Brief 199 | Kontingenz

Liebe B.,

Ich habe für mich entschieden, dass ich nicht länger versuche diese beiden Begriffe zu verstehen. Wenn es gilt, im Zen alle Konzepte loszulassen, dann fange ich mal bei diesem Konzept an. :-) Aber bevor ich damit ernst mache, will ich doch noch schnell sagen, dass ich nicht glaube, dass das Absolute (im buddhistischen Verständnis) irgendetwas Unsichtbares ist. Im Gegenteil, das ist ja gerade der Witz, dass das Absolute und das Relative im Grunde identisch sind. Aber ich lege das Thema jetzt erst einmal ad acta. Ich könnte noch seitenlang darüber schreiben, was angesichts meines Fast-Nichts-Verständnisses völlig absurd wäre.

Gut, ich lege das Thema dann in eine lichtblaue Mappe, wo es endgültig ruhen oder aber auch Wurzeln schlagen darf.  

 

Kontingenz

Ja, Kontingenz ist ein Begriff, den ich auch sehr mag, auf den ich in diesem Zusammenhang aber merkwürdigerweise gar nicht gekommen bin; dabei passt er so gut. Da ich oft über die Etymologie gehe, habe ich mir eben den Wikipedia-Artikel aufgerufen und bin da gleich zu Anfang auf die philosophische Definition gestoßen, wonach man unter Kontingenz „die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden“ versteht. Weiter habe ich gar nicht gelesen, weil ich das so schön fand. Für mich bedeutet das keine willkürliche Beliebigkeit, sondern die Freiheit und Offenheit, dass vielleicht nicht alles, aber doch vieles auch anders sein könnte.

Ich habe den Begriff, soweit ich mich erinnere, das allererste Mal in einer der Autobiographien von S. de Beauvoir gelesen. Sie erzählt, dass ihr Lebensgefährte Sartre ihrer beider Beziehung eine „notwendige“ genannt hat, während alle anderen Beziehungen, seine zu anderen Frauen dürften gemeint sein, „kontingente“ Beziehungen seien. Obwohl ich später dann Sartres „dickes“ Werk mit dem Titel „Das Sein und das Nichts“ gründlich durchgearbeitet habe, erinnere ich nicht, ob das Wort „kontingent“ in seiner Philosophie überhaupt eine Rolle spielt. Das ist jetzt aber auch egal, weil ich es schöner finde, über die „Kontingenz“ noch ein wenig nachzusinnen.

Mir fällt zuerst „Zufall“ ein, allerdings in Deiner Abwandlung, die mich immer angesprochen hat. „Zufall“ trägt die Beliebigkeit in sich, wie ich finde, es ist alles gleichgültig, es geschieht oder geschieht nicht. Du jedoch hast das ungebräuchliche Verb „zufallen“ ins Licht gerückt, das die Aufmerksamkeit von der willkürlichen Beliebigkeit abzieht. Die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden bedeutet auf der anderen Seite die Realisierung von Möglichkeiten. „Kontingent“ ist etwas, das möglich ist.

Ich veranschauliche es mir. Bei der Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden denke ich mir alles, was besteht, weg und dann ist da ein Loch, ein Nichts. Das aber kommt mir widersinnig vor, denn um mich herum gibt es ja all die Dinge und Tatsachen, die bestehen. Bei der Realisierung von Möglichkeiten dagegen bleibt alles Bestehende vor meinem inneren Auge bestehen, aber außerhalb dessen sehe ich einen weiten, großen Bereich des Möglichen, der diffus, ungegenständlich in einem lichten Grau erscheint. Ich glaube, daraus resultiert die Offenheit und Freiheit, die ich ebenso wie Du auch wahrnehme. Aus der unendlichen Vielfalt im Horizont der Möglichkeiten haben sich einige realisiert, andere nicht. Das gilt für die große Welt als auch für die kleine Welt eines jeden Menschen.     

