung des Unpräzisen“ entwickelt wurde, habe ich im Netz abgeschrieben. Paßt eines davon? Hm, ich vermute, die unscharfen, „lichtgrauen“ Ränder haben Dich den Begriff assoziieren lassen. Du meine Güte, nehme ich nur die obige Umschreibung der „Fuzzy-Logik“, denn mehr weiß ich nicht, dann scheint mir die Theorie nicht so ganz zu passen.
Ich würde aber doch gerne versuchen zu klären, worin sich unser voneinander abweichendes Verständnis unterscheidet. Was ist anders? Zur Veranschaulichung probiere ich es mit dem Beispiel des Schachspieles:
"Notwendig" ist das, was konstitutiv für das Spiel ist, das wir „Schach“ nennen.
"Möglich" ist alles, was entsprechend der Regeln passieren könnte. Unmöglich ist das, was nicht konstitutiv zum Schachspiel gehört.
"Wirklich"/"Real" ist die tatsächliche Stellung nach Zug 20 – und diese ist zugleich kontingent, denn sie hätte auch ganz anders sein können.
Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, dass ich im Unterschied zu Dir keinen Geltungsbereich festgelegt habe oder anders, Du legst mit „Kausalität“, „Zukunft“ und „Handeln“ Bereiche der Notwendigkeit fest, so wie man einen Rahmen schafft. Wenn ich hingegen davon ausgehe, dass alles, was ist, auch nicht sein könnte, dann habe ich keinen Rahmen. Du hast einen Bereich wie im Schachspiel als Beispiel, von dem ausgegangen wird, der also notwendig schon existiert.
Vom Ergebnis her, das stimmt, gelangen wir beide in den Raum der Möglichkeiten.
Ich denke, es ist ein ständiges Changieren zwischen den vielen Möglichkeiten, die ich theoretisch habe, und den im Vergleich dazu begrenzten Möglichkeiten, die mir tatsächlich offenstehen. Wobei die Grenzen, die mir da gesteckt sind, eher psychologischer Natur sind, eher in mir als im Außen liegen, zumindest finde ich diese inneren Grenzen viel interessanter. Eine äußere Grenze könnte z.B. fehlendes Geld für was auch immer sein, und ich könnte jetzt viel Energie darauf verwenden diese Grenze zu verschieben, irgendwie „reich“ zu werden. Aber was habe ich davon? Eine innere Grenze wäre z.B. meine Schüchternheit, und diese zu verschieben verändert mich wirklich nachhaltig. Ich finde, bei uns beiden hat sich da in den letzten Jahren einiges getan. :-)
Das sehe ich genau s o wie Du. Zumindest sehe ich es so für uns, die in diese Gesellschaft des Luxus hineingeboren sind und in der wir nach wie vor leben. Ich stelle mir, die ich tatsächlich nicht viel Geld habe, also vor, ich hätte viel Geld –und weiß sofort, ohne darüber nachdenken zu müssen, dass diese Beschränkung peripher ist. Sie spielt kaum eine Rolle. Wirklich beengt fühle ich mich von meiner mangelnden Selbstakzeptanz, der Selbstablehnung, die, wenn ich genauer hinsehe, viele meiner Handlungen beeinflußt. Daran würde mehr Geld zu haben, nicht das Mindeste ändern. Ja, es geht nur über diesen langen, mühseligen Weg der winzigen Schritte, hier und da ein wenig die Selbstliebe zu stärken und diesen Teil zu erweitern, sodaß sich auf der anderen Seite die Selbstablehnung minimiert.
Jetzt, beim letzten Lesen, fällt mir plötzlich die Lücke ein, die wir ziemlich zu Anfang mal thematisiert hatten – die Lücke, die der Tod unserer Männer gerissen hat. Und mir kommt es so vor, als ob sich diese Lücke im Laufe der Jahre nicht geschlossen hat, wie ich ursprünglich gedacht hatte – vielleicht erinnerst du dich an mein Bild des Baumes, dem vom Sturm eine ganze Seite weggerissen worden ist, und ich hatte mir vorgestellt, dass diese Lücke allmählich wieder wenigstens teilweise zuwächst. Sondern jetzt will es mir scheinen, als ob die Lücke, die der Tod gerissen hat, bei mir eine Öffnung bewirkt hat, eine Grenzöffnung, die ich seitdem immer weiter auszudehnen versuche, anstatt sie zu schließen.
