Frau mit Griffel

Um das Jahr 50 gemaltes Fresko aus Pompeji, entdeckt 1760

(Quelle: Wikipedia)


Brief 219 | "Ich kann absehen von dem, wie ich glaube zu sein"

Liebe B.,

Nein, momentan leider nicht. Wir hatten in der ersten Jahreshälfte ein Ehepaar dabei, aber die haben nach wenigen Wochen wieder aufgehört, weil es ihnen zu zeitaufwändig war. In den ersten Jahren war regelmäßig ein Mann dabei, aber der ist inzwischen gestorben. Männer im Ehrenamt gehen eher in die Sportvereine als ins Museum. So sieht übrigens auch die Inklusionsförderung aus: Der Großteil der Gelder geht in den Sportbereich. Inklusion im Kulturbereich ist immer noch exotisch und Anlass zum ungläubigen Staunen, wenn man davon erzählt.

Ich stelle jetzt eine womöglich abenteuerliche These auf. Die ehrenamtlich arbeitenden Männer beteiligen sich in den Sportvereinen. Die Sportvereine bekommen den Hauptteil der Gelder für die Inklusionsförderung. Schlußfolgerung: Die in den Gremien der Stadt und für die Verteilung der Gelder Zuständigen sind hauptsächlich Männer …?

 

Sie“ und „Du“

Interessanterweise haben wir bei der Bahnhofsmission die Anweisung, alle Gäste zu siezen und uns auch von ihnen siezen zu lassen. Das wird zwar nicht von allen streng durchgehalten, weder von Kollegen- noch von Gastseite. Aber prinzipiell ist diese Vorschrift wichtig – nicht wegen des Gefälles, sondern wegen der Distanz, die sich darin ausdrückt. Das ist eine unsichtbare Barriere, so wie die Küchentheke eine sichtbare Barriere ist. Die meisten Gäste sind ja sehr nett und höflich, aber die wenigen Ausnahmen (wenn jemand z.B. hochgradig aggressiv ist und/oder alkoholisiert oder unter Drogen steht) können die Arbeit schwierig machen. Besonders die jungen Frauen, die bei uns arbeiten, empfinden das Sie als einen, wenn auch oft nur schwachen, Schutz vor Anmache.

Ah ja, das erinnert mich an den Umgang mit sehr alten Menschen im Pflegeheim, wo die „Sie“-Anrede weniger ein Ausdruck der Distanz, sondern viel mehr noch Ausdruck der Höflichkeit und Achtung ist. Alte und auch demente Menschen sind in mancher Hinsicht wieder ein bißchen wie Kinder, und Kinder duzt man. Man nimmt sie nicht für voll, weil sie noch oder nicht mehr nicht die Übersicht über sich selbst und ihre Umgebung haben, d.h. nicht selbstverantwortlich handeln können.

Dabei fällt mir ein, dass mein Mann es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ihn Fremde geduzt haben, auch nicht in etwas lockereren Situationen (Verkäufer im Imbiss wäre so eine Situation – „Na, was willst du haben?“ – darauf konnte er sehr pikiert reagieren), während mir das fast immer egal ist. Manchmal bin ich zwar etwas überrascht, aber nicht, weil es mir unangenehm wäre, sondern nur, weil es ungewöhnlich ist. Neulich z.B., als ich wieder am „Blümchenfotografieren“ war :-), sprach mich ein eher junger Mann an, was ich da mache, und der hat mich geduzt, obwohl wir uns nicht kannten. Fand ich nett. Oder in der Bibliothek, als wir eine neue junge Kollegin kriegten, bot ich ihr das Du an, weil wir uns fast alle duzen, aber der war das sichtlich unangenehm, eine so viel ältere Kollegin zu duzen, die hat weiterhin immer Sie gesagt. War für mich auch in Ordnung.

Die jüngere Kollegin und der jüngere Mann führen mich auf eine Spur, die ich bisher völlig außer acht gelassen, d.h. gar nicht gesehen hatte. Mir ist es in den letzten Wochen unangenehm aufgefallen, weil es unabweislich ist. Ich fahre wochentags täglich 2 Busstationen hin und zurück, und sofern im Bus die Sitzplätze alle oder nahezu alle belegt sind, springt, sobald ich in den Bus einsteige, irgendein junger Fahrgast auf, um mir den Platz anzubieten. Es ist daran nichts zu machen. Ich demonstriere Beweglichkeit, Nicht-Gebrechlichkeit … und dennoch werde ich wahrgenommen als eine alte Frau, der man den Sitzplatz anbietet.

Werde ich geduzt, dann ist darin für mich die Botschaft impliziert, dass ich jung oder jünger jedenfalls bin, als ich es bin. Ich werde für wert erachtet mich zu duzen, weil ich noch dazugehöre, zur mobilen Gesellschaft :-))). Ich erlebe es also als eine Aufwertung meiner Person.

Situationen, in denen ich wegen eines „Du’s“ pikiert wäre, habe ich bisher nicht erlebt … soweit ich mich erinnere, und ich kann mir im Moment auch keine solche Situation ausdenken. An einem Imbiß habe ich noch niemals in meinem Leben was gekauft :-).

 

Auf dem Schwebebalken

Das Problem ist nur, dass ich im Moment das Gefühl habe, als wenn die Sache nicht mehr im Gleichgewicht ist. Na gut, war sie vorher auch nicht, nur neigte sich die Waage da sehr in Richtung Rückzug. Jetzt neigt sie sich halt zur anderen Seite. Ist das, um die „Logik des Lebens“ aufzugreifen, so etwas wie ein mathematischer Ausgleich, aufs Ganze gesehen? Dann kommt ja noch einiges auf mich zu! :-))

Vergleichbar finde ich es mit dem Gehen auf einem Schwebebalken … eine gerade gezogene schmale Linie auf dem Fußboden reicht auch schon. Für einen Moment tritt man sicher und ausbalanciert auf, um gleich danach schon wieder ins Kippeln zu geraten, d.h. die Momente, in denen man das Gleichgewicht bemühen muß wiederzufinden. Die stabile Lage oder Position, die ist kurz, während die instabilen, die Findungsphasen, insgesamt wohl die längere Zeit in Anspruch nehmen.



Wunderbar

Aber in dem Forum, in dem du vorher geschrieben hast, warst du doch auch recht aktiv, wie ich mich erinnere … wo ist da der Unterschied zu jetzt für dich?

Schön, dass Du weiter nachfragst, denn nun bin ich in der Pflicht :-), Dir eine Antwort zu geben und dafür muß ich mich bedenken (ein Fragezeichen – ein Ausrufezeichen). Es ist die Verantwortung, wird mir klar. Ich fühle mich verantwortlich für etwas mehr als ich selbst es bin. Für eine, wenngleich in Mini-Gestalt, Einrichtung, habe ich auf den „Ton“, die Themen und den kontinuierlichen Redefluß zu achten. Wobei natürlich eine entscheidende Rolle auch spielt, dass das Forum am „Beatmungsgerät“ hängt (diesen Ausdruck hatte vor langer Zeit einmal ein Teilnehmer eines anderen Forums erfunden). Wenn die Betreibenden nicht aktiv sind, geht das Forum ein.

Nein, das alles trifft nicht. Du hast vom „Wunder der Offenheit“ geschrieben (im folgenden Absatz), und in dieser Situation, die neu für mich ist, bin ich mir selber fremd. Ich bin darin nicht die, von der ich glaube, dass ich es bin. Ich bin mir selber fremd. Punkt :-). Das ist eine schöne Entdeckung.

***Nach einem Tag Nachdenken habe ich eine Formulierung gefunden, die mir klarer zu sein scheint: Das „Wunder“ beim Dokusan ist für mich nicht, dass ich gesehen werde, wie ich bin, sondern dass ich absehen kann von dem, wie ich glaube zu sein. Keine Bestätigung, sondern eine Befreiung.

Das ist schlicht und einfach eine geniale Formulierung. Ich kann hundertprozentig verstehen, was Du meinst, obwohl ich nicht erinnere, jemals in meinem Leben eine solche Situation erlebt zu haben ...

... bis eben. Denn in einem Geistesblitz habe ich sie auf die oben erwähnte Situation anwenden können. Und anflugweise erlebe ich vor allen Dingen auch die befreiende Wirkung. Ich kann mich gut von dem lösen, was ich glaube zu sein :-).

[...]In der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes hat mich die Frage “Wer bin ich eigentlich?“ ja sehr beschäftigt. Aber bei diesem „Ich bin“ zerbröselt das Fragezeichen nach und nach. Wie sagt mein Zen-Lehrer so schön? „Die Antwort auf ein Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen!“ :-) Das hieße in diesem Fall: „Wer bin ich?“ – „Ich bin!“ (Oder „Sei!“, falls man die Antwort von jemand anderem erwartet.)

Das Dokusan würde ich -etwas großspurig vielleicht- als eine Initiationserfahrung bezeichnen. Es führt in einen anderen Zustand ein, eine grundlegend neue Erfahrung. Das geschieht innerhalb einer sehr kurzen Begegnung, vielleicht von max. 5 Min. Dauer. Das Gefühl der Offenheit verschwindet wieder, aber wenn es einmal da war, dann wirkt es in der Erinnerung weiter.

Hm … kann man das wirklich so sagen? Kommt mir jetzt merkwürdig vor. Ich bin doch nicht nur (auch wenn ich das behauptet habe), sondern ich bin so und so… Mein So- und nicht Anders-Sein kann ich doch nicht unterschlagen.

Vielleicht paßt auch hier der Schwebebalken als Bild :-))). Um davon absehen zu können, was man glaubt zu sein, muß man „etwas“ sein. Andernfalls wäre da ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier? Deswegen ist man immer wieder auch „so und so“ … wovon man sich dann lösen kann.

