Frau mit Griffel

Um das Jahr 50 gemaltes Fresko aus Pompeji, entdeckt 1760

(Quelle: Wikipedia)


Brief 192 | Die ganz großen Themen :-)

Liebe F.,

Wandel

Wandel setzt „Zeit“ voraus, zumindest ist es dem Homo Sapiens, so glaube ich, nicht möglich, Veränderung ohne die zeitliche Dimension zu denken, oder? Zeit und Wandel wiederum sind zugleich auch mit dem Denken eines „Anfanges“ und eines „Endes“ verknüpft, mit dem Werden und Vergehen. Behaupte ich jetzt schwungvoll. Den biblischen Schöpfungsmythos zum Beispiel finde ich sehr schön, insbesondere die poetische Kraft darin. Das jüngste Gericht und der Endzustand hingegen sind verblasst, sie spielen, soweit ich weiß, keine Rolle mehr im theologischen und christlichen Denken. Endlos oder ewig geht es weiter, das Ende wird zumindest nicht thematisiert. Die Urknall-Theorie, eine andere, naturwissenschaftliche Form, den „Anfang“ zu denken. Ich schweife ab, fällt mir auf, wenn ich nun naheliegend finde, nach dem zu fragen, was denn vor dem Anfang war und nach dem Ende sein wird. Nichts – ebenso wenig zu denken wie die Zeitlosigkeit.

Zum „Wandel“ zurückkommend, schließt „Wandel“ nicht notwendig die Zielstrebigkeit aus. Weißt Du, ob der Wandel im Buddhismus ungerichtet, ziellos gedacht wird? Treten die zeitliche und die kosmische Dimension überhaupt in den Blick? Der unendliche oder besser der unbegrenzte Raum, das Universum scheint mir unvorstellbar, mir zumindest ist dieses Bild nicht vorstellbar. Lediglich begrifflich geht es. Entsprechendes gilt für die Zeit.

Oha, da gehst du ja richtig in die Vollen. Zeit und Raum und Anfang und Ende und Unendlichkeit … Ja, das sind auch für mich lauter Sachen, die im Begrifflichen steckenbleiben. Vorstellen kann ich mir das meiste nicht.

Nein, wie der Wandel im Buddhismus näherhin gedacht wird, weiß ich nicht. Mir fällt nur ein, dass es zumindest das ultimative Ziel gibt, aus diesem Wandel auszusteigen, sprich: ins Nirvana zu gelangen. Wobei auch das eine komplizierte Sache ist. Früher dachte ich immer, damit sei gemeint, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen, in dem selbst das Erreichen der Götterebene nicht davor bewahrt, zum Beispiel wieder ins Reich der Hungergeister zurückzufallen. Im Nirvana hätte man endlich seine Ruhe, sozusagen. Die Auslegungen im Zen, die ich bisher gehört habe, gehen aber in eine andere Richtung, denn dort spielt der Gedanke der Wiedergeburt kaum eine Rolle (oder ich habe davon noch nichts mitbekommen). Hier verwirklicht sich das Nirvana im Samsara, also im alltäglichen Leben. KEINE AHNUNG, was damit gemeint ist! :-) Hier spielt wieder die Verschränkung von Absolutem und Relativem eine Rolle, von der ich in meinem letzten Brief gesprochen hatte.

Auf jeden Fall sehe ich das wie du, dass Wandel und Zielstrebigkeit einander nicht ausschließen müssen. Dass sich alles im Wandel befindet, bedeutet ja nicht, dass wir völlig ziellos durchs Leben taumeln. Mir fällt das Bild einer Wanderung ein. Irgendwann erreicht man sein Ziel, die Wanderung endet. Aber was passiert dann? Ist dann Schluss? Hört die Welt plötzlich auf zu existieren, nur weil ich an ein Ziel gekommen bin? Nach meiner Vorstellung ist jedes Ziel immer nur ein Durchgangspunkt. Selbst wenn ich MÖCHTE, dass ein erreichter Zustand als endgültiges Ziel dauerhaft bleibt, hat „die Welt“ dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden, die sich weiterbewegt und ich als ein Teil von ihr mit ihr, und schwupps! ist der „endgültige Zustand“ schon wieder passé. Oder wie es in unserem Blog-Untertitel heißt: Das Leben geht weiter.

Ich habe meine Gedanken ziellos umherschweifen lassen und komme am Ende zu meiner Person zurück. Der Gedanke, dass auch ich mich während der Spanne meiner Lebensdauer beständig wandle, ohne ein Ziel, der gefällt mir gut.

Warum? frage ich jetzt mal ganz schnörkellos interessiert.

 

Natura non facit saltus

Mehr oder weniger Serotonin begründen die Wahl von Möglichkeit eins oder zwei? Das kommt mir absurd vor. Aber vielleicht steht dahinter sowieso ein ganz anderes Rätsel, wie mir auf einmal in den Sinn kommt, nämlich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass Stoffliches auf Geistiges einwirkt? Näher bedacht ist es ja ganz gleichgültig, ob Gefühle nun mit dem Denken verknüpft sind oder nicht, denn unerklärlich bleibt, wie das Gehirn Gedanken produziert. Wie entstehen aus Nervenzellen, elektrischen Signalen und Hormonen Gedanken –und/oder Gefühle? Wie bringt Stoffliches den Geist hervor? Wenn man sagt, das Denken sei eine Aktivität des Gehirns, dann ist das zwar eine Erklärung auf physiologisch-chemischer Ebene, nur bleibt aus meiner Sicht das Phänomen bestehen, dass aus der Materie das entsteht, was wir „Bewusstsein“ oder „Geist“ nennen, etwas kategorial vollkommen anderes.          

Und weiter geht es mit den ganz großen Themen, nun also Geist und Materie. :-) Mein spontaner erster Gedanke war: Ist diese Cartesische Trennung überhaupt notwendig und sinnvoll? Haben wir es hier wirklich mit etwas „kategorial vollkommen Anderem“ zu tun? Ein Weltbild mit stetiger Entwicklung und fließenden Übergängen finde ich viel naheliegender. Für mich ist der Vorgang, dass aus einem Samenkorn ein Baum wächst, nicht weniger mirakulös als der Vorgang, dass aus elektrischen Signalen und chemischen Stoffen Gedanken und Gefühle erwachsen. Schon Einzeller nehmen Informationen auf und verarbeiten sie, warum sollten dann nicht beispielsweise aus Rückkopplungen von hochspezialisierten Zellverbänden wie den Hirnzellen neuartige Phänomene entstehen? Ich muss dazu nicht notwendig einen kategorialen Sprung annehmen. Natura non facit saltus. (Mein Wikipedia-Latein wieder :-).)

Wir nähern uns hier wieder dem Thema der KI. Nullen und Einsen, die menschliches Verhalten simulieren – ab wann schlägt die Simulation in echte Eigenständigkeit um?

Womit ich überleite zum letzten Abschnitt deines Briefes.

Bevor ich Deine Schlußbemerkung las, hatte ich meinen spontanen Einfall schon in die Tat umgesetzt. Es kommt mir vor wie ein Wagnis, eine Art von Tabubruch, entfernt vergleichbar dem Wechsel von der Handschrift zum Tippen. Der Hintergrund ist der, dass ich angefangen habe, mich mit der KI und ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Mich interessieren nicht die selbstfahrenden und einparkenden Autos und auch nicht die kleinen Roboter, die inzwischen in Restaurant die Bestellungen an die Tische bringen, wie ich hörte, sondern ihre Leistungen in Bezug auf Informationen und das eigenständige Erstellen von Texten. Aus diesem Grunde schaue ich manchmal, was ChatGPT im Unterschied zu anderen Auskunftsquellen zu antworten weiß. Für das von mir Zitierte paßt ein Ausdruck, den Du einmal benutzt hattest: "Floskel".