Ja, ich erinnere mich gut und spontan hatte ich schreiben wollen, dass dieser Vorgang der Grenzöffnung und Grenzverschiebung doch wahrscheinlich ganz normal ist. Dabei habe ich mich an die Formulierung erinnert, dass ein normal verlaufender Trauerprozeß ungefähr nach einem Jahr abgeschlossen ist (steht in allgemeiner Literatur übers Trauern), was auf der anderen Seite bedeutet, danach wieder Schritte „in die Welt“ zu tun. Dann bin ich zu mir rübergesprungen und mir ist ein Unterschied zwischen uns aufgefallen, der aus meiner Sicht wichtig ist. Die Lücke hat sich in dem Maße geschlossen, in dem Du Deine Grenzen verschoben hast, kann man das so sagen? Ich sehe einen stetig fließenden Prozeß, in dem eines das andere bedingt. Bei mir sehe ich sowas wie ein ruckartiges Vorangehen, Öffnung und Grenzverschiebung gegen innere Widerstände. Exemplarisch dafür finde ich, dass Du häufig von Deiner Neugierde gesprochen hast, das heißt der Lust am Ausprobieren Deiner Selbst in neuen Situationen. Ich habe meine Schritte meistens als mir aufgezwungene wahrgenommen, nicht gerne habe ich sie getan. Das ist keine Klage meinerseits, weil ich es ja war und bin, die sich selber im Wege stand und steht. An den äußeren Umständen hat es wenig(er) gelegen.
„Glimmer“ und "Glitzer"
„Glimmer“ – was für ein schönes Wort für eine schöne Sache! Davon hatte ich bisher noch nie gehört. Ich musste sofort an den Spruch „Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess ich nimmer“ denken, einen Merkspruch für die Zusammensetzung von Granitgestein. Granit sieht meist sehr unscheinbar aus, aber man muss ihn nur mal etwas bewegen bzw. sich selbst bewegen, um sofort das Glimmern darin zu sehen. Eine minimale Perspektivveränderung, und schon fängt so ein unscheinbarer Stein an zu glitzern und zu funkeln. Das darf man gern metaphorisch verstehen. :-)
Mir war zum „Glimmer“ nur eine Art von Konfetti eingefallen, also winzige Blättchen, die zwar glitzern, aber aus Plastik oder Kunststoff hergestellt sind – so wie es auch Schminke gibt, mit der man auf der Haut Glitzer verteilen kann. Aber den Spruch zum Granit kannte ich nicht. Der natürliche Glimmer ist natürlich viel schöner, und noch schöner ist, wie ich finde, das Glitzern oder der Glitzer.
„Ganzheitlich“ fällt mir dazu ein – auch so ein Modebegriff, aber in manchen Zusammenhängen ein recht schöner. Ganz werden, vollständig werden … Neulich war ich in einer Gruppe, in der ich mich zunächst nicht besonders wohl fühlte. Zu laute, zu schnelle Gespräche, ich stumm mittendrin … Da fiel mir ein Mann auf, der ebenfalls fast die ganze Zeit schwieg, sich dabei aber im Gegensatz zu mir wohlzufühlen schien. Als ich ihn am nächsten Tag darauf ansprach, meinte er, er sei Zeit seines Lebens sehr kommunikativ gewesen, extrovertiert, immer mittendrin, immer der Spaßmacher. Aber mit zunehmendem Alter habe er das Gefühl bekommen, dass das gar nicht seine wahre Natur sei, und nun mache er das nicht mehr. Da erzählte ich ihm, dass es sich bei mir gerade umgekehrt entwickelt: Ich, die Introvertierte, die das Alleinsein so sehr liebt, ich fühle mich plötzlich (in Maßen) zu den Menschen hingezogen. Da meinte er, wir seien wohl beide auf dem Weg vollständig zu werden. Das gefiel mir gut.
Das passt auch gut zum Thema der Kontingenz, der Möglichkeiten. Ich bin nicht festgelegt auf ein einziges Charaktermerkmal, z.B. Introvertiertheit (so war ja viele Jahrzehnte mein Selbstbild), sondern ich habe auch andere und sogar die entgegengesetzten Wesenszüge, wenn auch vielleicht in geringerem Maße. Das muss ich aber erst einmal überhaupt erkennen und anerkennen, um dieses erweiterte Repertoire auch nutzen zu können.