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Du hast zwischenzeitlich neue Erfahrungen mit dem Dokusan gemacht hast. Wenn Du Lust hast und meinst, es könne hierher passen, dann berichte gerne :-).

F.

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Brief 218 | Ausrufezeichen!

Liebe F.,

Ich habe Deinen Brief überhaupt nicht als karg empfunden. Für mich haben sich spontan die Anknüpfungspunkte ergeben :-). Dafür ist die Überschrift meines Briefes ein wenig großsprecherisch, sie hält nicht, was sie verspricht :-))), und ich wähle sie trotzdem.

Das ist jetzt schon öfter so gewesen, dass ich das Gefühl hatte, etwas sparsam in meiner Antwort gewesen zu sein (aus welchen Gründen auch immer – Zeitmangel, Ideenmangel … :-)), und du dann sagtest, dass du gut daran habest anknüpfen können. Vielleicht weil ich nicht so viel geschrieben habe? Manchmal ist es für den eigenen Gedankenfluss ja viel anregender, wenn er nicht gleich durch eine längere Ausführung in eine Richtung gelenkt wird, von der man sich erst etwas mühsam distanzieren muss, um zu sehen, was man selbst eigentlich dazu denkt. Oder um Raum zu haben, um seine Gedanken in eine ganz andere Richtung weiterfließen zu lassen. Ich werde jedenfalls in Zukunft abgebrochene Gedankengänge einfach abgebrochen stehen lassen. :-)

 

Kleiderfrage

Das ist eine schöne Frage! Ja, ich gleiche mich der Rolle an oder richtiger noch, ich habe das Gefühl, ins neue, fremde Kleid hineinzuwachsen. Nur manchmal, das finde ich meistens lustig, dann, wenn ich aufspringe, um irgendetwas an die Tafel zu schreiben, dann fällt mir nebenbei ein: „Huch, das bin ich?“ Ich hatte ja schon erwähnt, wie ich eine gelegentliche Unwucht versuche auszugleichen und so fällt mir dazu jetzt ein, dass ich mich zum Beispiel nicht, wie ich es bei den Kollegen und Kolleginnen beobachte, in die Mitte des Tisches setze, direkt vor die Tafel, also nicht frontal den Leuten gegenüber. Ich setze mich immer an die Seite, sodaß ich mehr mitten zwischen den Schülern sitze. Das heißt, ich passe das Kleid auch meiner Figur an, nicht nur umgekehrt :-))). Exponiert an der Tafel zu stehen und zudem noch mit dem Rücken zu den Anderen, das ist eine Situation, mich über mich selber immer noch zu erstaunen.

Aber du tust es! :-)

Das ist vermutlich dasselbe Staunen, das mich manchmal überkommt, wenn ich vor der Gruppe die Expertise erzähle. Ich lese sie nicht vor, sondern erzähle wirklich frei. Und es macht Spaß! :-)

Ein wenig ähnlich geht es mir mit der Rolle in dem neuen Forum. Eigentlich sehe ich mich als eine zurückhaltende, schüchterne, weniger schreibende, d.h. passive Person. Abgesehen davon, dass mein Mitteilungs- und Redebedürfnis sowieso nicht so groß ist. Aber das meine ich jetzt nicht, sondern mehr die Rolle, die mit meinem Selbstbild auseinanderdriftet. Und auch abweicht davon, wie ich gesehen werden möchte. Ich bin also aktiver und trete mehr in Erscheinung als ich es gewohnt bin. Das tue ich, weil ich mich mit verantwortlich dafür fühle, dass das Gespräch im Fluß bleibt und nicht abbricht.

Mach ruhig ein wenig Reklame: https://mondbar.eu/forum/ :-)))

Was es genau ist, was noch nicht „sitzt“ wie ein maßgeschneidertes Kleid, das weiß ich allerdings gar nicht so genau. Was stört mich daran, wenn ich als aktiver Mensch gesehen werde -falls es so überhaupt ist. Das ist ja wieder der Blick der Anderen auf mich, über den ich nichts weiter als spekulieren kann. Gehe ich einmal davon aus, ich würde als ein aktiver, selbstsicherer Mensch angesehen, dann würde ich nicht mehr schonungsvoll behandelt …? Bis heute habe ich noch keine Antwort gefunden. Bin ich tatsächlich nicht so und meine Intuition leitet mich richtig, oder aber ist hier noch ein Potential, das brach liegt? Ich muß meinen Brief an Dich abschicken, ohne Antwort :-).

Aber in dem Forum, in dem du vorher geschrieben hast, warst du doch auch recht aktiv, wie ich mich erinnere … wo ist da der Unterschied zu jetzt für dich?

 

Auf Augenhöhe“

Ahja, stimmt, „Teamerinnen“ hattest Du früher einmal geschrieben. Das bedeutet weiterhin: Es ist kein Mann dabei, kein einziger „Teamer“?

Nein, momentan leider nicht. Wir hatten in der ersten Jahreshälfte ein Ehepaar dabei, aber die haben nach wenigen Wochen wieder aufgehört, weil es ihnen zu zeitaufwändig war. In den ersten Jahren war regelmäßig ein Mann dabei, aber der ist inzwischen gestorben. Männer im Ehrenamt gehen eher in die Sportvereine als ins Museum. So sieht übrigens auch die Inklusionsförderung aus: Der Großteil der Gelder geht in den Sportbereich. Inklusion im Kulturbereich ist immer noch exotisch und Anlass zum ungläubigen Staunen, wenn man davon erzählt.

Wie sprecht Ihr einander an? Daran zeigt sich meiner Meinung nach am deutlichsten, ob es ein Gefälle gibt oder nicht.

Wir duzen einander alle. Daraus kann man aber nicht zwangsläufig auf das Gefälle Rückschlüsse ziehen, denke ich. Es gibt ja Betriebe, in denen es zum guten Ton gehört, sich auch mit den Vorgesetzten zu duzen, und trotzdem hebt das die Hierarchie nicht auf, sondern im Falle eines Falles wird dann plötzlich doch von oben entschieden. Aber bei uns hat das Ganze einen eher familiären Charakter (wobei es natürlich auch in Familien Hierarchien gibt).

Eine schöne Gelegenheit, weiter von meinen Unterrichtserfahrungen zu erzählen. Alle Lehrer duzen einander (es sei denn, jemand wünscht, mit „Sie“ angeredet zu werden). Alle Lehrer duzen alle Schüler, egal wie alt oder jung. Alle Lehrer sagen ihren eigenen Vornamen und erwarten, ebenfalls geduzt zu werden. Und das aber funktioniert nur in den allerwenigsten Fällen. Die meisten Schüler sagen „Sie“ zu den Lehrern und „meine Lehrerin“ bzw. „mein Lehrer“. Daraus resultiert ein Gefälle und es drückt sich das Gefälle darin bereits aus, meine ich. Zweimal ganz zu Anfang, als ich den Job machte, habe ich versucht, mit 2 nicht mehr ganz jungen Frauen einen näheren Kontakt herzustellen. Und es hat nicht funktioniert. Ja, das kann auch gut an mir gelegen haben, weil meine Erwartungen einfach zu hoch waren. Ich hatte mit ihnen sprechen können wollen wie mit Freunden. Sprachlich wäre das vielleicht möglich gewesen. Es hat nicht funktioniert, weil sie mich nicht angesprochen haben wie „auf Augenhöhe“. Vielleicht noch deutlicher, ich hatte von ihnen Zuwendung haben wollen, Verständnis und das habe ich nicht bekommen. Daß es nicht geht, habe ich akzeptiert und erwarte es nun auch nicht mehr. Am wenigsten Gefälle nehme ich tatsächlich wahr, wenn ich mit „du“ und meinem Vornamen angesprochen werde. Deswegen würde ich diese „Formalie“ für wesentlich halten :-).

Auch für manche neuen Teilnehmenden ist das Du gewöhnungsbedürftig. Ich habe es schon erlebt, dass jemand uns Teamerinnen noch länger gesiezt hat. Er war es einfach nicht gewöhnt, so „auf Augenhöhe“ behandelt zu werden. Andere wiederum, und das sind die meisten, duzen uns sofort, für sie ist das normal.

Interessanterweise haben wir bei der Bahnhofsmission die Anweisung, alle Gäste zu siezen und uns auch von ihnen siezen zu lassen. Das wird zwar nicht von allen streng durchgehalten, weder von Kollegen- noch von Gastseite. Aber prinzipiell ist diese Vorschrift wichtig – nicht wegen des Gefälles, sondern wegen der Distanz, die sich darin ausdrückt. Das ist eine unsichtbare Barriere, so wie die Küchentheke eine sichtbare Barriere ist. Die meisten Gäste sind ja sehr nett und höflich, aber die wenigen Ausnahmen (wenn jemand z.B. hochgradig aggressiv ist und/oder alkoholisiert oder unter Drogen steht) können die Arbeit schwierig machen. Besonders die jungen Frauen, die bei uns arbeiten, empfinden das Sie als einen, wenn auch oft nur schwachen, Schutz vor Anmache.

Dabei fällt mir ein, dass mein Mann es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ihn Fremde geduzt haben, auch nicht in etwas lockereren Situationen (Verkäufer im Imbiss wäre so eine Situation – „Na, was willst du haben?“ – darauf konnte er sehr pikiert reagieren), während mir das fast immer egal ist. Manchmal bin ich zwar etwas überrascht, aber nicht, weil es mir unangenehm wäre, sondern nur, weil es ungewöhnlich ist. Neulich z.B., als ich wieder am „Blümchenfotografieren“ war :-), sprach mich ein eher junger Mann an, was ich da mache, und der hat mich geduzt, obwohl wir uns nicht kannten. Fand ich nett. Oder in der Bibliothek, als wir eine neue junge Kollegin kriegten, bot ich ihr das Du an, weil wir uns fast alle duzen, aber der war das sichtlich unangenehm, eine so viel ältere Kollegin zu duzen, die hat weiterhin immer Sie gesagt. War für mich auch in Ordnung.