Nein, kein Tabubruch. :-) Mit „und keine KI“ hatte ich gemeint, dass wir beide uns sicher sein können, dass wirklich wir selbst schreiben. Wenn du, wie in deinem letzten Brief, KI verwendest, dann kennzeichnest du das auch deutlich. Und ich wüsste nicht, warum es verwerflicher sein sollte ChatGPT nach etwas zu befragen, als bei Wikipedia nachzuschlagen.

 

Irgendwann ...

Doch, ich erinnere mich an eine Äußerung von F. Mayröcker, die ich einmal in einem ihrer Texte gelesen habe: „Und wieder ist ein Tag vorbeigegangen, ohne dass ich die großen Fragen des Lebens beantwortet habe“ (aus der Erinnerung zitiert). Für mich schwingt darin mit, dass die großen Fragen von den unerleuchteten Wesen sowieso nicht zu beantworten sind und auch gar nicht beantwortet werden können, dass sie aber benötigt werden, damit immer noch etwas aussteht, das einer Antwort harrt. Der zweite Teil des letzten Satzes ist eine Ergänzung, die wohl typisch für mich ist.  

Ja, vielleicht typisch in dem Sinne, dass du, wie du mal schriebst, mehr im Modus des Zukünftigen denkst und lebst? Da muss doch irgendwann noch irgendwas kommen ...

B.

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Brief 191 | Woher kommt der Geist?

Liebe B.,

Wandel ohne Ziel?

„Der Mensch als Krone der Schöpfung“. Was um alles in der Welt lässt uns vermuten, dass die Evolution ausgerechnet beim Homo sapiens Stopp macht? Das ist so überheblich und so unhistorisch gedacht! Überhaupt, geht mir gerade auf, steht teleologisches Denken und damit das Voraussetzen eines irgendwann einmal zu erreichenden Endzustandes der buddhistischen Auffassung, dass sich alles wandelt und nichts Bestand hat, genau entgegen.

Wandel setzt „Zeit“ voraus, zumindest ist es dem Homo Sapiens, so glaube ich, nicht möglich, Veränderung ohne die zeitliche Dimension zu denken, oder? Zeit und Wandel wiederum sind zugleich auch mit dem Denken eines „Anfanges“ und eines „Endes“ verknüpft, mit dem Werden und Vergehen. Behaupte ich jetzt schwungvoll. Den biblischen Schöpfungsmythos zum Beispiel finde ich sehr schön, insbesondere die poetische Kraft darin. Das jüngste Gericht und der Endzustand hingegen sind verblasst, sie spielen, soweit ich weiß, keine Rolle mehr im theologischen und christlichen Denken. Endlos oder ewig geht es weiter, das Ende wird zumindest nicht thematisiert. Die Urknall-Theorie, eine andere, naturwissenschaftliche Form, den „Anfang“ zu denken. Ich schweife ab, fällt mir auf, wenn ich nun naheliegend finde, nach dem zu fragen, was denn vor dem Anfang war und nach dem Ende sein wird. Nichts – ebenso wenig zu denken wie die Zeitlosigkeit.

Zum „Wandel“ zurückkommend, schließt „Wandel“ nicht notwendig die Zielstrebigkeit aus. Weißt Du, ob der Wandel im Buddhismus ungerichtet, ziellos gedacht wird? Treten die zeitliche und die kosmische Dimension überhaupt in den Blick? Der unendliche oder besser der unbegrenzte Raum, das Universum scheint mir unvorstellbar, mir zumindest ist dieses Bild nicht vorstellbar. Lediglich begrifflich geht es. Entsprechendes gilt für die Zeit.

Ich habe meine Gedanken ziellos umherschweifen lassen und komme am Ende zu meiner Person zurück. Der Gedanke, dass auch ich mich während der Spanne meiner Lebensdauer beständig wandle, ohne ein Ziel, der gefällt mir gut.         

   

Woher kommt der Geist?  

Ah ja, jetzt verstehe ich. Ja, die ERKLÄRUNG eines Gefühls ist nicht das Gefühl selbst. Man kann alles reduzieren, und das ist ja auch nicht falsch, es ist nur nicht die ganze Wirklichkeit. Wobei ich es immer etwas unheimlich finde, wie grundlegend man trotzdem auf dieser Reduktionsebene, nämlich mit einem Medikament, also mit Chemie, in die Gefühlswelt eindringen und sie manipulieren kann. Das widerspricht dann auch meinem Selbstbild oder meiner Vorstellung davon, nicht nur, wie sich Gefühle anfühlen, sondern auch, was Gefühle SIND.

Ist es so? Ich probiere an dieser Stelle einmal etwas aus. Ich habe eine kostenlose ChatGPT-Version befragt und zwar in leichter Abwandlung Deiner Formulierung, ob Medikamente Gefühle verändern können. Die Antwort kopiere ich unverändert hierher:  

Ja, Medikamente können tatsächlich Gefühle verändern. Viele Medikamente, insbesondere solche, die zur Behandlung von psychischen Erkrankungen eingesetzt werden, wirken auf chemische Prozesse im Gehirn. Diese Medikamente können Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin beeinflussen, die eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Stimmung und Emotionen spielen.
Antidepressiva zum Beispiel zielen darauf ab, das Gleichgewicht dieser Neurotransmitter zu verbessern, was zu einer positiven Veränderung der Stimmung führen kann. Auch andere Medikamente, wie bestimmte Antipsychotika oder Angstlöser, können die emotionale Wahrnehmung und Reaktionen beeinflussen.

Wenn ich genau bin, dann fallen mir die Möglichkeit „können“ und der Ausdruck „regulieren“ ins Auge. Besonders das regulierende Moment scheint mir die Klarheit der Aussage, Medikamente könnten Gefühle verändern, wieder zu verwischen. An dieser Stelle könnte man sich in den medizinisch-biologischen Aspekt vertiefen, was ich aber nicht tun werde. Stattdessen nehme ich die klare Aussage und wende ein: Gefühle sind unstrittig intentional, d.h. sie sind auf „etwas“ gerichtet und haben somit einen Inhalt. Der Inhalt ist gedanklicher Natur. Wir können auch den Ausdruck der Interpretation benutzen. Es ist nicht so, dass wir fühlen und dann denken, sondern Gedanken ziehen Gefühle mit und nach sich. 

Mir fällt ein gutes Beispiel ein, das Du vor längerer Zeit einmal erzählt hattest. Man geht auf einer Straße entlang und drei junge Mädchen, die eifrig in einem Gespräch vertieft sind, machen nicht die mindeste Anstalt auszuweichen, Platz zu schaffen, damit man an ihnen vorbeigehen kann. Möglichkeit eins ist, sich über die Rücksichtslosigkeit zu ärgern, weil man sich nicht wahrgenommen und beachtet findet. Möglichkeit zwei ist, sich über die Engagiertheit der drei jungen Frauen zu freuen und einfach beiseite und an ihnen vorbeizugehen. Das ist eine kurze Episode, die uns gelegentlich im Alltag begegnet, undramatisch, beiläufig, aber deutlich wird an ihr, dass wir eine Bewertung oder Deutung der Situation vornehmen, nicht bewusst und nach reiflicher Überlegung, sondern spontan. Deswegen werden auch die die Gedanken begleitenden Gefühle, Ärger oder Freude in uns unvermittelt auftauchen. Wir analysieren in dieser Situation weder die Gedanken noch die Gefühle.        