Und so siehst du jetzt das Positive nicht anstatt des Negativen, sondern zusätzlich. Die Welt wird größer, weiter …
„Wesenszüge“? Für mich weiß ich es im Moment nicht. Mir fällt ein Satz ein, mit dem ich mich einmal charakterisiert habe: Ich lebe nicht leicht. Ist das eine „wahre Natur“, ein Wesenszug? Ich weiß es nicht. Er drückt für mich ein Existenzgefühl aus. Ich überlege, ob ich Deinen letzten Satz darin unterbringen kann. Nein, nicht wirklich. Die Glitzer bleiben punktuell. Änhlich wie die „trigger“ überraschen sie zwar plötzlich und ohne, dass wir sie beeinflussen können, nur ziehen sie im Unterschied zum „trigger“ nicht ein ganzes Paket der schönen Erlebnisse in die Gegenwärtigkeit –und die Nachwirkungen sind nur kurz, das Schöne verläuft sich schneller. Ein bisschen „Negatives“ muß schon noch sein.
Aber mir fällt ein anderer Aspekt zum Selbstbild ein. Wozu ist es überhaupt wichtig, die eigenen Eigenschaften, dominierende und weniger ausgeprägte, zu wissen und sich um sie zu kümmern? Ich denke, dass wir deswegen über sie nachdenken, weil es am Ende um unser Handeln geht. Das heißt, wir reflektieren sie weniger zur Identitätsfindung als vielmehr zur Gestaltung unseres Lebens. Deswegen ist diese Frage auch erst in so drängender Weise wichtig geworden, nachdem wir alleine in dieser Welt zurückgelassen worden sind. Denn danach ging und geht es um die zentrale Frage, in welcher Lebenswelt wir uns bewegen wollen.
Nach dem Tod meines Mannes hatte ich die Idee, das Bild von einer Frau, die in einem Kreis von mehr oder weniger guten Freunden lebt, von denen sie anerkannt und geschätzt wird. Meine ersten Schritte in Gruppen, da ich ja niemanden kannte, zeigten mir, dass und wie sehr ich mich unsicher, unbeholfen und unbeachtet fühle. Auf diese Weise bin ich mit mir selber damals überhaupt bekannt geworden. Das Bild in meiner Phantasie entsprach in keiner Weise meiner Wirklichkeit, also meiner Person in ihrer Realität. Ich erlebte mich anders. Eine Frau lernte ich kennen, mit der ich persönlich einen näheren Kontakt hatte und immerhin merkte, dass ich kommunizieren kann. Und gleichzeitig habe ich weiterhin meine Schwierigkeiten wahrgenommen und beobachtet. Aus meinem Schneckenhäuschen herauszukommen, jeweils nur für kurze Zeit, gelang mir immerhin. Im Schneckenhäuschen fühlte ich mich einerseits sicher und andererseits brauchte ich, um mich in ihm sicher zu fühlen, die Kontakte draußen.
Wenige Jahre später haben dann wir uns kennengelernt und in Verbindung mit Dir habe ich wiederum mich selber weiter erkunden können. Zwei Erfahrungen waren zentral dabei. Zum einen meine Ängste Dich zu verlieren, denn das war mir ja schon aus meiner Beziehung zu meinem Mann überaus vertraut. Also die Verlust-Filme, wie ich sie jetzt nenne, die sich in meiner Phantasie abspielten. Zum anderen meine Tendenz zur Monogamie, in jeder Hinsicht und Beziehung. Erst als Du Deine Kontakte erweitertest, wurde mir dies so richtig bewusst. Ich erläutere es nicht ausführlicher, nur ziehen sich diese beiden Aspekte durch mein Leben bis heute. Sie bedingen sich natürlich auch gegenseitig. In einem minimalen Rahmen kann ich die Anzahl der Beziehungen verändern, d.h. vermehren und in demselben Maße verringern sich auch die Verlustängste. Sind das Wesenseigenschaften oder Wesenszüge? Die Monogamie, die Ausrichtung auf einen Menschen, eine soziale Tätigkeit, einen Gesprächskreis im Internet?
Je länger ich in dieser Woche meine „Wesenszüge“ oder die „wahre Natur“ habe ausfindig machen wollen, desto vergeblicher ist es mir vorgekommen. Je nach Tagesstimmung haben die Wesenszüge gewechselt, vielleicht fehlt mir im Augenblick die Distanz zu mir, aber egal warum, es ist an dieser Stelle eine Lücke. Das stört mich auch gar nicht. Möglicherweise können oder könnten andere Menschen das besser beurteilen als ich.
F.
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