 

Die Logik des Lebens (lass ich so stehen :-)))

Ich verstehe, glaube ich. Es scheint der Aspekt zu sein, über den wir schon einmal gesprochen haben. Eine Freiheit, die nicht begrenzt ist, kann als Freiheit überhaupt nicht wahrgenommen werden. Der Rückzug von der „Welt“ kann nur wahrgenommen werden als eine angenehme Handlung, wenn es ein „in der Welt sein“ gibt. Gäbe es kein „in der Welt sein“, könnte man ja gar nicht unterscheiden, und ein Rückzug wäre nicht möglich. Wenn die Bedingung der Möglichkeit des Rückzuges von der Welt das in der Welt sein ist, dann gibt es, wie ich jetzt denke, auch nichts Widersprüchliches? :-)) Eines bedingt das Andere. Das scheint etwas begrifflich Logisches und zugleich etwas ganz Pragmatisches zu sein.

Das Problem ist nur, dass ich im Moment das Gefühl habe, als wenn die Sache nicht mehr im Gleichgewicht ist. Na gut, war sie vorher auch nicht, nur neigte sich die Waage da sehr in Richtung Rückzug. Jetzt neigt sie sich halt zur anderen Seite. Ist das, um die „Logik des Lebens“ aufzugreifen, so etwas wie ein mathematischer Ausgleich, aufs Ganze gesehen? Dann kommt ja noch einiges auf mich zu! :-))

 

Ausrufezeichen!

Ich fasse noch einmal ganz knapp zusammen, wie ich Dich verstehe: Für Dein Selbstverständnis und Wohlbefinden genügt es Dir zu wissen „ich bin“. Es spielen keine bestimmten Eigenschaften, Kompetenzen, Unfähigkeiten, die Vergleiche mit anderen Menschen, dafür eine Rolle.

Hm … kann man das wirklich so sagen? Kommt mir jetzt merkwürdig vor. Ich bin doch nicht nur (auch wenn ich das behauptet habe), sondern ich bin so und so… Mein So- und nicht Anders-Sein kann ich doch nicht unterschlagen.

Aber das Vergleichen … ja, das kann man tatsächlich lassen, das ist völlig unnötig. Für den jeweiligen Moment spielt es überhaupt keine Rolle, ob jemand anders das, was ich da gerade mache, vielleicht besser könnte. Jetzt ist hier nicht jemand anders, sondern ich.

Ist es zufällig, dass Dir die Dokusans einfallen? Ich glaube, nein. Ich werde es psychologisch deuten :-))). Es ist der Zauber oder in psychologischem Terminus die „Übertragung“, die dieses Wunder bewirkt. Mir ist es so in der ersten Therapie anfangs gegangen. Wieder mein beliebter Vergleich des ZaZen-Lehrers mit einem Therapeuten. Zumindest in der Wirkung auf den Schüler. Man fühlt sich gesehen, in der ganzen Person gesehen, so wie ein Kind von seiner Mutter oder seinem Vater im guten Fall angesehen wird, und mit diesem Blick wird das ganze Dasein bestätigt. Das Dasein, ohne dass man irgendetwas anderes außer „da“ sein muß.

Ja, das kann gut sein. Wobei für mich nicht so sehr das Gesehenwerden, sondern mehr die Offenheit das „Wunder“ war. (Falls das nicht dasselbe ist, ich kenne mich da nicht aus.) Ich wusste ja, dass es zum Konzept des Dokusans gehört, ohne Konzept hineinzugehen, ich hatte aber nicht gedacht, dass mir das so leichtfallen würde. Aber die komplette Offenheit des Lehrers (jedenfalls wirkte sie so auf mich) hat meine versuchsweise Offenheit von Anfang an verstärkt. Und dieses bewusste Fallenlassen von (Eigen-)Konzepten hat dann ja weit in meinen Alltag hineingewirkt.

***Nach einem Tag Nachdenken habe ich eine Formulierung gefunden, die mir klarer zu sein scheint: Das „Wunder“ beim Dokusan ist für mich nicht, dass ich gesehen werde, wie ich bin, sondern dass ich absehen kann von dem, wie ich glaube zu sein. Keine Bestätigung, sondern eine Befreiung.

Das Dokusan ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt aus den Erfahrungen, die aus dem ZaZen erwachsen, so wie eine therapeutische Sitzung ebenfalls nur ein winziger Ausschnitt aus den Erfahrungen des Lebens darstellt. Jahrzehnte lang fragt man sich nicht so direkt und unumwegig, wer „ich bin“. Das Älterwerden, die kürzere Spanne „Leben“, die absehbar verbleibt, und natürlich das „alleinstehend“, wie Du es nanntest, bringt dann eine solche Frage hervor. „Ich bin“, das sind keine Bilder mehr, man schreibt keinen Roman mehr um das eigene Leben.

Das bedeutet aber doch, dass sich auch die Frage erübrigt, oder verstehe ich das falsch? In der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes hat mich die Frage “Wer bin ich eigentlich?“ ja sehr beschäftigt. Aber bei diesem „Ich bin“ zerbröselt das Fragezeichen nach und nach. Wie sagt mein Zen-Lehrer so schön? „Die Antwort auf ein Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen!“ :-) Das hieße in diesem Fall: „Wer bin ich?“ – „Ich bin!“ (Oder „Sei!“, falls man die Antwort von jemand anderem erwartet.)

B.

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Brief 217 | Die Logik der Lebenspraxis

Liebe B.,

dies wird ein etwas karger Brief – eher kurze Antworten, keine Überschriften … Das liegt nicht an Zeitmangel, Unlust oder dass mir nichts einfiele, sondern mehr daran, dass ich das Gefühl hatte, bei diesem oder jenem Thema so etwas wie eine gültige Formel gefunden zu haben. Immer nur vorläufig natürlich, aber für den Moment sehr befriedigend. Und das hatte ich nicht zerreden wollen. Falls du nicht gut daran anschließen kannst, beginne einfach etwas Neues. :-)

Ich habe Deinen Brief überhaupt nicht als karg empfunden. Für mich haben sich spontan die Anknüpfungspunkte ergeben :-). Dafür ist die Überschrift meines Briefes ein wenig großsprecherisch, sie hält nicht, was sie verspricht :-))), und ich wähle sie trotzdem.

 

Maßschneiderei

Da interessiert mich jetzt natürlich: Ist das ein Prozess, den du auch bei dir selbst bemerkst? Oder überwiegt immer noch (nach immerhin mehreren Jahren Lehrtätigkeit, oder?) das Gefühl des fremden Kleides?

Das ist eine schöne Frage! Ja, ich gleiche mich der Rolle an oder richtiger noch, ich habe das Gefühl, ins neue, fremde Kleid hineinzuwachsen. Nur manchmal, das finde ich meistens lustig, dann, wenn ich aufspringe, um irgendetwas an die Tafel zu schreiben, dann fällt mir nebenbei ein: „Huch, das bin ich?“ Ich hatte ja schon erwähnt, wie ich eine gelegentliche Unwucht versuche auszugleichen und so fällt mir dazu jetzt ein, dass ich mich zum Beispiel nicht, wie ich es bei den Kollegen und Kolleginnen beobachte, in die Mitte des Tisches setze, direkt vor die Tafel, also nicht frontal den Leuten gegenüber. Ich setze mich immer an die Seite, sodaß ich mehr mitten zwischen den Schülern sitze. Das heißt, ich passe das Kleid auch meiner Figur an, nicht nur umgekehrt :-))). Exponiert an der Tafel zu stehen und zudem noch mit dem Rücken zu den Anderen, das ist eine Situation, mich über mich selber immer noch zu erstaunen.

Ein wenig ähnlich geht es mir mit der Rolle in dem neuen Forum. Eigentlich sehe ich mich als eine zurückhaltende, schüchterne, weniger schreibende, d.h. passive Person. Abgesehen davon, dass mein Mitteilungs- und Redebedürfnis sowieso nicht so groß ist. Aber das meine ich jetzt nicht, sondern mehr die Rolle, die mit meinem Selbstbild auseinanderdriftet. Und auch abweicht davon, wie ich gesehen werden möchte. Ich bin also aktiver und trete mehr in Erscheinung als ich es gewohnt bin. Das tue ich, weil ich mich mit verantwortlich dafür fühle, dass das Gespräch im Fluß bleibt und nicht abbricht. Was es genau ist, was noch nicht „sitzt“ wie ein maßgeschneidertes Kleid, das weiß ich allerdings gar nicht so genau. Was stört mich daran, wenn ich als aktiver Mensch gesehen werde -falls es so überhaupt ist. Das ist ja wieder der Blick der Anderen auf mich, über den ich nichts weiter als spekulieren kann. Gehe ich einmal davon aus, ich würde als ein aktiver, selbstsicherer Mensch angesehen, dann würde ich nicht mehr schonungsvoll behandelt …? Bis heute habe ich noch keine Antwort gefunden. Bin ich tatsächlich nicht so und meine Intuition leitet mich richtig, oder aber ist hier noch ein Potential, das brach liegt? Ich muß meinen Brief an Dich abschicken, ohne Antwort :-).