Unter der Annahme, notwendig sei, was einem Menschen „zufällt“, notwendig sei auch die Antwort auf das, was einem Menschen widerfährt und in der Folge dann wieder die Notwendigkeit der daraus resultierenden Situation, sehe ich das Bild eines um den Körper gebundenen Korsetts, das wenig Raum zum Atmen lässt. Alles, was ist, muß genau so sein, wie es ist, denn es gibt jeweils nur eine einzige Möglichkeit – diejenige nämlich, die notwendig und deswegen verwirklicht ist.  

Am besten gefällt mir der Kontingenz-Gedanke allerdings im Hinblick auf mein eigenes Handeln. Sicher, nach dem Tod meines Mannes standen mir nicht alle Möglichkeiten zur Verfügung. „Alle“ ist ohnehin eine überhaupt nicht mehr denkbare Anzahl. Die Größe des Pools, aus dem man wählt, bestimmt sich durch den eigenen Horizont, oder nicht? Mit dem Campingbus durch die USA zu fahren, davon habe ich gehört und gelesen, insofern liegt dieses Unternehmen nicht außerhalb meines Horizontes. Ich weiß, dass man so etwas tun kann. Die Grenze des räumlichen Pools war aber viel enger gesteckt, innerhalb der Stadt, in der ich gewohnt habe und immer noch wohne. Nur erscheinen unter dem Aspekt des kontingenten Handelns die Realitäten, die ich geschaffen habe, bei weitem nicht mehr so zwingend, als sähe ich sie durch die Brille der einspurigen Notwendigkeit. Es öffnet sich der Raum für die Vielzahl von Möglichkeiten, aus denen ich am Ende jeweils eine in die Tat umgesetzt habe. Wobei man sich das natürlich als eine unablässige Folge von kleinen Handlungen vorstellen muß.

Und nicht zuletzt sehe ich meine Situation, so wie sie gegenwärtig ist, auch geöffneter, nicht nur für eine längerfristige, sondern vor allem auch für die kurzfristige Zukunft (morgen und übermorgen usf.). Es gibt keinen Plan der Notwendigkeiten, weder was mich selbst, d.h. meine Handlungen betrifft, noch für das, was mir zufällt.

 

„Glimmer“  

Bitte entschuldige den etwas despektierlichen Vergleich, der mir beim Lesen kam, aber ich musste an Messies denken, die nicht, weil sie unordentlich sind, sondern angeblich auch aus diesem Wunsch von Kontrolle heraus nichts wegwerfen können – es könnte ja noch irgendwann nützlich oder wichtig werden, und man muss ja auf alles vorbereitet sein, sonst passiert eine Katastrophe. So ähnlich stellte ich es mir gerade in deinem Kopf vor: Eine Unmenge von Erinnerungen an negative Erlebnisse – alte, uralte, neuere … alle wichtig, alle müssen aufbewahrt, ja mehr noch, müssen ständig präsent sein …

Ach nein, es gibt nichts zu entschuldigen, denn Deinen Vergleich finde ich wirklich gelungen. Ich denke sofort an meinen Entleerungs- und Wegwerffimmel, der genau das Gegenteil von messiehaft ist. Ich habe von 2 Leuten gehört, die ihre Handy- und Laptopsammlung auf einen externen Speicher haben übertragen müssen, weil die Geräte selbst keinen Platz mehr boten. Aber mein Handy und mein Laptop sind leer, weil ich das Meiste gleich wieder lösche (manchmal zu rasch). Das ist also eine interessante Beobachtung: Das Wegtun im gegenständlichen Bereich und auf der anderen Seite das Ansammeln im Kopf.

Aber erfüllen diese Erinnerungen wirklich den Zweck, den du ihnen zuschreibst? Es ist doch mehr als unwahrscheinlich, dass sich eine unangenehme Situation auf genau dieselbe Weise wiederholen wird wie beim ersten Mal. In der dazwischenliegenden Zeit dreht die Welt sich weiter, weder die Umstände noch vor allem du selbst sind morgen dieselben wie am Tag zuvor. Und es kommt mir auch kontraproduktiv vor, zum Schutz vor der Wiederholung eines unangenehmen Ereignisses mir genau dieses Ereignis immer wieder vorzustellen. Damit zementiert man doch nur die Bahnen, die dafür sorgen, dass es beim nächsten Mal womöglich tatsächlich wieder fast genauso ablaufen wird. Viel sinnvoller wäre es doch mich daran zu erinnern, welche von meinen Reaktionen in dieser Situation gut gewesen ist, oder mir vorzustellen, was ich beim nächsten Mal anders machen würde. Das heißt, wenn man dieses Ereignis schon nicht loslassen kann (was man ja gar nicht immer in der Gewalt hat), dann es doch wenigstens weiterentwickeln.