Mehr oder weniger Serotonin begründen die Wahl von Möglichkeit eins oder zwei? Das kommt mir absurd vor. Aber vielleicht steht dahinter sowieso ein ganz anderes Rätsel, wie mir auf einmal in den Sinn kommt, nämlich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass Stoffliches auf Geistiges einwirkt? Näher bedacht ist es ja ganz gleichgültig, ob Gefühle nun mit dem Denken verknüpft sind oder nicht, denn unerklärlich bleibt, wie das Gehirn Gedanken produziert. Wie entstehen aus Nervenzellen, elektrischen Signalen und Hormonen Gedanken –und/oder Gefühle? Wie bringt Stoffliches den Geist hervor? Wenn man sagt, das Denken sei eine Aktivität des Gehirns, dann ist das zwar eine Erklärung auf physiologisch-chemischer Ebene, nur bleibt aus meiner Sicht das Phänomen bestehen, dass aus der Materie das entsteht, was wir „Bewusstsein“ oder „Geist“ nennen, etwas kategorial vollkommen anderes.          

 

Tabubruch?

(…) und keine KI! :-)

Bevor ich Deine Schlußbemerkung las, hatte ich meinen spontanen Einfall schon in die Tat umgesetzt. Es kommt mir vor wie ein Wagnis, eine Art von Tabubruch, entfernt vergleichbar dem Wechsel von der Handschrift zum Tippen. Der Hintergrund ist der, dass ich angefangen habe, mich mit der KI und ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Mich interessieren nicht die selbstfahrenden und einparkenden Autos und auch nicht die kleinen Roboter, die inzwischen in Restaurant die Bestellungen an die Tische bringen, wie ich hörte, sondern ihre Leistungen in Bezug auf Informationen und das eigenständige Erstellen von Texten. Aus diesem Grunde schaue ich manchmal, was ChatGPT im Unterschied zu anderen Auskunftsquellen zu antworten weiß. Für das von mir Zitierte paßt ein Ausdruck, den Du einmal benutzt hattest: "Floskel".

 

Wir unerleuchteten Wesen

Auf Bescheidenheit wäre ich jetzt nicht gekommen, aber vielleicht ist das gar nicht so falsch. Wobei es hier wie gesagt nicht auf den Anspruch der Allwissenheit ankommt, sondern auf die Dialektik von Absolutem und Relativem. Oder vielleicht noch viel mehr – weil das ziemlich abgehoben klingt – um die Würdigung dessen, was einfach so ist, wie es ist, ohne dass man es etwas Größerem einverleibt. Mir fällt Adorno ein, der die Dinge vor dem Zugriff der Worte oder vor ihrer Zurichtung durch sie retten wollte – ein Gedanke, den ich immer sehr schön fand. So „rettet“ Muho mit dieser Antwort quasi die Welt, in der wir gewöhnlichen unerleuchteten Wesen leben. Das Nicht-Besondere.

Das sind so superkluge Gedanken, dass mir noch nicht einmal Dümmeres einfällt zu sagen. Doch, ich erinnere mich an eine Äußerung von F. Mayröcker, die ich einmal in einem ihrer Texte gelesen habe: „Und wieder ist ein Tag vorbeigegangen, ohne dass ich die großen Fragen des Lebens beantwortet habe“ (aus der Erinnerung zitiert). Für mich schwingt darin mit, dass die großen Fragen von den unerleuchteten Wesen sowieso nicht zu beantworten sind und auch gar nicht beantwortet werden können, dass sie aber benötigt werden, damit immer noch etwas aussteht, das einer Antwort harrt. Der zweite Teil des letzten Satzes ist eine Ergänzung, die wohl typisch für mich ist.  

F.

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Brief 190 | Nichts Besonderes

Liebe F.,

du hast in deinen Antworten vieles so schön aus- und zu Ende geführt, dass ich diesmal nicht viel mehr als zustimmendes Nicken beitragen kann. :-) Deshalb kommen heute nur ein paar kurze Bemerkungen und Assoziationen dazu.

Teleologie

Deine ausführlichen Gedanken hierzu zitiere ich nur auszugsweise, sonst wird das zu lang:

Versteht man dieses Wort lediglich als einen Begriff, mit dem ein Prozeß erfasst werden soll, nämlich der Prozeß, dass sich aus diesen und jenen Arten andere und neue Arten entwickeln, so wie man auch Rosen züchtet, dann bewegt man sich vor allem auf einer beschreibenden Ebene. Anthropomorphisiert man hingegen die Evolution, unterstellt man ihr Absichten, wie ein Mensch sie hat, und behauptet, die Evolution habe zum Ziel, die Gattung Mensch (als Krone der Schöpfung) hervorzubringen, dann ist dies ein immanentes teleologisches Modell. [...]

Nachdem ich den teleologischen Aspekt aus Deiner Antwort rausgeschafft habe, sehe ich trotzdem immer noch nicht klar. Ich versuche es mit Aufdröseln: Wir stimmen darin überein, dass wir Unterschiede benötigen, um erkennen zu können. Im Blick hatte ich eine wertungsfreie Aussage über den Menschen. Es ist unserer Sinnen- und Verstandesnatur eingeschrieben, dass wir nur auf diese Weise erkennen, weil wir nun einmal so „gestrickt“ sind. Es ist also weder gut noch schlecht und dient auch keinem Zweck, sondern es ist einfach so, wie es ist. So funktioniert das Erkennen des Menschen. […]

Ich möchte daher unterteilen. Meine Äußerung bezog sich ausschließlich auf die erkennende Funktion im Unterscheiden. Die „Zusammenhänge“ und „Relationen“ beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir unterscheiden.

Schön aufgedröselt! :-) Dem ist von meiner Seite aus nichts mehr hinzuzufügen. Außer vielleicht etwas, was mir außerhalb deines Gedankenganges eingefallen ist:

„Der Mensch als Krone der Schöpfung“. Was um alles in der Welt lässt uns vermuten, dass die Evolution ausgerechnet beim Homo sapiens Stopp macht? Das ist so überheblich und so unhistorisch gedacht! Überhaupt, geht mir gerade auf, steht teleologisches Denken und damit das Voraussetzen eines irgendwann einmal zu erreichenden Endzustandes der buddhistischen Auffassung, dass sich alles wandelt und nichts Bestand hat, genau entgegen.

 

Reduktion

Gut, dass Du nicht folgen kannst, denn nun muß ich noch einmal meinen abgeschnittenen Gedankenfaden aufnehmen. Die wertungsfreie Feststellung, dass wir Freude und Schmerz wie das Erkennen von „hässlich“ und „schön“ auch nur durchs Unterscheiden haben, ist mir deswegen falsch vorgekommen, weil ich bei den Gefühlen auf einmal dachte, dass ich den Menschen reduziere, indem ich ihn unter einem Gesichtspunkt, der weder „gut“ noch „schlecht“ beinhaltet, rein funktionell betrachte. Als ich aber nun näher überlegt habe, ist mir deutlich geworden, dass die Gefühle selbst, so wie sie sich anfühlen, von der Feststellung, dass wir sie nur aufgrund ihrer Unterschiedenheit erkennen können, gar nicht tangiert werden. Es geht in beiden Fällen um das Erkennen und dies aber setzt die Unterscheidung voraus. „Schön“ und „hässlich“ werden ja auch auf irgendeine Weise erlebt, wenn sie von einem Menschen wahrgenommen werden. Das „feeling“ von Schmerz und Freude wird von meinem Unterscheidungsansatz überhaupt nicht berührt. Und Gefühle können selbstverständlich auch mit „gut“ und „schlecht“ bewertet werden. Da die Wahrnehmung von „hässlich“ oder „schön“ mit Empfindungen einhergeht, könnte man auf die Verschränkung des Sinnen- mit dem Gefühlsbereich eingehen, aber das, so denke ich, gehört ins Feld der „Interpretation“, das Du ins Spiel gebracht hast.