Auf Augenhöhe“

Wir selbst nennen uns Teamerinnen. Aber das ist ein Wort, das den Teilnehmenden nicht geläufig ist. Für sie sind wir am ehesten Betreuerinnen, so habe ich es einmal von einer von ihnen gehört. Das ist etwas, was sie aus ihrem Alltag kennen, so heißt das Personal in den Einrichtungen, aber auch ihre individuellen Betreuer, die so eine Art Vormundaufgabe haben.

Ahja, stimmt, „Teamerinnen“ hattest Du früher einmal geschrieben. Das bedeutet weiterhin: Es ist kein Mann dabei, kein einziger „Teamer“?

Theoretisch wird das Verhältnis bei uns kaum behandelt. Unsere Leiterin ist ausgebildete Heilerzieherin und Erwachsenenbildnerin, die kennt natürlich die theoretischen Hintergründe. Wir anderen sind alle fachfremd. Und das Tolle ist, dass es für diese Art von Veranstaltung auch keine Rolle spielt. Wir verbringen einfach eine gemeinsame Zeit miteinander, jeder mit seinen jeweiligen Stärken und Schwächen. Gerade im Café verwischen sich die Unterschiede sehr. Gut, wir passen uns ans Sprachniveau und an die Erfahrungswelt an, aber das würde man auch bei jemandem machen, der z.B. die deutsche Sprache noch nicht so gut beherrscht, ohne dass daraus ein Gefälle entstünde. Der Unterschied spielt höchstens insofern eine Rolle, als die Teilnehmenden diese Situation sehr genießen, sich fast auf Augenhöhe mit Nichtbeeinträchtigten zu unterhalten. Ich als kommunikativ Minderbemittelte empfinde es jedenfalls wie Augenhöhe. Wie die anderen Teamerinnen das sehen, weiß ich gar nicht.

 

Wie sprecht Ihr einander an? Daran zeigt sich meiner Meinung nach am deutlichsten, ob es ein Gefälle gibt oder nicht.

 

Eine schöne Gelegenheit, weiter von meinen Unterrichtserfahrungen zu erzählen. Alle Lehrer duzen einander (es sei denn, jemand wünscht, mit „Sie“ angeredet zu werden). Alle Lehrer duzen alle Schüler, egal wie alt oder jung. Alle Lehrer sagen ihren eigenen Vornamen und erwarten, ebenfalls geduzt zu werden. Und das aber funktioniert nur in den allerwenigsten Fällen. Die meisten Schüler sagen „Sie“ zu den Lehrern und „meine Lehrerin“ bzw. „mein Lehrer“. Daraus resultiert ein Gefälle und es drückt sich das Gefälle darin bereits aus, meine ich. Zweimal ganz zu Anfang, als ich den Job machte, habe ich versucht, mit 2 nicht mehr ganz jungen Frauen einen näheren Kontakt herzustellen. Und es hat nicht funktioniert. Ja, das kann auch gut an mir gelegen haben, weil meine Erwartungen einfach zu hoch waren. Ich hatte mit ihnen sprechen können wollen wie mit Freunden. Sprachlich wäre das vielleicht möglich gewesen. Es hat nicht funktioniert, weil sie mich nicht angesprochen haben wie „auf Augenhöhe“. Vielleicht noch deutlicher, ich hatte von ihnen Zuwendung haben wollen, Verständnis und das habe ich nicht bekommen. Daß es nicht geht, habe ich akzeptiert und erwarte es nun auch nicht mehr. Am wenigsten Gefälle nehme ich tatsächlich wahr, wenn ich mit „du“ und meinem Vornamen angesprochen werde. Deswegen würde ich diese „Formalie“ für wesentlich halten :-).



Die Logik des Lebens

Ich meine mit „Welt“ einfach alle Termine, egal ob selbstgewählt oder von außen auf mich zukommend, egal ob erfreulich oder lästig. Früher hatte ich so gut wie nie Termine, außer jeden Tag zur Arbeit zu gehen und einmal in der Woche zum Taiji. Inzwischen hat sich das sehr gewandelt, ich habe fast jeden Tag einen oder zwei, manchmal sogar drei Termine. Fast alle selbstgewählt, fast alles Sachen, die ich gern mache. Und trotzdem … wenn ich mir morgens überlege, was heute so ansteht, dann denke ich unwillkürlich: Och nö, eigentlich würde ich lieber in den Tag hinein faulenzen … Ich weiß, das ist komplett widersprüchlich. :-)

Ich verstehe, glaube ich. Es scheint der Aspekt zu sein, über den wir schon einmal gesprochen haben. Eine Freiheit, die nicht begrenzt ist, kann als Freiheit überhaupt nicht wahrgenommen werden. Der Rückzug von der „Welt“ kann nur wahrgenommen werden als eine angenehme Handlung, wenn es ein „in der Welt sein“ gibt. Gäbe es kein „in der Welt sein“, könnte man ja gar nicht unterscheiden, und ein Rückzug wäre nicht möglich. Wenn die Bedingung der Möglichkeit des Rückzuges von der Welt das in der Welt sein ist, dann gibt es, wie ich jetzt denke, auch nichts Widersprüchliches? :-)) Eines bedingt das Andere. Das scheint etwas begrifflich Logisches und zugleich etwas ganz Pragmatisches zu sein.



Ich bin“

Spontan fällt mir dazu ein, dass ich das mit dem Baum gerade andersherum sehe. Ein „gefüllter“ Baum braucht etwas, nämlich Nährstoffe und Wasser, sonst stirbt er ab. Ein hohler Baum dagegen ist schon (fast) tot, der braucht das alles nicht mehr oder nicht mehr so dringend. Wenn man das Bild weiterdenkt, könnte das bedeuten, dass man sehr viel verloren haben muss (an Greifbarem, aber auch z.B. an Illusionen), bevor das Gefülltwerden nicht mehr gebraucht wird.

Interessant! Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich Deine Sicht auf das Bild habe nachvollziehen können, aber am Ende ist es mir doch gelungen. Unten geht es weiter ...

Und ich bin mir auch nicht so sicher, ob Selbstsicherheit, Übereinstimmung mit sich selbst oder Selbstgenügsamkeit unbedingt notwendig sind, um einfach „ich bin“ sagen zu können. Ich musste an meine ersten Dokusans denken, die ich ziemlich überwältigend fand, weil das eine völlig irre Erfahrung war da hineinzugehen, mit absolut keinem Konzept, und einfach spontan auf das zu reagieren, was da passierte. (Boah, was für ‘ne Menge Adjektive … :-)) Da war von Selbstsicherheit keine Spur und trotzdem ganz stark einfach nur dieses „ich bin“.

Ich fasse noch einmal ganz knapp zusammen, wie ich Dich verstehe: Für Dein Selbstverständnis und Wohlbefinden genügt es Dir zu wissen „ich bin“. Es spielen keine bestimmten Eigenschaften, Kompetenzen, Unfähigkeiten, die Vergleiche mit anderen Menschen, dafür eine Rolle.

Ist es zufällig, dass Dir die Dokusans einfallen? Ich glaube, nein. Ich werde es psychologisch deuten :-))). Es ist der Zauber oder in psychologischem Terminus die „Übertragung“, die dieses Wunder bewirkt. Mir ist es so in der ersten Therapie anfangs gegangen. Wieder mein beliebter Vergleich des ZaZen-Lehrers mit einem Therapeuten. Zumindest in der Wirkung auf den Schüler. Man fühlt sich gesehen, in der ganzen Person gesehen, so wie ein Kind von seiner Mutter oder seinem Vater im guten Fall angesehen wird, und mit diesem Blick wird das ganze Dasein bestätigt. Das Dasein, ohne dass man irgendetwas anderes außer „da“ sein muß.

Das Dokusan ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt aus den Erfahrungen, die aus dem ZaZen erwachsen, so wie eine therapeutische Sitzung ebenfalls nur ein winziger Ausschnitt aus den Erfahrungen des Lebens darstellt. Jahrzehnte lang fragt man sich nicht so direkt und unumwegig, wer „ich bin“. Das Älterwerden, die kürzere Spanne „Leben“, die absehbar verbleibt, und natürlich das „alleinstehend“, wie Du es nanntest, bringt dann eine solche Frage hervor. „Ich bin“, das sind keine Bilder mehr, man schreibt keinen Roman mehr um das eigene Leben.

Mir ist es in den vergangenen Wochen häufiger bewußt geworden, wie viel ich von Dir in unseren Gesprächen gelernt habe. „Gelernt“ ist ein irgendwie ein komisches Wort, ich meine die Denkanregungen, die ich alleine oder die wir zusammen weitergeführt haben -und dieses „ich bin“ gehört zu den Gedanken, die ich mir gerne zueigen mache oder machen möchte.

Die Dankbarkeit, die Du empfindest, die muß aus der Tiefe kommen. Man kann sie nicht herbeidenken. Dafür ist für mich nicht der rechte Zeitpunkt :-).

F.

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Brief 216 | Karg

Liebe F.,

dies wird ein etwas karger Brief – eher kurze Antworten, keine Überschriften … Das liegt nicht an Zeitmangel, Unlust oder dass mir nichts einfiele, sondern mehr daran, dass ich das Gefühl hatte, bei diesem oder jenem Thema so etwas wie eine gültige Formel gefunden zu haben. Immer nur vorläufig natürlich, aber für den Moment sehr befriedigend. Und das hatte ich nicht zerreden wollen. Falls du nicht gut daran anschließen kannst, beginne einfach etwas Neues. :-)

 

Ah, erst während ich die Beschreibung Deiner Situation lese, wird mir klar, dass ich den Spiegelungseffekt oder Du würdest es vielleicht die „Rückkoppelung“ nennen, gar nicht im Blick hatte. Natürlich, die Anderen, die Schüler oder die TS-Teilnehmenden, wissen von der seltsamen Empfindung des „falschen Kleides“, das man meint sich angezogen zu haben, gar nichts. Deswegen spiegeln sie uns die Rolle wider, die wir für sie spielen (witzig die doppelte Bedeutung der zweifachen Richtung). Und damit wird der Teil, der einem falsch vorkommt, auf einmal für richtig befunden, d.h. er wird positiv verstärkt. Wir sehen uns als die, als die wir uns gesehen fühlen (obwohl wir es nicht wirklich wissen können, wir glauben, so gesehen zu werden). Ja, auf diese Weise wächst man langsam in die Rolle hinein, und sie wird zu einer der Rollen, die man gesellschaftlich spielt. Es sind Rollen, man weiß darum, aber man spielt sie gut. Solange man auf der Bühne steht, ist man die Person, die die Zuschauer -vermeintlich- sehen.