Nachdem ich mich vorsichtshalber noch einmal im Netz vergewissert habe, was denn unter einem „Messie“ genau verstanden wird, möchte ich so umstandslos meinen Kopf doch lieber nicht dafür hergeben. Dennoch bin ich verblüfft, weil ich, wie mir scheint, diese beachtenswerte Gegenläufigkeit nie bedacht habe, ist sie mir überhaupt bewusst gewesen? Ich glaube nicht. Die wöchentliche Entleerung meiner Geräte und auch der Drang, in meiner Wohnung immer wieder Leere zu schaffen bzw. Dinge, die ich meine nicht mehr zu benötigen, wegzuwerfen oder wegzugeben, steht wirklich in starkem Kontrast zu meiner Aufbewahrungsfähigkeit in meinem Kopf bzw. Gedächtnis. Es könnte tatsächlich um eine ersatzweise oder symbolische Handlung gehen, dem Wunsch mich von Altlasten –und sei es denen vom Vortage- zu entledigen.

Da Du nun auf die Nützlich- bzw. Unnützlichkeit und somit auf die Unterscheidung in „angenehm“ und „unangenehm“ eingehst, schreibe ich Dir über eine neuere Erkenntnis von mir, die generell so neu nicht ist. Von Dir hatte ich vor langer Zeit den Ausdruck „trigger“ das erste Mal gehört. Hm, wahrscheinlich war er mir auch schon zuvor einmal über den Weg gelaufen, denn ich wusste, was Du meinst. Inzwischen weiß ich, dass es in der Psychologie ein Fachbegriff ist. Erst sein Kurzem weiß ich nun auch, dass es einen Gegenbegriff dazu gibt, ebenfalls ein Fachwort, nämlich das des „glimmer“. Damit bezeichnet man den Vorgang, dass kleine, nebensächliche und als schön empfundene Momente unbeabsichtigt frühere als schön erlebte Ereignisse plötzlich aktualisieren können. Da ich selber nicht mehr besonders motiviert bin, anstrengende Gedankenarbeit um Probleme vorzunehmen oder anders gesagt, herumzuproblematisieren, habe ich die „glimmer“-Idee freudig aufgegriffen. Die Aufmerksamkeit auf die unscheinbaren schönen Momente richten, ohne sie weiter zu bedenken und einfach nur unter der Erwartung, dass sie unbemerkt weiterwirken und sich zukünftig aktualisieren, wenn ich Ähnliches erfahre. Das klingt vermutlich etwas einfältig oder mechanistisch … gerade als ich diesem Eindruck widersprechen will, denke ich mir, dass es mechanistisch ist, mich aber im Moment nicht stört. Ich übe mein Gehirn darin, das Erfreuliche und Schöne zur Kenntnis zu nehmen und abzuspeichern, denn es ist völlig richtig, wie Du sagst, dass das Anhäufen negativer Erfahrungen, aus lauter Gewohnheit, „zementiert“.

Zur Erläuterung schiebe ich hinterher, dass ich mich nicht plötzlich dem „Denke positiv“ oder „sei positiv“-Konzept zugewandt habe (neulich las ich den Ausdruck „toxische Positivität“ als eine Diagnose der Zeit unserer Gesellschaft, Stichwort ist z.B. die „Selbstoptimierung") und somit bestrebt bin, das Unerfreuliche und Belastende in sein Gegenteil zu verkehren. Es ist nur der Versuch und mein Bemühen, das Schöne für ebenso wahrnehmens- und aufbewahrungswert zu halten, wie ich mit dem Negativen schon lange –unbewußt verfahre.

F.

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