Brief 219 | "Ich kann absehen von dem, wie ich glaube zu sein"
Liebe B.,
Nein, momentan leider nicht. Wir hatten in der ersten Jahreshälfte ein Ehepaar dabei, aber die haben nach wenigen Wochen wieder aufgehört, weil es ihnen zu zeitaufwändig war. In den ersten Jahren war regelmäßig ein Mann dabei, aber der ist inzwischen gestorben. Männer im Ehrenamt gehen eher in die Sportvereine als ins Museum. So sieht übrigens auch die Inklusionsförderung aus: Der Großteil der Gelder geht in den Sportbereich. Inklusion im Kulturbereich ist immer noch exotisch und Anlass zum ungläubigen Staunen, wenn man davon erzählt.
Ich stelle jetzt eine womöglich abenteuerliche These auf. Die ehrenamtlich arbeitenden Männer beteiligen sich in den Sportvereinen. Die Sportvereine bekommen den Hauptteil der Gelder für die Inklusionsförderung. Schlußfolgerung: Die in den Gremien der Stadt und für die Verteilung der Gelder Zuständigen sind hauptsächlich Männer …?
„Sie“ und „Du“
Interessanterweise haben wir bei der Bahnhofsmission die Anweisung, alle Gäste zu siezen und uns auch von ihnen siezen zu lassen. Das wird zwar nicht von allen streng durchgehalten, weder von Kollegen- noch von Gastseite. Aber prinzipiell ist diese Vorschrift wichtig – nicht wegen des Gefälles, sondern wegen der Distanz, die sich darin ausdrückt. Das ist eine unsichtbare Barriere, so wie die Küchentheke eine sichtbare Barriere ist. Die meisten Gäste sind ja sehr nett und höflich, aber die wenigen Ausnahmen (wenn jemand z.B. hochgradig aggressiv ist und/oder alkoholisiert oder unter Drogen steht) können die Arbeit schwierig machen. Besonders die jungen Frauen, die bei uns arbeiten, empfinden das Sie als einen, wenn auch oft nur schwachen, Schutz vor Anmache.
Ah ja, das erinnert mich an den Umgang mit sehr alten Menschen im Pflegeheim, wo die „Sie“-Anrede weniger ein Ausdruck der Distanz, sondern viel mehr noch Ausdruck der Höflichkeit und Achtung ist. Alte und auch demente Menschen sind in mancher Hinsicht wieder ein bißchen wie Kinder, und Kinder duzt man. Man nimmt sie nicht für voll, weil sie noch oder nicht mehr nicht die Übersicht über sich selbst und ihre Umgebung haben, d.h. nicht selbstverantwortlich handeln können.
Dabei fällt mir ein, dass mein Mann es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ihn Fremde geduzt haben, auch nicht in etwas lockereren Situationen (Verkäufer im Imbiss wäre so eine Situation – „Na, was willst du haben?“ – darauf konnte er sehr pikiert reagieren), während mir das fast immer egal ist. Manchmal bin ich zwar etwas überrascht, aber nicht, weil es mir unangenehm wäre, sondern nur, weil es ungewöhnlich ist. Neulich z.B., als ich wieder am „Blümchenfotografieren“ war :-), sprach mich ein eher junger Mann an, was ich da mache, und der hat mich geduzt, obwohl wir uns nicht kannten. Fand ich nett. Oder in der Bibliothek, als wir eine neue junge Kollegin kriegten, bot ich ihr das Du an, weil wir uns fast alle duzen, aber der war das sichtlich unangenehm, eine so viel ältere Kollegin zu duzen, die hat weiterhin immer Sie gesagt. War für mich auch in Ordnung.
Die jüngere Kollegin und der jüngere Mann führen mich auf eine Spur, die ich bisher völlig außer acht gelassen, d.h. gar nicht gesehen hatte. Mir ist es in den letzten Wochen unangenehm aufgefallen, weil es unabweislich ist. Ich fahre wochentags täglich 2 Busstationen hin und zurück, und sofern im Bus die Sitzplätze alle oder nahezu alle belegt sind, springt, sobald ich in den Bus einsteige, irgendein junger Fahrgast auf, um mir den Platz anzubieten. Es ist daran nichts zu machen. Ich demonstriere Beweglichkeit, Nicht-Gebrechlichkeit … und dennoch werde ich wahrgenommen als eine alte Frau, der man den Sitzplatz anbietet.
Werde ich geduzt, dann ist darin für mich die Botschaft impliziert, dass ich jung oder jünger jedenfalls bin, als ich es bin. Ich werde für wert erachtet mich zu duzen, weil ich noch dazugehöre, zur mobilen Gesellschaft :-))). Ich erlebe es also als eine Aufwertung meiner Person.
Situationen, in denen ich wegen eines „Du’s“ pikiert wäre, habe ich bisher nicht erlebt … soweit ich mich erinnere, und ich kann mir im Moment auch keine solche Situation ausdenken. An einem Imbiß habe ich noch niemals in meinem Leben was gekauft :-).