Ah ja, jetzt verstehe ich. Ja, die ERKLÄRUNG eines Gefühls ist nicht das Gefühl selbst. Man kann alles reduzieren, und das ist ja auch nicht falsch, es ist nur nicht die ganze Wirklichkeit. Wobei ich es immer etwas unheimlich finde, wie grundlegend man trotzdem auf dieser Reduktionsebene, nämlich mit einem Medikament, also mit Chemie, in die Gefühlswelt eindringen und sie manipulieren kann. Das widerspricht dann auch meinem Selbstbild oder meiner Vorstellung davon, nicht nur, wie sich Gefühle anfühlen, sondern auch, was Gefühle SIND.

 

Nichts Besonderes

Cool!!! Man ist verblüfft. Aber dann darf auch ich mein „um Himmels willen“ zur Antwort Deines Zenlehrers einwerfen. Gut, es hängt natürlich von der Beziehung ab, wie man eine solche Antwort aufnimmt, aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich mir auf den Schlips getreten vorkäme. Als unbeteiligte Beobachterin der Szene bin ich trotzdem verwirrt, denn was meint diese Antwort? Komme ich mit derlei hehren Ansprüchen und Zielen daher, dann betätige ich mich ja nicht als Hellseherin und behaupte auch keine telepathische Begabung. Könnte er stattdessen auch sagen „es regnet“ oder „morgen ist Mittwoch“? Und noch deutlicher, „dummes Zeug“? Worauf kommt es an bei der Antwort? Die Ansprüche auf die Erde runterzuholen? Das Gegenüber zu verwirren?

Ja, das Auf den Schlips Treten ist gewiss mitbeabsichtigt. Aber ich denke, es geht vor allem darum, eine einseitige Sichtweise zu relativieren. Die Verabsolutierung der Alleinheit übersieht das Relative im Absoluten und das Absolute im Relativen. Zen-Dialektik, wenn man so will. Auf der relativen Ebene sind wir nun einmal nicht alle eins.

Während ich meinem Brief den letzten Schliff gebe, fällt mir nun doch endlich die von mir gesuchte rationale und erkennbare Verbindung zwischen fiktiver Äußerung und Antwort ein. Hätte man den Anspruch und das Ziel, sich wie in Alleinheit mit der Welt zu fühlen, dann wäre man eine Art gottähnliches Wesen, das die Flügel über die Welt breitet und selbstverständlich in Kenntnis auch der banalsten Verrichtungen eines jeden Menschen ist. „Gott sieht alles“. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Muhos Antwort als einen Hinweis auf Bescheidenheit.  

Auf Bescheidenheit wäre ich jetzt nicht gekommen, aber vielleicht ist das gar nicht so falsch. Wobei es hier wie gesagt nicht auf den Anspruch der Allwissenheit ankommt, sondern auf die Dialektik von Absolutem und Relativem. Oder vielleicht noch viel mehr – weil das ziemlich abgehoben klingt – um die Würdigung dessen, was einfach so ist, wie es ist, ohne dass man es etwas Größerem einverleibt. Mir fällt Adorno ein, der die Dinge vor dem Zugriff der Worte oder vor ihrer Zurichtung durch sie retten wollte – ein Gedanke, den ich immer sehr schön fand. So „rettet“ Muho mit dieser Antwort quasi die Welt, in der wir gewöhnlichen unerleuchteten Wesen leben. Das Nicht-Besondere.

Und die „Bescheidenheit“ ist das Stichwort für meine letzte Anmerkung. Aus Versuchsgründen habe ich mich den vergangenen 2 Tagen viel in dem, was man die „social media“ nennt, aufgehalten. Die Rückkehr in meinen Brief empfand ich als eine Wohltat. Unaufgeregt und nachdenklich lassen wir unsere Gedanken hier hin- und herfließen. Es gibt keine Eile, keine Besserwisserei … das ist sowas von angenehm!  

Und keine Trolle und keine KI! :-)

B.

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Brief 189 | Bescheidenheit

Liebe B.,

„Ich mache Ordnung“

Ja, das sehe ich so wie du, dass wir nur erkennen können, wenn Unterschiede existieren. Aber als ich das oben Zitierte las, musste ich an Karl May denken, über den ich mal meine Diplomarbeit geschrieben habe. In den „Geographischen Predigten“ versucht er darzulegen, dass alles in der Welt seinen Zweck hat, weil alles nach Gottes Plan geschieht. Das treibt dann aber manchmal absurd-naive Blüten, wenn er beispielsweise behauptet, dass Gott die Auster mit einer „ungeheuren Vermehrungsfähigkeit“ ausgestattet habe, damit der große Bedarf von Städten wie London gedeckt werden könne.

Wenn du jetzt sagst, etwas sei hässlich, damit wir das Schöne erkennen können, dann geht das ebenfalls in diese Richtung: Etwas geschieht oder existiert, DAMIT wir, die Menschen, einen Nutzen davon haben. Während ich ja eher sagen würde, dass hier nicht Funktionen, sondern Relationen am Werk sind. (Wie mir gerade aufgeht, denke ich also auch nicht in den Bahnen der Teleologie? Aber vielleicht ergibt sich das zwangsläufig, wenn man mit einem übergeordneten Sinn nichts anfangen kann? Die Fragezeichen stehen da, weil ich mich mit Teleologie noch nie beschäftigt habe, also gar nicht genau weiß, was es damit auf sich hat.) Hässliches (als Beispiel) ist ja nicht per se hässlich, sondern das ist eine Interpretation. Und die entsteht in bestimmten Zusammenhängen. Sind die Zusammenhänge andere, sind auch die Interpretationen andere. Das heißt, in meinen Augen gibt es da keine inhärente, keine wesent-liche Funktion.

Dein Sprung von meinem harmlosen „damit“ in die Teleologie hat mir keine Ruhe gelassen, obwohl Du ja nur von einer Richtungsähnlichkeit schreibst. Da ich ebenso wie Du nicht viel von dem, was man „Teleologie“ nennt, weiß, habe ich bei wikipedia nachgesehen. Für unser Gespräch finde ich erhellend, dass es neben den transzendenten Formen der Teleologie auch noch die gibt, die man als „immanent“ bezeichnet. Die älteste uns bekannte immanente Form eines teleologischen Entwurfes ist die von Aristoteles, der meint, der „Zielzustand des Menschen (Anthropos) verwirkliche sich in seinem So-Sein als Zoon politicon und durch die davon bedingte Glückseligkeit (Eudämonie)“. Ein Modell jüngeren Datums liegt in der „Evolution“ vor. Versteht man dieses Wort lediglich als einen Begriff, mit dem ein Prozeß erfasst werden soll, nämlich der Prozeß, dass sich aus diesen und jenen Arten andere und neue Arten entwickeln, so wie man auch Rosen züchtet, dann bewegt man sich vor allem auf einer beschreibenden Ebene. Anthropomorphisiert man hingegen die Evolution, unterstellt man ihr Absichten, wie ein Mensch sie hat, und behauptet, die Evolution habe zum Ziel, die Gattung Mensch (als Krone der Schöpfung) hervorzubringen, dann ist dies ein immanentes teleologisches Modell. Deine Vorliebe für die Immanenz schließt ein teleologisches Weltbild also keineswegs aus. Sofern sie sich bei mir nicht in einer „black box“ versteckt, würde ich meinen, ich hätte mit ihr, der Teleologie nichts am Hut :-). 