Da interessiert mich jetzt natürlich: Ist das ein Prozess, den du auch bei dir selbst bemerkst? Oder überwiegt immer noch (nach immerhin mehreren Jahren Lehrtätigkeit, oder?) das Gefühl des fremden Kleides?

Nebenbei: Hast Du eine Idee, als „wer“ die TS-Ausrichtenden von den Teilnehmenden -ich weiß nicht recht, welches Vokabular ich wählen soll, um die Moderatoren und Echoer von den Erzählenden zu unterscheiden- angesehen werden? Wird das theoretisch überhaupt erörtert? Ich stelle es mir so vor, dass Du und die Anderen irgendeine Art von Autorität seid. Leute, die mehr wissen oder die normaler sind. Es gibt anschließend, wie Du früher einmal erzähltest, das gemeinsame Kaffeetrinken, bei dem sich vielleicht noch deutlicher die Art der Beziehung zeigt, die die Teilnehmenden zu den Veranstaltenden haben?

Wir selbst nennen uns Teamerinnen. Aber das ist ein Wort, das den Teilnehmenden nicht geläufig ist. Für sie sind wir am ehesten Betreuerinnen, so habe ich es einmal von einer von ihnen gehört. Das ist etwas, was sie aus ihrem Alltag kennen, so heißt das Personal in den Einrichtungen, aber auch ihre individuellen Betreuer, die so eine Art Vormundaufgabe haben.

Theoretisch wird das Verhältnis bei uns kaum behandelt. Unsere Leiterin ist ausgebildete Heilerzieherin und Erwachsenenbildnerin, die kennt natürlich die theoretischen Hintergründe. Wir anderen sind alle fachfremd. Und das Tolle ist, dass es für diese Art von Veranstaltung auch keine Rolle spielt. Wir verbringen einfach eine gemeinsame Zeit miteinander, jeder mit seinen jeweiligen Stärken und Schwächen. Gerade im Café verwischen sich die Unterschiede sehr. Gut, wir passen uns ans Sprachniveau und an die Erfahrungswelt an, aber das würde man auch bei jemandem machen, der z.B. die deutsche Sprache noch nicht so gut beherrscht, ohne dass daraus ein Gefälle entstünde. Der Unterschied spielt höchstens insofern eine Rolle, als die Teilnehmenden diese Situation sehr genießen, sich fast auf Augenhöhe mit Nichtbeeinträchtigten zu unterhalten. Ich als kommunikativ Minderbemittelte empfinde es jedenfalls wie Augenhöhe. Wie die anderen Teamerinnen das sehen, weiß ich gar nicht.

 

Doch ja, wir haben damals einen entscheidenden Unterschied entdeckt, nur erinnere ich Dein Empfinden unter der Glasglocke anders. Ich meine, Du hattest sie im Zusammenhang damit erwähnt, dass Du ab und zu Phasen hast, in denen Du die Menschen nicht magst, sie Dir unangenehm sind (ich weiß nicht mehr, ob Du von Menschenhass oder Menschenfeindlichkeit gesprochen hattest, es war aber schon ein stärkeres Wort), also gerade andersherum, dass Du die Glasglocke als Schutz genommen hast, wenn Du die Menschen nicht gemocht hast … achso, wenn Du jetzt schreibst, dass Du Dich unter der Glasglocke der Welt freundlich gegenüber fühlst, dann entspräche dies ja doch dem, wie ich es erinnere. Die Glasglocke ermöglicht Dir, Dich nicht feindselig zu fühlen.

Aber entscheidender ist wohl, dass Du sie nun schon lange gar nicht mehr in Anspruch genommen hast. Ich würde die Veränderung so formulieren: Da Du Deine Grenzen nicht mehr gegen die Welt und andere Menschen verteidigen mußt, werden sie nicht mehr gebraucht. Die Grenzen sind zum einen unsichtbar vorhanden, und zum anderen sind sie teilweise auch nicht mehr nötig.

Ja, meine Menschenhasstage! :-))) Nein, an solchen Tagen brauchte ich keine Glasglocke. Aber auch diese Tage habe ich schon lange nicht mehr gehabt. Das liegt zum einen daran, dass sie wohl hormonell bedingt waren, ich hatte solche Tage immer in der Woche, bevor ich meine Regel bekam, aber diese Hormonschwankungen sind ja längst vorüber. Und zum anderen daran, dass sich mein Verhältnis zu den Menschen in den letzten Jahren doch ziemlich verändert hat. Weil ich mich verändert habe.

 

Hm, -“aber die Welt läßt einen nur selten in Ruhe“. Ich antworte erst einmal spontan, dass mich die Welt -von sich aus- so sehr in Ruhe läßt, dass es ihr kaum auffallen würde, wenn ich verschwände. Es muß daher so viele Ankerpunkte (Menschen, Tätigkeiten) in Deinem Leben geben, dass der Wunsch nach in Ruhe gelassen werden überhaupt gegenwärtig werden kann. Achnein, jetzt weiß ich, was für mich nicht stimmig ist an dem, was Du schreibst. Die „Welt“ ist doch die, die Du Dir geschaffen hast und anschließend sagst Du, sie ließe Dich nicht in Ruhe. Ich gehe einfach davon aus, dass Du mit der „Welt“ an dieser Stelle nicht Behördenunannehmlichkeiten oder Krankheiten oder Staubwischen und Einkaufen meinst, sondern Menschen und Tätigkeiten, denen Du Dich zugewandt hast.

Ich meine mit „Welt“ einfach alle Termine, egal ob selbstgewählt oder von außen auf mich zukommend, egal ob erfreulich oder lästig. Früher hatte ich so gut wie nie Termine, außer jeden Tag zur Arbeit zu gehen und einmal in der Woche zum Taiji. Inzwischen hat sich das sehr gewandelt, ich habe fast jeden Tag einen oder zwei, manchmal sogar drei Termine. Fast alle selbstgewählt, fast alles Sachen, die ich gern mache. Und trotzdem … wenn ich mir morgens überlege, was heute so ansteht, dann denke ich unwillkürlich: Och nö, eigentlich würde ich lieber in den Tag hinein faulenzen … Ich weiß, das ist komplett widersprüchlich. :-)

Bei mir ist es übrigens auch nicht so viel anders als bei dir, da könnte es unter Umständen auch länger dauern, bis mein Verschwinden bemerkt würde. Oder andersherum: Wenn du nicht zum Unterricht erscheinen würdest oder ich keine Briefe mehr von dir bekäme, würde dein Verschwinden durchaus recht schnell auffallen. :-)

 

Ich vermute, dass es die Sicherheit mit sich selbst ist, die darüber entscheidet, ob man das Selbstgefühl durch die Einzigartigkeit unterstützen muß, oder ob es genügt „ich bin“ zu sagen. Ich kann es nur höchst unzulänglich beschreiben, was ich meine. Als Extrem des „ich bin“ Genügsamen nehme ich das Beispiel eines Mönches, der so mit sich eins ist und so in sich selbst ruht, dass alles, was draußen ist, einschließlich der anderen Menschen, ihn nicht aus seiner Ruhe werfen können. Er braucht keine Bestätigung von außen, er vergleicht nicht mehr, er muß nichts mehr sein außer, dass er existiert. Das andere Extrem wäre ein Mensch, der hauptsächlich über das, was ihm von außen entgegenkommt, sich selbst als „sich“ empfindet. Sagt jemand „du bist klug“, so findet er sich klug usw. In einem Bild: Ein gefüllter Baumstaum und im Gegensatz dazu ein hohler Baumstamm :-))). Der hohle Baumstamm braucht das Gefülltwerden von außen, das braucht der gefüllte Baumstamm nicht (mehr). Er steht einfach da. Wenn man sich selbst genügt, dann benötigt man wohl tatsächlich dieses Drumherum von „ich bin soundso“ und „ich bin dies und das“ nicht mehr.

Spontan fällt mir dazu ein, dass ich das mit dem Baum gerade andersherum sehe. Ein „gefüllter“ Baum braucht etwas, nämlich Nährstoffe und Wasser, sonst stirbt er ab. Ein hohler Baum dagegen ist schon (fast) tot, der braucht das alles nicht mehr oder nicht mehr so dringend. Wenn man das Bild weiterdenkt, könnte das bedeuten, dass man sehr viel verloren haben muss (an Greifbarem, aber auch z.B. an Illusionen), bevor das Gefülltwerden nicht mehr gebraucht wird.

Und ich bin mir auch nicht so sicher, ob Selbstsicherheit, Übereinstimmung mit sich selbst oder Selbstgenügsamkeit unbedingt notwendig sind, um einfach „ich bin“ sagen zu können. Ich musste an meine ersten Dokusans denken, die ich ziemlich überwältigend fand, weil das eine völlig irre Erfahrung war da hineinzugehen, mit absolut keinem Konzept, und einfach spontan auf das zu reagieren, was da passierte. (Boah, was für ‘ne Menge Adjektive … :-)) Da war von Selbstsicherheit keine Spur und trotzdem ganz stark einfach nur dieses „ich bin“.