Auf dem Schwebebalken
Das Problem ist nur, dass ich im Moment das Gefühl habe, als wenn die Sache nicht mehr im Gleichgewicht ist. Na gut, war sie vorher auch nicht, nur neigte sich die Waage da sehr in Richtung Rückzug. Jetzt neigt sie sich halt zur anderen Seite. Ist das, um die „Logik des Lebens“ aufzugreifen, so etwas wie ein mathematischer Ausgleich, aufs Ganze gesehen? Dann kommt ja noch einiges auf mich zu! :-))
Vergleichbar finde ich es mit dem Gehen auf einem Schwebebalken … eine gerade gezogene schmale Linie auf dem Fußboden reicht auch schon. Für einen Moment tritt man sicher und ausbalanciert auf, um gleich danach schon wieder ins Kippeln zu geraten, d.h. die Momente, in denen man das Gleichgewicht bemühen muß wiederzufinden. Die stabile Lage oder Position, die ist kurz, während die instabilen, die Findungsphasen, insgesamt wohl die längere Zeit in Anspruch nehmen.
Wunderbar
Aber in dem Forum, in dem du vorher geschrieben hast, warst du doch auch recht aktiv, wie ich mich erinnere … wo ist da der Unterschied zu jetzt für dich?
Schön, dass Du weiter nachfragst, denn nun bin ich in der Pflicht :-), Dir eine Antwort zu geben und dafür muß ich mich bedenken (ein Fragezeichen – ein Ausrufezeichen). Es ist die Verantwortung, wird mir klar. Ich fühle mich verantwortlich für etwas mehr als ich selbst es bin. Für eine, wenngleich in Mini-Gestalt, Einrichtung, habe ich auf den „Ton“, die Themen und den kontinuierlichen Redefluß zu achten. Wobei natürlich eine entscheidende Rolle auch spielt, dass das Forum am „Beatmungsgerät“ hängt (diesen Ausdruck hatte vor langer Zeit einmal ein Teilnehmer eines anderen Forums erfunden). Wenn die Betreibenden nicht aktiv sind, geht das Forum ein.
Nein, das alles trifft nicht. Du hast vom „Wunder der Offenheit“ geschrieben (im folgenden Absatz), und in dieser Situation, die neu für mich ist, bin ich mir selber fremd. Ich bin darin nicht die, von der ich glaube, dass ich es bin. Ich bin mir selber fremd. Punkt :-). Das ist eine schöne Entdeckung.
***Nach einem Tag Nachdenken habe ich eine Formulierung gefunden, die mir klarer zu sein scheint: Das „Wunder“ beim Dokusan ist für mich nicht, dass ich gesehen werde, wie ich bin, sondern dass ich absehen kann von dem, wie ich glaube zu sein. Keine Bestätigung, sondern eine Befreiung.
Das ist schlicht und einfach eine geniale Formulierung. Ich kann hundertprozentig verstehen, was Du meinst, obwohl ich nicht erinnere, jemals in meinem Leben eine solche Situation erlebt zu haben ...
... bis eben. Denn in einem Geistesblitz habe ich sie auf die oben erwähnte Situation anwenden können. Und anflugweise erlebe ich vor allen Dingen auch die befreiende Wirkung. Ich kann mich gut von dem lösen, was ich glaube zu sein :-).
[...]In der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes hat mich die Frage “Wer bin ich eigentlich?“ ja sehr beschäftigt. Aber bei diesem „Ich bin“ zerbröselt das Fragezeichen nach und nach. Wie sagt mein Zen-Lehrer so schön? „Die Antwort auf ein Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen!“ :-) Das hieße in diesem Fall: „Wer bin ich?“ – „Ich bin!“ (Oder „Sei!“, falls man die Antwort von jemand anderem erwartet.)
Das Dokusan würde ich -etwas großspurig vielleicht- als eine Initiationserfahrung bezeichnen. Es führt in einen anderen Zustand ein, eine grundlegend neue Erfahrung. Das geschieht innerhalb einer sehr kurzen Begegnung, vielleicht von max. 5 Min. Dauer. Das Gefühl der Offenheit verschwindet wieder, aber wenn es einmal da war, dann wirkt es in der Erinnerung weiter.
Hm … kann man das wirklich so sagen? Kommt mir jetzt merkwürdig vor. Ich bin doch nicht nur (auch wenn ich das behauptet habe), sondern ich bin so und so… Mein So- und nicht Anders-Sein kann ich doch nicht unterschlagen.
Vielleicht paßt auch hier der Schwebebalken als Bild :-))). Um davon absehen zu können, was man glaubt zu sein, muß man „etwas“ sein. Andernfalls wäre da ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier? Deswegen ist man immer wieder auch „so und so“ … wovon man sich dann lösen kann.
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Du hast zwischenzeitlich neue Erfahrungen mit dem Dokusan gemacht hast. Wenn Du Lust hast und meinst, es könne hierher passen, dann berichte gerne :-).
F.
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