Nachdem ich den teleologischen Aspekt aus Deiner Antwort rausgeschafft habe, sehe ich trotzdem immer noch nicht klar. Ich versuche es mit Aufdröseln: Wir stimmen darin überein, dass wir Unterschiede benötigen, um erkennen zu können. Im Blick hatte ich eine wertungsfreie Aussage über den Menschen. Es ist unserer Sinnen- und Verstandesnatur eingeschrieben, dass wir nur auf diese Weise erkennen, weil wir nun einmal so „gestrickt“ sind. Es ist also weder gut noch schlecht und dient auch keinem Zweck, sondern es ist einfach so, wie es ist. So funktioniert das Erkennen des Menschen. Aber ich räume gerne ein, mit Worten wie „Zweck“ oder „Ziel“ auf eine falsche Fährte geführt zu haben.

Außerdem teile ich auch Deine Auffassung, dass die Unterscheidungen in Relationen erzeugt werden. Wir vergleichen, wir stellen Bezüge her, das Schöne ist nicht per se schön und das Hässliche ist nicht per se hässlich.

Ein kurzer Abweg: In dem philosophischen Forum, in dem wir beide geschrieben haben, gab es eine spannende Diskussion, ob wir das Schöne als schön erkennen, weil es schön ist und für das Hässliche gilt das Entsprechende. Die These des Philosophen John McDowell ist, dass die Dinge mit unserer Erkenntnis übereinstimmen. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, so fand ich die Argumentation teilweise bestechend, aber dennoch habe ich mich nicht entschließen können, ihr zu folgen. Sie verkennt, wie ich denke, die Bedeutung der interpretierenden Anteile. Das wird mir an dieser Stelle deutlich. 

Sehe ich 7 Trinkpappbecher in einer Runde zusammengestellt, dann kann ich ihre kreisförmige Anordnung harmonisch finden, oder aber sie stören mich nur, und ich sehe lediglich die schmutzigen Ränder. In einer Kunstausstellung würden sie noch einmal auf andere und sicher unterschiedliche Weisen interpretiert.

Ich möchte daher unterteilen. Meine Äußerung bezog sich ausschließlich auf die erkennende Funktion im Unterscheiden. Die „Zusammenhänge“ und „Relationen“ beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir unterscheiden.

 

Und hier kann ich leider nicht mehr folgen. Du meinst, fürs Empfinden braucht es (oder wünschst du dir?) noch irgendetwas Zusätzliches („Tiefgründigeres“), was beim Denken/Erkennen nicht unbedingt notwendig ist? Oder ist dir diese Erklärung zu „einfach“ (deine Überschrift) und du meinst/möchtest, dass das Seelenleben des Menschen doch irgendwie komplizierter sein muss?

Gut, dass Du nicht folgen kannst, denn nun muß ich noch einmal meinen abgeschnittenen Gedankenfaden aufnehmen. Die wertungsfreie Feststellung, dass wir Freude und Schmerz wie das Erkennen von „hässlich“ und „schön“ auch nur durchs Unterscheiden haben, ist mir deswegen falsch vorgekommen, weil ich bei den Gefühlen auf einmal dachte, dass ich den Menschen reduziere, indem ich ihn unter einem Gesichtspunkt, der weder „gut“ noch „schlecht“ beinhaltet, rein funktionell betrachte. Als ich aber nun näher überlegt habe, ist mir deutlich geworden, dass die Gefühle selbst, so wie sie sich anfühlen, von der Feststellung, dass wir sie nur aufgrund ihrer Unterschiedenheit erkennen können, gar nicht tangiert werden. Es geht in beiden Fällen um das Erkennen und dies aber setzt die Unterscheidung voraus. „Schön“ und „hässlich“ werden ja auch auf irgendeine Weise erlebt, wenn sie von einem Menschen wahrgenommen werden. Das „feeling“ von Schmerz und Freude wird von meinem Unterscheidungsansatz überhaupt nicht berührt. Und Gefühle können selbstverständlich auch mit „gut“ und „schlecht“ bewertet werden. Da die Wahrnehmung von „hässlich“ oder „schön“ mit Empfindungen einhergeht, könnte man auf die Verschränkung des Sinnen- mit dem Gefühlsbereich eingehen, aber das, so denke ich, gehört ins Feld der „Interpretation“, das Du ins Spiel gebracht hast.                  

 

Was gab’s zum Frühstück?

Um Gottes Willen, nein! Dazu bin ich viel zu pragmatisch und un-esoterisch. Und Zen zum Glück auch (jedenfalls nach meinem Verständnis und nach allem, was ich inzwischen davon kennengelernt habe). Da halte ich es doch lieber mit Muho, der, wenn man ihm kommt mit „Aufgehen im großen Ganzen“ und „wir haben doch gar kein individuelles Ich, sondern sind alle Eins miteinander und mit dem Universum“ (im Fachjargon: Nondualität), fragt: „Dann weißt du ja sicher auch, was ich heute Morgen gefrühstückt habe?“

Cool!!! Man ist verblüfft. Aber dann darf auch ich mein „um Himmels willen“ zur Antwort Deines Zenlehrers einwerfen. Gut, es hängt natürlich von der Beziehung ab, wie man eine solche Antwort aufnimmt, aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich mir auf den Schlips getreten vorkäme. Als unbeteiligte Beobachterin der Szene bin ich trotzdem verwirrt, denn was meint diese Antwort? Komme ich mit derlei hehren Ansprüchen und Zielen daher, dann betätige ich mich ja nicht als Hellseherin und behaupte auch keine telepathische Begabung. Könnte er stattdessen auch sagen „es regnet“ oder „morgen ist Mittwoch“? Und noch deutlicher, „dummes Zeug“? Worauf kommt es an bei der Antwort? Die Ansprüche auf die Erde runterzuholen? Das Gegenüber zu verwirren?

Während ich meinem Brief den letzten Schliff gebe, fällt mir nun doch endlich die von mir gesuchte rationale und erkennbare Verbindung zwischen fiktiver Äußerung und Antwort ein. Hätte man den Anspruch und das Ziel, sich wie in Alleinheit mit der Welt zu fühlen, dann wäre man eine Art gottähnliches Wesen, das die Flügel über die Welt breitet und selbstverständlich in Kenntnis auch der banalsten Verrichtungen eines jeden Menschen ist. „Gott sieht alles“. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Muhos Antwort als einen Hinweis auf Bescheidenheit.  

 

Und die „Bescheidenheit“ ist das Stichwort für meine letzte Anmerkung. Aus Versuchsgründen habe ich mich den vergangenen 2 Tagen viel in dem, was man die „social media“ nennt, aufgehalten. Die Rückkehr in meinen Brief empfand ich als eine Wohltat. Unaufgeregt und nachdenklich lassen wir unsere Gedanken hier hin- und herfließen. Es gibt keine Eile, keine Besserwisserei … das ist sowas von angenehm!                  

F.

 

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Brief 188 | Es regnet!

Liebe F.,

Black box?

Gibt es denn nur den einen Sinn? Ich brauche, wie beschrieben, eher viele Sinne, für viele verschiedene Aspekte in meinem Leben.

Ja und nein. Ja, weil ich unter „Sinn“ tatsächlich dies verstehe und die „vielen Sinne“ anders bezeichne, nämlich als „Zweck“ oder auch „Ziel“. Wenn Du mein „Zweck“ und „Ziel“ als andere Bedeutungen von „Sinn“ ansiehst, dann können wir uns aber von mir aus gerne darauf einigen. An meinen Bezeichnungen hänge ich überhaupt nicht.