 

Du hast öfter schon einmal Ähnliches geschrieben. Ich fasse es unter dem Wort „Zufriedenheit“ zusammen. Vielleicht hat es früher leicht bemüht geklungen, aber als „falsch“ oder unauthentisch empfand ich es nie. Es ist wie aus einem Guß. Es klingt für mich so beiläufig und selbstverständlich, als würdest Du über das Wetter berichten. Der Vergleich bezieht sich nicht auf die Banalität des Berichtsgegenstandes, sondern auf die Gleichmütigkeit, mit der eine Tatsache weitergegeben wird. Deswegen können mir Deine Gedanken überhaupt nicht daneben vorkommen :-). Ich empfinde sie als wahrhaftig. Und auch als ziemlich einzigartig. Jedenfalls habe ich, soweit ich mich erinnern kann, noch nie einen Menschen getroffen, der so ruhig und zufrieden über sein -gegenwärtiges- Leben gesprochen hat.

Ich würde es eher Dankbarkeit als Zufriedenheit nennen. Ich bin längst nicht mit allem zufrieden, vor allem nicht mit mir selbst. Aber ich bin zutiefst dankbar für das, was ich habe.

B.

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Brief 215 | Vergleiche II

Liebe B.,

Ich ändere die Überschrift nicht, weil ich das Thema fortführe :-).

Über das Vergleichen

Bei deiner Beschreibung musste ich an den Spruch denken: Fake it until you make it. Ich finde den immer wieder verblüffend zutreffend. Du gehst da hin und spielst mit mehr oder weniger Bedenken die Rolle der Lehrerin. Aber ich nehme an, die Schülerinnen und Schüler denken gar nicht weiter darüber nach – für sie bist du die Lehrerin. Und so stelle ich mir vor, dass du nach einer Weile die meiste Zeit tatsächlich einfach die Lehrerin bist, wenn du da hingehst, auch für dich selbst. Du spielst keine Rolle, du bist die Rolle. Bis auf die Ausnahmemomente, die du beschrieben hast, die andeuten, dass dir die Rolle halt doch noch nicht ganz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Bei mir ist es ähnlich, wenn ich am Ende einer TimeSlips-Runde noch kurz etwas zum Maler und seinem Bild sage. Anfangs habe ich immer gedacht: Die müssen doch merken, dass ich nur so tue, als wenn ich hier relativ souverän stehe und was erzähle! Aber je länger ich so tue, als sei ich souverän, umso souveräner und selbstverständlicher werde ich tatsächlich.

Ah, erst während ich die Beschreibung Deiner Situation lese, wird mir klar, dass ich den Spiegelungseffekt oder Du würdest es vielleicht die „Rückkoppelung“ nennen, gar nicht im Blick hatte. Natürlich, die Anderen, die Schüler oder die TS-Teilnehmenden, wissen von der seltsamen Empfindung des „falschen Kleides“, das man meint sich angezogen zu haben, gar nichts. Deswegen spiegeln sie uns die Rolle wider, die wir für sie spielen (witzig die doppelte Bedeutung der zweifachen Richtung). Und damit wird der Teil, der einem falsch vorkommt, auf einmal für richtig befunden, d.h. er wird positiv verstärkt. Wir sehen uns als die, als die wir uns gesehen fühlen (obwohl wir es nicht wirklich wissen können, wir glauben, so gesehen zu werden). Ja, auf diese Weise wächst man langsam in die Rolle hinein, und sie wird zu einer der Rollen, die man gesellschaftlich spielt. Es sind Rollen, man weiß darum, aber man spielt sie gut. Solange man auf der Bühne steht, ist man die Person, die die Zuschauer -vermeintlich- sehen.

Nebenbei: Hast Du eine Idee, als „wer“ die TS-Ausrichtenden von den Teilnehmenden -ich weiß nicht recht, welches Vokabular ich wählen soll, um die Moderatoren und Echoer von den Erzählenden zu unterscheiden- angesehen werden? Wird das theoretisch überhaupt erörtert? Ich stelle es mir so vor, dass Du und die Anderen irgendeine Art von Autorität seid. Leute, die mehr wissen oder die normaler sind. Es gibt anschließend, wie Du früher einmal erzähltest, das gemeinsame Kaffeetrinken, bei dem sich vielleicht noch deutlicher die Art der Beziehung zeigt, die die Teilnehmenden zu den Veranstaltenden haben?

Ach was – das verbindest du mit dem Bild der Glasglocke? Für mich bedeutet sie etwas völlig anderes! Haben wir diesen Unterschied damals, als wir über sie gesprochen haben, überhaupt bemerkt? Ich kann mich nicht daran erinnern.

Für „meine“ Glasglocke jedenfalls ist es gerade entscheidend, dass sie durchsichtig ist. Für mich symbolisiert sie keine Isolierung, kein Abgeschnittensein, sondern sie ist ein Schutzraum, aus dem heraus ich entspannt die Welt betrachten kann und sie mich auch sehen kann, es also eine Verbindung in beide Richtungen gibt, ohne dass die Welt aber zu mir hereindringen kann. Ich selbst könnte jederzeit hinaus, wenn ich müsste oder wollte, aber zu mir herein gelangt man nicht so leicht. Ich kann mich in der Welt bewegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Und das Gute dabei ist: Dadurch, dass meine Schutzhülle durchsichtig ist, wird sie von den anderen nicht so schnell bemerkt, ich bin also nicht gleich auf den ersten Blick als Sonderling, als Ab-Sonderling zu erkennen, als eine, die nicht so wirklich dazugehören möchte. Ich kann für mich bleiben, ohne die anderen vor den Kopf zu stoßen. Wenn ich mich in der Glasglocke durch die Welt bewege (was, wie ich erstaunt feststelle, schon lange nicht mehr der Fall gewesen ist), dann fühle ich mich der Welt gegenüber freundlich.

Doch ja, wir haben damals einen entscheidenden Unterschied entdeckt, nur erinnere ich Dein Empfinden unter der Glasglocke anders. Ich meine, Du hattest sie im Zusammenhang damit erwähnt, dass Du ab und zu Phasen hast, in denen Du die Menschen nicht magst, sie Dir unangenehm sind (ich weiß nicht mehr, ob Du von Menschenhass oder Menschenfeindlichkeit gesprochen hattest, es war aber schon ein stärkeres Wort), also gerade andersherum, dass Du die Glasglocke als Schutz genommen hast, wenn Du die Menschen nicht gemocht hast … achso, wenn Du jetzt schreibst, dass Du Dich unter der Glasglocke der Welt freundlich gegenüber fühlst, dann entspräche dies ja doch dem, wie ich es erinnere. Die Glasglocke ermöglicht Dir, Dich nicht feindselig zu fühlen.

Aber entscheidender ist wohl, dass Du sie nun schon lange gar nicht mehr in Anspruch genommen hast. Ich würde die Veränderung so formulieren: Da Du Deine Grenzen nicht mehr gegen die Welt und andere Menschen verteidigen mußt, werden sie nicht mehr gebraucht. Die Grenzen sind zum einen unsichtbar vorhanden, und zum anderen sind sie teilweise auch nicht mehr nötig.

Wir sind so unterschiedlich, was sich gerade in diesen beiden letzten Briefen wieder sehr deutlich zeigt, und dann kommen wir doch überraschend manchmal zusammen, wenn auch vielleicht aus verschiedenen Richtungen. Jetzt z.B. bei der Öffnung. In diesem Sinne, im Herausarbeiten der Unterschiede und Gemeinsamkeiten, finde ich das Vergleichen eine tolle Sache.

Wahrscheinlich hast du recht mit deiner Vermutung, dass bei mir das Vergleichen, wenn es denn stattfindet, eher neutral ist. Ich sehe natürlich Unterschiede zwischen mir und anderen, aber das sind dann halt einfach Unterschiede, keine Einteilungen in besser oder schlechter etc. Oder wenn doch, dann mal so, mal so, also mal finde ich mich „besser“, mal „schlechter“. Das hat für mich aber keine weitere Bedeutung, das ist einfach eine Feststellung oder ein Wahrnehmen. Wohingegen ich vermute, dass du dich meistens auf der negativen Seite verortest und dich dann schlecht fühlst.

Ja, wenn es dem Verstehen dient, ist das eine tolle Sache :-). Man sieht klarer, transparenter. Nur wenn man es wertend tut, dann vernebelt es den Blick. Mit „vernebeln“ meine ich, dass aus den Unterschiedlichkeiten Höhenunterschiede werden. „Höher = besser, „tiefer“ = schlechter. Das ist der entscheidende Punkt.

„Da müßte ja dann noch etwas Anderes, Besseres im Befinden sein.“ Ja, natürlich. Deshalb nerven mich die anderen ja, weil sie mich in meinem schönen Alleinsein stören. Mein Befinden ist oft, dass ich in Ruhe gelassen werden möchte – aber die Welt lässt einen nur selten in Ruhe. :-) Umso kostbarer sind die Momente, in denen ich mich wirklich ganz zurückziehen kann. (Was natürlich sehr oft vorkommt, weil ich mir diese Momente schaffe.) Ich nehme an, dass wir uns hier grundlegend unterscheiden. So grundlegend, dass ich mal wieder überhaupt nicht darauf gekommen bin, dass man das, was ich geschrieben habe, auch anders verstehen könnte, als ich es gemeint hatte. Kein Wunder, dass es dir wie ein Geheimnis vorgekommen ist. Wieder mal ein blinder Fleck!