Ich auch nicht. Aber ich will das Thema auch gar nicht weiter vertiefen, wir können diese Unterschiede gern einfach so nebeneinander stehen lassen. Ich bin nur etwas überrascht, was sich hier für mich herauskristallisiert: Dass ich mich offenbar nicht nur gedanklich-intellektuell mehr im Bereich der Immanenz bewege, sondern dass das anscheinend auch emotional sehr tief in mir verankert ist. Ich weiß gar nicht genau, warum mich das so überrascht (und freut). Ich glaube, ich hatte bisher immer den Verdacht, dass ich mir da eventuell was einrede, was auf einer tieferen Ebene eventuell ganz anders ist (als ob meine Gefühlsebene eine black box ist und ich gar nicht weiß, was wirklich darin steckt). Das heißt, ich freue mich darüber, dass Denken und Fühlen sich als mehr oder minder deckungsgleich herausstellen. Hm … kommt mir jetzt irgendwie komisch vor, dass ich da vorher so unsicher gewesen sein soll ...

 

„Das ist doch ganz einfach …“ – Stört dich das?

Mir fällt sofort und als Einziges ein, dass wir das Schöne als Schönes überhaupt nur dann erkennen können, wenn wir das Hässliche als das Hässliche erkennen. Wie die Dinge „an sich“ sind, falls es dieses „an sich“ gibt, ist egal. Unsere Wahrnehmung lässt uns eine Landschaft als „schön“ erkennen und dies ist nur möglich, wenn wir „hässlich“ wahrnehmen. Vielleicht kommt es nicht auf die Gegensätze an, aber es kommt zumindest darauf an, Unterschiede wahrnehmen zu können. Täten wir das nicht, hätten wir nicht die Fähigkeit dazu, würden wir, glaube ich, nur einen einheitlichen Brei wahrnehmen. Ich denke, dass es sich beispielsweise ebenso mit „nützlich“ und „nutzlos“ verhält. Wir treffen die Unterscheidung begrifflich und zugleich ist es eine Unterscheidung, die unsere Praxis betrifft. In einer schönen Landschaft ist der Plastikmüll nutzlos, deswegen sammeln wir ihn auf und tragen ihn fort. An einer anderen Stelle, der Wiederverwertungsanlage hingegen, hat er einen Nutzen.  

Wenn ich die Differenz für eine Bedingung halte, damit „denken“ und „erkennen“ überhaupt möglich ist, würde ich dies einen „Sinn“ nennen? Vielleicht passt „Funktion“ besser? Hm, es kommt mir vor wie Wortklauberei. „Sinn“ oder „Funktion“ – Beides geht. Jedenfalls ist dies meine Erklärung dafür, dass es das Hässliche gibt. Damit wir fähig sind, das Schöne zu erkennen.

Ja, das sehe ich so wie du, dass wir nur erkennen können, wenn Unterschiede existieren. Aber als ich das oben Zitierte las, musste ich an Karl May denken, über den ich mal meine Diplomarbeit geschrieben habe. In den „Geographischen Predigten“ versucht er darzulegen, dass alles in der Welt seinen Zweck hat, weil alles nach Gottes Plan geschieht. Das treibt dann aber manchmal absurd-naive Blüten, wenn er beispielsweise behauptet, dass Gott die Auster mit einer „ungeheuren Vermehrungsfähigkeit“ ausgestattet habe, damit der große Bedarf von Städten wie London gedeckt werden könne.

Wenn du jetzt sagst, etwas sei hässlich, damit wir das Schöne erkennen können, dann geht das ebenfalls in diese Richtung: Etwas geschieht oder existiert, DAMIT wir, die Menschen, einen Nutzen davon haben. Während ich ja eher sagen würde, dass hier nicht Funktionen, sondern Relationen am Werk sind. (Wie mir gerade aufgeht, denke ich also auch nicht in den Bahnen der Teleologie? Aber vielleicht ergibt sich das zwangsläufig, wenn man mit einem übergeordneten Sinn nichts anfangen kann? Die Fragezeichen stehen da, weil ich mich mit Teleologie noch nie beschäftigt habe, also gar nicht genau weiß, was es damit auf sich hat.) Hässliches (als Beispiel) ist ja nicht per se hässlich, sondern das ist eine Interpretation. Und die entsteht in bestimmten Zusammenhängen. Sind die Zusammenhänge andere, sind auch die Interpretationen andere. Das heißt, in meinen Augen gibt es da keine inhärente, keine wesent-liche Funktion.

Beim Beispiel mit dem Plastikmüll gehst du ja in eine ähnliche Richtung, wenn ich das richtig verstanden habe.

Aber hier kommst du wieder zu den Funktionen bzw. dem Sinn zurück:

Es liegt auf der Hand, wie ich finde, den Sinn vom Schönen und Hässlichen auf die Freude und den Schmerz zu übertragen. Freude könnten wir ohne den Schmerz nicht empfinden. Das heißt, wir brauchen auch für die Empfindungen die Fähigkeit der Unterscheidung. Eins ohne das Andere geht nicht, zumindest bedarf es der Unterschiede.

Und nun sträube ich mich, die einfache und mich überzeugende Erklärung auf der Empfindungsebene zu akzeptieren. Der Sinn von Freude und Schmerz ist es, dass sie nur über die Unterscheidung möglich sind. Sie bedingen sich wechselseitig. Das ist das Muster der menschlichen Natur und Punkt. Das ist alles? Kein Tiefgründigeres dahinter?

Und hier kann ich leider nicht mehr folgen. Du meinst, fürs Empfinden braucht es (oder wünschst du dir?) noch irgendetwas Zusätzliches („Tiefgründigeres“), was beim Denken/Erkennen nicht unbedingt notwendig ist? Oder ist dir diese Erklärung zu „einfach“ (deine Überschrift) und du meinst/möchtest, dass das Seelenleben des Menschen doch irgendwie komplizierter sein muss?

 

Zweimal Danke!

Zum Schluss noch zweimal Danke für zwei Erkenntnisse, die du mir schenkst. Die erste betrifft die Begrenzung in meinem Alltag, die zweite die Sinnlosigkeit des Zazen.

Ich bin ziemlich sicher, dass die Erinnerung an eine Zeit, in der ein Arbeitsplatz, den ich jetzt einmal symbolisch und stellvertretend für die Unfreiheit einsetze, als Begrenzung nicht genügt. Wir brauchen diesen Wechsel beständig, d.h. er muß in allen Lebensphasen spürbar sein. So können wir für die Freiheit des „tun und lassen, was und wann immer man will“ das Gegenstück der Selbstverpflichtung ersinnen. Ob sie darin besteht, zweimal am Tag für eine Stunde ZaZen zu üben oder sich im Rahmen einer sozialen Organisation zu betätigen, ist, so nehme ich an, unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des wechselseitigen Bedingens unerheblich. 

Du lieferst mir hier die Antwort, die mir vorschwebte, die ich aber nicht richtig zu fassen kriegte, danke schön! Schon aus meiner Beschreibung dieser unbeschränkten Freiheit konnte man ja vielleicht herauslesen, dass sie mir eben NICHT genügt, so angenehm sie auch sein mag. Ich empfinde sie als „sinnlos“. :-))

Ich mache Dir einen Erklärungs- oder Interpretationsvorschlag, der mir sofort eingefallen ist. Rührt das Sinngebungsverlangen von der abverlangten Sinn-Losigkeit her? Niemand verlangt es Dir ab, das ist sicher. Aber Du bist es, die auf Aussagen wie „ZaZen ist gut für nichts“, „das Leben ist sinn-los“ voller Zustimmung reagiert. Die Begeisterung für diese Art von Paradoxien wird immer wieder deutlich. Also bist Du es selbst, die sich die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Unternehmens abverlangt? Das Sitzen ist sinnlos und das aber ist der Sinn des Sitzens. Man bewegt sich in einem Kreisel, der keinen Anfang und kein Ende hat, vielmehr sind Anfang und Ende eins. Dann wäre dies ein Rätsel, das Du Dir selber stellst, um es zu lösen.

Das ist gut!!! Das ist eine Erklärung auf einer Ebene oder in einer Sprache, die ich sehr gut nachvollziehen kann, vielleicht besser als das gewiss ebenso richtige „Zazen ist dein Koan“, was mir mein Zenlehrer mal mitgab.

 

Was gab’s zum Frühstück?

Und zu allerletzt noch ein entschiedenes Nein! :-)

Nicht aus der Luft gegriffen, aber ein wenig überfallartig – ist das Ziel die Auflösung (Deines Ichs) im großen Ganzen? Die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach mit Dir alleine sein, nach dem Verschwimmen Deiner Grenze, um mit dem Universum harmonisch zu werden? Große Worte, ja, allerdings mit Rückhalt in all den -inzwischen sehr vielen- Informationen, die Du mir gegeben hast. Das wäre in meiner Begrifflichkeit ein Ziel, in der Deinen, ein Sinn. Nein, das wäre in meinem Sinnverständnis ebenfalls ein Sinn.

Um Gottes Willen, nein! Dazu bin ich viel zu pragmatisch und un-esoterisch. Und Zen zum Glück auch (jedenfalls nach meinem Verständnis und nach allem, was ich inzwischen davon kennengelernt habe). Da halte ich es doch lieber mit Muho, der, wenn man ihm kommt mit „Aufgehen im großen Ganzen“ und „wir haben doch gar kein individuelles Ich, sondern sind alle Eins miteinander und mit dem Universum“ (im Fachjargon: Nondualität), fragt: „Dann weißt du ja sicher auch, was ich heute Morgen gefrühstückt habe?“

 

So, und jetzt gehe ich schnell raus – es regnet endlich mal! Ich bin darüber so begeistert, dass ich das spontan zur Überschrift machen musste. :-)

B.

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Brief 187 | In die Spurrille geraten

Liebe B.,

ich habe mich während der letzten Tage jetzt sehr mit deinen Ausführungen zum Sinn beschäftigt, weiß aber gar nicht, was ich zitieren soll, denn meine Gedanken mäandern hin und her und knüpfen etwas wirr an mehreren Stellen an. Ich schreibe also ausnahmsweise einmal ohne Zitate.

Und ich habe Deine Gedanken aufgesammelt, einige beiseite gelegt und diejenigen, an die ich angeknüpft habe, vollständig umsortiert :-).

Sinniges

Mir ist nämlich eingefallen, dass nach meiner Vorstellung die Sachen keinen Sinn haben, sondern dass wir ihnen einen Sinn geben. Das läuft in der Praxis vielleicht auf dasselbe hinaus, aber für mich besteht da doch ein Unterschied. Das hängt wohl letzten Endes damit zusammen, dass ich eher zur Immanenz als zur Transzendenz neige. Ich erwarte Sinngebung weder von einem Gott noch vom Schicksal.

Es war diese Bedeutung des Wortes „Sinn“, von der ich meinte, wir könnten uns darüber untereinander nicht verständigen. Nur in der Bedeutung, die ein Größeres und Anderes als uns selbst zur Bedingung hat, diesen Sinn hatte ich unterstellt und vorausgesetzt. Das ist mir aber erst jetzt aufgrund Deiner Antworten deutlich geworden. Dieses Sinnverständnis setzt ein Äußeres, von uns Unabhängiges voraus, das den Sinn gibt. Wir müssen ihn nur suchen und werden ihn –vielleicht- finden. Richtiger noch sprechen weder Gott noch das Schicksal mit uns so wie Menschen miteinander sprechen. Den Sinn geben auch wir genau genommen, nur leiten wir ihn her aus der Verankerung in Gott oder dem Schicksal. Ich stelle diese Passage an den Beginn, weil mir die „vielen Sinne“, von denen Du schreibst, nicht vorschwebten, und ich möchte meinen „Sinn“ auch nicht als Verengung bezeichnen, denn er scheint mir eine zentrale Bedeutung von „Sinn“. Dennoch:

Gibt es denn nur den einen Sinn? Ich brauche, wie beschrieben, eher viele Sinne, für viele verschiedene Aspekte in meinem Leben.

Ja und nein. Ja, weil ich unter „Sinn“ tatsächlich dies verstehe und die „vielen Sinne“ anders bezeichne, nämlich als „Zweck“ oder auch „Ziel“. Wenn Du mein „Zweck“ und „Ziel“ als andere Bedeutungen von „Sinn“ ansiehst, dann können wir uns aber von mir aus gerne darauf einigen. An meinen Bezeichnungen hänge ich überhaupt nicht.     

Dabei fällt mir etwas unmotiviert ein, dass ich nie das Bedürfnis hatte, im Tod meines Mannes einen Sinn zu suchen. Er war einfach eine Tatsache, mit der ich irgendwie umgehen musste, das war alles. Einen Sinn brauchte ich hier nicht. Wie ist das bei dir? Brauchtest du hier die „Medizin“ des Sinns?

Nein, und ich brauche auch gar nicht zu überlegen. Die „Sinn“-Frage zu stellen ist mir überhaupt nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen. So, als sei die Frage außerhalb meines Denk-Horizontes gewesen.

 

„Das ist doch ganz einfach …“

Wenn die Landschaft schön ist, braucht sie nach dir keinen Sinn. Welchen Sinn hat dann aber der unschöne Plastikmüll?

Ich kann in dem Plastikmüll den Sinn sehen, dass er mich zur Demut anhält (Gott hat mich absichtlich unvollkommen geschaffen) oder mich zur Weiterentwicklung auffordert (psychologischer Sinn) oder mich dazu bringt mich um eine Welt zu bemühen, in der den Menschen gar nicht erst so viel Seelenmüll aufgeladen wird (politischer Sinn), aber entscheidend ist doch in allen Fällen die Praxis, also was ich ganz konkret mit diesem Müll anfange. Ich kann ihn wegräumen, ich kann versuchen erst gar nicht so viel Müll zu produzieren, ich kann ihn wiederverwenden, ich kann ihn verwandeln, z.B. in ein Kunstwerk … Was ich mit ihm mache, ist entscheidender als herauszufinden, welchen Sinn es hat, dass er da liegt.

Mir fällt sofort und als Einziges ein, dass wir das Schöne als Schönes überhaupt nur dann erkennen können, wenn wir das Hässliche als das Hässliche erkennen. Wie die Dinge „an sich“ sind, falls es dieses „an sich“ gibt, ist egal. Unsere Wahrnehmung lässt uns eine Landschaft als „schön“ erkennen und dies ist nur möglich, wenn wir „hässlich“ wahrnehmen. Vielleicht kommt es nicht auf die Gegensätze an, aber es kommt zumindest darauf an, Unterschiede wahrnehmen zu können. Täten wir das nicht, hätten wir nicht die Fähigkeit dazu, würden wir, glaube ich, nur einen einheitlichen Brei wahrnehmen. Ich denke, dass es sich beispielsweise ebenso mit „nützlich“ und „nutzlos“ verhält. Wir treffen die Unterscheidung begrifflich und zugleich ist es eine Unterscheidung, die unsere Praxis betrifft. In einer schönen Landschaft ist der Plastikmüll nutzlos, deswegen sammeln wir ihn auf und tragen ihn fort. An einer anderen Stelle, der Wiederverwertungsanlage hingegen, hat er einen Nutzen.  