Hm, -“aber die Welt läßt einen nur selten in Ruhe“. Ich antworte erst einmal spontan, dass mich die Welt -von sich aus- so sehr in Ruhe läßt, dass es ihr kaum auffallen würde, wenn ich verschwände. Es muß daher so viele Ankerpunkte (Menschen, Tätigkeiten) in Deinem Leben geben, dass der Wunsch nach in Ruhe gelassen werden überhaupt gegenwärtig werden kann. Achnein, jetzt weiß ich, was für mich nicht stimmig ist an dem, was Du schreibst. Die „Welt“ ist doch die, die Du Dir geschaffen hast und anschließend sagst Du, sie ließe Dich nicht in Ruhe. Ich gehe einfach davon aus, dass Du mit der „Welt“ an dieser Stelle nicht Behördenunannehmlichkeiten oder Krankheiten oder Staubwischen und Einkaufen meinst, sondern Menschen und Tätigkeiten, denen Du Dich zugewandt hast.

So, ist es das? Vor einiger Zeit hätte ich dir noch zugestimmt. Warum zögere ich jetzt? Ich weiß es nicht. Nach meinem Gefühl liegt darin doch wieder ein verstecktes Vergleichen. Warum muss ich mich zu etwas Einzigartigem machen? Kann ich nicht einfach sein, ganz ohne weitere Attribute?

Ändert sich etwas, wenn man aus dem Wort die „Exklusivität“ entfernt? Die Assoziation an das Herausragende in positivem Sinne? Daß Du die Einzigartigkeit so verstehst, entnehme ich dem Verb „machen“. Ich hatte absichtlich von der Feststellung eines Sachverhalts geschrieben. Und dennoch: Ein verstecktes Vergleichen? Da ist was dran. „Einzig“ sondert immer noch aus, eins aus vielen anderen. Du hast recht. Es macht einen Unterschied, ob man sagt „ich bin“. Punkt :-))). Oder ob man sagt „ich bin einzigartig“.

Ich vermute, dass es die Sicherheit mit sich selbst ist, die darüber entscheidet, ob man das Selbstgefühl durch die Einzigartigkeit unterstützen muß, oder ob es genügt „ich bin“ zu sagen. Ich kann es nur höchst unzulänglich beschreiben, was ich meine. Als Extrem des „ich bin“ Genügsamen nehme ich das Beispiel eines Mönches, der so mit sich eins ist und so in sich selbst ruht, dass alles, was draußen ist, einschließlich der anderen Menschen, ihn nicht aus seiner Ruhe werfen können. Er braucht keine Bestätigung von außen, er vergleicht nicht mehr, er muß nichts mehr sein außer, dass er existiert. Das andere Extrem wäre ein Mensch, der hauptsächlich über das, was ihm von außen entgegenkommt, sich selbst als „sich“ empfindet. Sagt jemand „du bist klug“, so findet er sich klug usw. In einem Bild: Ein gefüllter Baumstaum und im Gegensatz dazu ein hohler Baumstamm :-))). Der hohle Baumstamm braucht das Gefülltwerden von außen, das braucht der gefüllte Baumstamm nicht (mehr). Er steht einfach da. Wenn man sich selbst genügt, dann benötigt man wohl tatsächlich dieses Drumherum von „ich bin soundso“ und „ich bin dies und das“ nicht mehr.

Während ich über dieses Thema nachdachte, habe ich versucht Sachen zu finden, bei denen ich tatsächlich neidisch werden könnte oder geworden bin. Aber stattdessen drängt sich immer wieder das Gefühl in den Vordergrund, wie unglaublich privilegiert ich bin, in vielerlei Hinsicht – materiell, sozial, emotional … Worauf sollte ich neidisch sein? Auf anderes? Auf noch mehr (von was auch immer)? Oft vor dem Einschlafen, während ich mich in meine Bettdecke einkuschle, durchströmt mich ein großes Gefühl der Dankbarkeit: dass ich ein Bett habe und ein Dach über dem Kopf und dass ich keine Angst haben muss, während der Nacht daraus vertrieben zu werden. Dieses Gefühl hatte ich auch schon, bevor ich bei der Bahnhofsmission angefangen habe, aber seitdem noch verstärkt. Daneben werden alle etwaigen Mängel und Nöte ziemlich klein. Vieles davon sind ja auch nur „Befindlichkeiten“, die weder ich noch das Universum allzu wichtig nehmen müssen. (Ich habe fast ein schlechtes Gewissen das zu schreiben, weil ich vermute, dass deine emotionale Not, deine Einsamkeit, von solchen Gedanken nicht im geringsten berührt werden, sie dir im Gegenteil völlig daneben vorkommen. Aber so ist das nun mal bei mir.)

Du hast öfter schon einmal Ähnliches geschrieben. Ich fasse es unter dem Wort „Zufriedenheit“ zusammen. Vielleicht hat es früher leicht bemüht geklungen, aber als „falsch“ oder unauthentisch empfand ich es nie. Es ist wie aus einem Guß. Es klingt für mich so beiläufig und selbstverständlich, als würdest Du über das Wetter berichten. Der Vergleich bezieht sich nicht auf die Banalität des Berichtsgegenstandes, sondern auf die Gleichmütigkeit, mit der eine Tatsache weitergegeben wird. Deswegen können mir Deine Gedanken überhaupt nicht daneben vorkommen :-). Ich empfinde sie als wahrhaftig. Und auch als ziemlich einzigartig. Jedenfalls habe ich, soweit ich mich erinnern kann, noch nie einen Menschen getroffen, der so ruhig und zufrieden über sein -gegenwärtiges- Leben gesprochen hat.

F.

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Brief 214 | Vergleiche

Liebe F.,

Der Hypochonder

Und nun meine Frage, die ich mir die ganze Zeit während unseres Erzählens gestellt habe: Warum nennt Spitzweg das Bild „Der Hypochonder“? [...]

Spitzwegs „Hypochonder“ verläßt nur für dringende Erledigungen seine Turmwohnung? Deswegen streckt er seine Nase raus, um gierig frische Luft zu atmen? Außer ihm hat niemand einen Blumenkasten, und er hat ihn, weil er nicht nach draußen in den Park ins Grüne geht? Nach draußen traut er sich deswegen nicht, weil er befürchtet, von anderen Menschen mit einer Krankheit angesteckt zu werden, oder weil er den Schmutz meiden möchte? Vielleicht ist es für einen Mann, der so ungefähr in der mittleren Lebenshälfte ist, auch ungewöhnlich, bei Tage nicht zu arbeiten, sondern daheim zu sein und aus dem Fenster zu sehen? Die junge Frau gegenüber könnte tatsächlich so etwas wie das Gegenstück zu dem Mann sein.

Ja, an den Titel habe ich auch manchmal gedacht und dass er in eine Richtung weist, die unsere Geschichte überhaupt nicht genommen hat. Vermutlich hat Spitzweg all das gemeint, was du beschrieben hast. Das wäre dann in der sogenannten „Expertise“ erläutert worden, die bei einer TimeSlips-Session im Anschluss an das Geschichtenerfinden kommt. Darin wird erzählt, was der Maler „wirklich“ gemeint hat, im Gegensatz zur erfundenen Geschichte der Teilnehmenden, außerdem ein bisschen was zu seiner Biografie.

In unserer Geschichte ist der Mann kein etwas lächerlich gemachtes Stereotyp, sondern eine differenziertere Persönlichkeit. Mir hat das gut gefallen.

 

Über das Vergleichen

Ich stelle alles Folgende unter dieses eine Thema, weil mir das zusammenzugehören scheint, auch da, wo es nicht ausdrücklich erwähnt wird.

Gelegentlich, nicht oft kommt es mir so vor, bevor ich zum Unterrichten gehe, dass die Rolle der Lehrerin, die ich da spiele, völlig falsch ist, weil ich mich ganz gegenteilig wie ein kleines Kind, das bedürftig ist, fühle oder aber manchmal wie eine Greisin, die lächerlich fehl am Platz ist, wenn sie jüngere Leute was lehren will. Und weil ich das vorher schon registriere, mir ist sowas immer bewußt, unternehme ich Einebnungsversuche. Das heißt, ich versuche, die Rolle, das Außen und den Inhalt einander anzunähern. Das hat vor allen Dingen den Zweck, mich angenehmer zu fühlen. Wie mache ich das? Zum Beispiel setze ich es in Sprache um, indem ich zu mir sage „die arme kleine Lehrerin“. In diesen Worten sind beide Aspekte vereint. Der Inhalt geht mit der Rolle, der Verpackung eine Verbindung ein. Ich setze sie in eine gute Beziehung zueinander, sodaß sie nicht auseinandergerissen sind. Oder aber ich versuche, so total, wie es nur irgend möglich ist, hier und jetzt zu sein, weil auf diese Weise die Rolle (Lehrerin) und das Selbstgefühl (Kind, Greisin) verschwinden oder zumindest ganz blaß werden, sodaß durch das Hier und Jetzt eine Einheit entsteht.

Wow, du bist dir deines Innenlebens ja wirklich extrem bewusst! Und du weißt, was du machen musst, damit es dir gut geht. Beeindruckend.

Bei deiner Beschreibung musste ich an den Spruch denken: Fake it until you make it. Ich finde den immer wieder verblüffend zutreffend. Du gehst da hin und spielst mit mehr oder weniger Bedenken die Rolle der Lehrerin. Aber ich nehme an, die Schülerinnen und Schüler denken gar nicht weiter darüber nach – für sie bist du die Lehrerin. Und so stelle ich mir vor, dass du nach einer Weile die meiste Zeit tatsächlich einfach die Lehrerin bist, wenn du da hingehst, auch für dich selbst. Du spielst keine Rolle, du bist die Rolle. Bis auf die Ausnahmemomente, die du beschrieben hast, die andeuten, dass dir die Rolle halt doch noch nicht ganz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Bei mir ist es ähnlich, wenn ich am Ende einer TimeSlips-Runde noch kurz etwas zum Maler und seinem Bild sage. Anfangs habe ich immer gedacht: Die müssen doch merken, dass ich nur so tue, als wenn ich hier relativ souverän stehe und was erzähle! Aber je länger ich so tue, als sei ich souverän, umso souveräner und selbstverständlicher werde ich tatsächlich.