Wenn ich die Differenz für eine Bedingung halte, damit „denken“ und „erkennen“ überhaupt möglich ist, würde ich dies einen „Sinn“ nennen? Vielleicht passt „Funktion“ besser? Hm, es kommt mir vor wie Wortklauberei. „Sinn“ oder „Funktion“ – Beides geht. Jedenfalls ist dies meine Erklärung dafür, dass es das Hässliche gibt. Damit wir fähig sind, das Schöne zu erkennen.   

Es liegt auf der Hand, wie ich finde, den Sinn vom Schönen und Hässlichen auf die Freude und den Schmerz zu übertragen. Freude könnten wir ohne den Schmerz nicht empfinden. Das heißt, wir brauchen auch für die Empfindungen die Fähigkeit der Unterscheidung. Eins ohne das Andere geht nicht, zumindest bedarf es der Unterschiede.

Und nun sträube ich mich, die einfache und mich überzeugende Erklärung auf der Empfindungsebene zu akzeptieren. Der Sinn von Freude und Schmerz ist es, dass sie nur über die Unterscheidung möglich sind. Sie bedingen sich wechselseitig. Das ist das Muster der menschlichen Natur und Punkt. Das ist alles? Kein Tiefgründigeres dahinter?          

Das wiederum führt mich zu der Frage: Für welche Dinge brauchen wir eigentlich einen Sinn und für welche nicht, egal ob immanent oder transzendent? Geht es dabei wirklich immer nur um eine „Medizin“, so wie du es gesagt hast, also um mit Unangenehmem, Traurigem, Schrecklichem besser zurechtzukommen? Zumindest bei mir ist es so, dass ich gerade bei solchen Dingen gar keinen Sinn suche, sondern eher bei neutralen. Oder nein, präziser gedacht: Ich suche keinen Sinn in Sachen, die mir widerfahren, sondern in Sachen, die ich tu. Das ist jetzt ein richtiger Geistesblitz! :-) Warum mache (oder unterlasse) ich etwas? Welchen Sinn hat es beispielsweise, jeden Tag zur Arbeit zu gehen? Welchen Sinn hat es, jetzt nicht mehr jeden Tag zur Arbeit zu gehen, sondern den Lebensmittelpunkt ins Private zu verlagern? Welchen Sinn hat ein solches „privates“ Leben? Genügt mir ein Leben, das nur um mich selbst kreist? Finde ich in dieser Konzentration auf mein eigenes Wohlbefinden, auf das Auskosten des Alleinseins, auf das befreiende Gefühl tun und lassen zu können, was und wann immer ich will, genug Befriedigung? Das sind so die Sinnfragen, die mich umtreiben. Ich brauche Sinn also nicht als Linderung, sondern mehr als Orientierung.

Nun bin ich in die Spurrille des Unterscheidens als Bedingung unseres Vermögens zu erkennen gekommen und lese auch Deine obigen Überlegungen unter diesem Aspekt. „Tun und lassen können, was und wann immer ich will“ braucht eine Begrenzung, weil andersfalls die Freiheit gar keine ist. Sie existiert nur dadurch, dass sie eine Grenze hat, ein Anderes, das nicht Freiheit ist. Nur unter dieser Voraussetzung können wir ein Freiheits- oder Freiseingefühl haben.

Ich bin ziemlich sicher, dass die Erinnerung an eine Zeit, in der ein Arbeitsplatz, den ich jetzt einmal symbolisch und stellvertretend für die Unfreiheit einsetze, als Begrenzung nicht genügt. Wir brauchen diesen Wechsel beständig, d.h. er muß in allen Lebensphasen spürbar sein. So können wir für die Freiheit des „tun und lassen, was und wann immer man will“ das Gegenstück der Selbstverpflichtung ersinnen. Ob sie darin besteht, zweimal am Tag für eine Stunde ZaZen zu üben oder sich im Rahmen einer sozialen Organisation zu betätigen, ist, so nehme ich an, unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des wechselseitigen Bedingens unerheblich. 

 

Was treibe ich da? :-)         

Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ich kämpfte (und kämpfe gelegentlich noch) damit, dass mir Zazen immer mal wieder als absolut sinnlos erscheint. Welchen Sinn soll es haben, jeden Tag eine halbe Stunde unbeweglich auf einem Kissen zu sitzen?! Ich habe aber festgestellt, dass mir die Erläuterungen und Anweisungen in den buddhistischen Texten (als Beispiel für etwas außerhalb von mir Liegendes, in gewisser Weise (als religiöse Theorie) Transzendentes) dabei überhaupt nicht weiterhelfen. Ich finde sie oft interessant und manchmal auch tröstlich, aber ich habe selten das Gefühl, dass sie in mein Leben hineinreichen. Ich weiß einfach, dass ich meinen ganz eigenen Sinn in meinem Sitzen finden muss. Und der ist für mich dann auch gültig, er muss nicht von irgendeiner Autorität außerhalb legitimiert werden. Und so ist es mit vielen Sachen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie nach einer Sinngebung verlangen.

Ja, das ist ein spannender Punkt, weil Du diese Frage, die das ZaZen begleitet hat und begleitet, öfter erwähnt hast. Wir hatten das „Sitzen“ auch einmal schon mit dem Spielen verglichen. Ähnlich einem Puzzle oder einer Patience könnte man zwar sagen, das Ziel oder der Zweck seien die Puzzle-Teile zu einem Ganzen zusammenzulegen oder die Patience aufgehen zu lassen, aber nach einem Sinn oder einem Sinn in diesem Sinne fragt man dabei nicht. Man spielt um des Spieles willen. Beim ZaZen scheint der Sinn zu fehlen und damit ein Defizit.  

Ich mache Dir einen Erklärungs- oder Interpretationsvorschlag, der mir sofort eingefallen ist. Rührt das Sinngebungsverlangen von der abverlangten Sinn-Losigkeit her? Niemand verlangt es Dir ab, das ist sicher. Aber Du bist es, die auf Aussagen wie „ZaZen ist gut für nichts“, „das Leben ist sinn-los“ voller Zustimmung reagiert. Die Begeisterung für diese Art von Paradoxien wird immer wieder deutlich. Also bist Du es selbst, die sich die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Unternehmens abverlangt? Das Sitzen ist sinnlos und das aber ist der Sinn des Sitzens. Man bewegt sich in einem Kreisel, der keinen Anfang und kein Ende hat, vielmehr sind Anfang und Ende eins. Dann wäre dies ein Rätsel, das Du Dir selber stellst, um es zu lösen.

Nicht aus der Luft gegriffen, aber ein wenig überfallartig – ist das Ziel die Auflösung (Deines Ichs) im großen Ganzen? Die Sehnsucht nach Einsamkeit, nach mit Dir alleine sein, nach dem Verschwimmen Deiner Grenze, um mit dem Universum harmonisch zu werden? Große Worte, ja, allerdings mit Rückhalt in all den -inzwischen sehr vielen- Informationen, die Du mir gegeben hast. Das wäre in meiner Begrifflichkeit ein Ziel, in der Deinen, ein Sinn. Nein, das wäre in meinem Sinnverständnis ebenfalls ein Sinn.           

F.

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