Dochja, und nun entdecke ich die Verbindungslinie zu der „Glasglocke“, über die wir vor Jahren gesprochen haben. „Glasglocke“ ist eigentlich zu schwach als Bild, weil sie durchsichtig ist. Aber egal, mich wie eingesperrt als Inhalt zu empfinden und die dicke Verpackung darüber, das war der Zustand, keinen Zugang von mir aus nach Außen herstellen zu können. Abgeschnitten von der Welt zu sein. Und darin besteht auch die Veränderung. Es fällt mir nicht immer leicht, es gelingt auch nicht immer perfekt, aber die Übergänge sind fließender und durchlässiger.

Ach was – das verbindest du mit dem Bild der Glasglocke? Für mich bedeutet sie etwas völlig anderes! Haben wir diesen Unterschied damals, als wir über sie gesprochen haben, überhaupt bemerkt? Ich kann mich nicht daran erinnern.

Für „meine“ Glasglocke jedenfalls ist es gerade entscheidend, dass sie durchsichtig ist. Für mich symbolisiert sie keine Isolierung, kein Abgeschnittensein, sondern sie ist ein Schutzraum, aus dem heraus ich entspannt die Welt betrachten kann und sie mich auch sehen kann, es also eine Verbindung in beide Richtungen gibt, ohne dass die Welt aber zu mir hereindringen kann. Ich selbst könnte jederzeit hinaus, wenn ich müsste oder wollte, aber zu mir herein gelangt man nicht so leicht. Ich kann mich in der Welt bewegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Und das Gute dabei ist: Dadurch, dass meine Schutzhülle durchsichtig ist, wird sie von den anderen nicht so schnell bemerkt, ich bin also nicht gleich auf den ersten Blick als Sonderling, als Ab-Sonderling zu erkennen, als eine, die nicht so wirklich dazugehören möchte. Ich kann für mich bleiben, ohne die anderen vor den Kopf zu stoßen. Wenn ich mich in der Glasglocke durch die Welt bewege (was, wie ich erstaunt feststelle, schon lange nicht mehr der Fall gewesen ist), dann fühle ich mich der Welt gegenüber freundlich.

Und darin besteht auch die Veränderung. Es fällt mir nicht immer leicht, es gelingt auch nicht immer perfekt, aber die Übergänge sind fließender und durchlässiger.

Wir sind so unterschiedlich, was sich gerade in diesen beiden letzten Briefen wieder sehr deutlich zeigt, und dann kommen wir doch überraschend manchmal zusammen, wenn auch vielleicht aus verschiedenen Richtungen. Jetzt z.B. bei der Öffnung. In diesem Sinne, im Herausarbeiten der Unterschiede und Gemeinsamkeiten, finde ich das Vergleichen eine tolle Sache.

Das ist eine interessanter Gedanke. Die Bezugnahme, d.h. die Bindung im Negativen. Das Negative möchte man loswerden, indem man sich zum Beispiel wehrt, ganz konkret, einen Angreifer abwehrt. Ich wechsle mit meinen Gedanken zu menschlichen Beziehungen, von denen klar ist, dass eine heftige Ablehnung keineswegs die Bindung auflöst, sondern sie im Gegenteil verstärkt. Allerdings kann ich mir zu Deiner Formulierung, „zu seiner Seite, seinem eigenen Befinden zurückkehren“ nichts vorstellen. Da müßte ja dann noch etwas Anderes, Besseres im Befinden sein. Das kann ich auf mich nicht gut anwenden, weil das Befinden ist eben die Angst oder vielleicht eine unangenehme Leere. Aber wenn ich den Vergleich zu Beziehungen ziehe, dann scheint mir geeigneter für mich, mich etwas Anderem zuzuwenden. Eine positive Aufmerksamkeit auf andere Gedanken oder Bilder. Dadurch verblaßt das Gewicht der Angst. Blödes Bild. Ein Gewicht verblaßt nicht. Die Angst wird ähnlich neutral empfunden wie ein Mensch, von dessen belastendem Einfluß man sich gelöst hat. So kommt es dem, was ich meine, schon näher.

„Da müßte ja dann noch etwas Anderes, Besseres im Befinden sein.“ Ja, natürlich. Deshalb nerven mich die anderen ja, weil sie mich in meinem schönen Alleinsein stören. Mein Befinden ist oft, dass ich in Ruhe gelassen werden möchte – aber die Welt lässt einen nur selten in Ruhe. :-) Umso kostbarer sind die Momente, in denen ich mich wirklich ganz zurückziehen kann. (Was natürlich sehr oft vorkommt, weil ich mir diese Momente schaffe.) Ich nehme an, dass wir uns hier grundlegend unterscheiden. So grundlegend, dass ich mal wieder überhaupt nicht darauf gekommen bin, dass man das, was ich geschrieben habe, auch anders verstehen könnte, als ich es gemeint hatte. Kein Wunder, dass es dir wie ein Geheimnis vorgekommen ist. Wieder mal ein blinder Fleck!

Vor Kurzem fragte mich eine Gesprächsteilnehmerin aus einem Forum, was ich davon hielte, mich anstelle von in allen Hinsichten normal, mittelmäßig und nichts Besonderem als einzigartig anzusehen. Dazu hatte ich den Einfall, dass ich damit dem Kreislauf des Vergleichens endlich entkommen würde. Alle Menschen sind einander ähnlich und jeder Mensch ist einzigartig. Das ist eine Tatsache.

So, ist es das? Vor einiger Zeit hätte ich dir noch zugestimmt. Warum zögere ich jetzt? Ich weiß es nicht. Nach meinem Gefühl liegt darin doch wieder ein verstecktes Vergleichen. Warum muss ich mich zu etwas Einzigartigem machen? Kann ich nicht einfach sein, ganz ohne weitere Attribute?

Damit möchte ich sagen: Was für andere Menschen eventuell ohne Belang ist, manche wissen vielleicht noch nicht einmal, worüber Du sprichst, das ist für Dich von Belang. Es gehört zu Deiner Einzigartigkeit dazu. Ich glaube allerdings, dass für Dich das Vergleichen eine Denkfigur unter anderen ist, das heißt, sie spielt keine entscheidende Rolle und vor allen Dingen ist das Vergleichen weitgehend neutral. Vergleiche zu ziehen bedeutet für mich dagegen sofort auch eine starke Bewertung. „Besser“, „schlechter“, „richtiger“, „falscher“, „liebenswerter“, „unliebenswerter“. Das wiederum ist mit dem unangenehmen Gefühl des Neides verbunden, der mir -leider- vertraut ist. Das ist wohl der entscheidende Punkt. Ja, Dein „belanglose Schritte“ hast Du in einen kurzen Klammersatz gesetzt, und ich thematisiere das Vergleichen. Das zeigt sehr schön den Unterschied zwischen uns.

Hm … vergleiche ich mich? Kommt mir im ersten Moment fremd vor. Ich bin wieder mal einigermaßen verblüfft, weil das ein blinder Fleck bei mir zu sein scheint, ich aber nicht weiß, ob ich da blind bin, weil ich etwas an mir nicht wahrhaben will, oder ob es tatsächlich keine Rolle für mich spielt. Wahrscheinlich hast du recht mit deiner Vermutung, dass bei mir das Vergleichen, wenn es denn stattfindet, eher neutral ist. Ich sehe natürlich Unterschiede zwischen mir und anderen, aber das sind dann halt einfach Unterschiede, keine Einteilungen in besser oder schlechter etc. Oder wenn doch, dann mal so, mal so, also mal finde ich mich „besser“, mal „schlechter“. Das hat für mich aber keine weitere Bedeutung, das ist einfach eine Feststellung oder ein Wahrnehmen. Wohingegen ich vermute, dass du dich meistens auf der negativen Seite verortest und dich dann schlecht fühlst.

Während ich über dieses Thema nachdachte, habe ich versucht Sachen zu finden, bei denen ich tatsächlich neidisch werden könnte oder geworden bin. Aber stattdessen drängt sich immer wieder das Gefühl in den Vordergrund, wie unglaublich privilegiert ich bin, in vielerlei Hinsicht – materiell, sozial, emotional … Worauf sollte ich neidisch sein? Auf anderes? Auf noch mehr (von was auch immer)? Oft vor dem Einschlafen, während ich mich in meine Bettdecke einkuschle, durchströmt mich ein großes Gefühl der Dankbarkeit: dass ich ein Bett habe und ein Dach über dem Kopf und dass ich keine Angst haben muss, während der Nacht daraus vertrieben zu werden. Dieses Gefühl hatte ich auch schon, bevor ich bei der Bahnhofsmission angefangen habe, aber seitdem noch verstärkt. Daneben werden alle etwaigen Mängel und Nöte ziemlich klein. Vieles davon sind ja auch nur „Befindlichkeiten“, die weder ich noch das Universum allzu wichtig nehmen müssen. (Ich habe fast ein schlechtes Gewissen das zu schreiben, weil ich vermute, dass deine emotionale Not, deine Einsamkeit, von solchen Gedanken nicht im geringsten berührt werden, sie dir im Gegenteil völlig daneben vorkommen. Aber so ist das nun mal bei mir.)

B.

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