Brief 198 | Mut zur Lücke :-)

Liebe F.,

Ad acta

Ich komme mit den Begriffen des „Absoluten“ und des „Relativen“ nicht klar, aber wenn Du es so wie oben beschreibst, glaube ich die Unterscheidung zu verstehen und was damit gemeint ist. Das Eine ist die Welt des Unsichtbaren, die wir nur über ein physikalisches und mathematisches Wissen erschließen können und das Andere ist die Welt, wie sie uns erscheint. Ob ich damit das „Absolute“ und das „Relative“ wirklich richtig erfasst habe, steht auf einem anderen Blatt.

Ich habe für mich entschieden, dass ich nicht länger versuche diese beiden Begriffe zu verstehen. Wenn es gilt, im Zen alle Konzepte loszulassen, dann fange ich mal bei diesem Konzept an. :-) Aber bevor ich damit ernst mache, will ich doch noch schnell sagen, dass ich nicht glaube, dass das Absolute (im buddhistischen Verständnis) irgendetwas Unsichtbares ist. Im Gegenteil, das ist ja gerade der Witz, dass das Absolute und das Relative im Grunde identisch sind. Aber ich lege das Thema jetzt erst einmal ad acta. Ich könnte noch seitenlang darüber schreiben, was angesichts meines Fast-Nichts-Verständnisses völlig absurd wäre.

 

Gelebte Weisheit

Vor Kurzem habe ich an einem Sonntag für ungefähr 3 Stunden mit 2 anderen Leuten –im Internet- Schach gespielt. Es hat sich so ergeben, ich hatte keinen Plan vorher –und erst nachdem das Spiel dann zuende war, wurde mir klar, dass ich tatsächlich mehrmals für einige Zeit so gefesselt an die Problemlösung war, dass ich nichts anderes mehr im Kopf hatte als die Stellung der Figuren und wie man sie hin- und herschieben könnte. Wenn mir also etwas Spaß macht, dann bin ich achtsam und konzentriert, und macht mir etwas keinen Spaß, dann bin ich allüberall und nur nicht bei dem, was ich gerade tue.

Absichtslose Hingabe – schön! :-) Wobei man natürlich auch ganz bei einer Sache sein kann, die einem keinen Spaß macht, indem man nämlich die ganze Zeit, während man mit ihr beschäftigt ist, vor sich hin wütet oder grummelt, wie blöd oder unangenehm oder langweilig das doch ist, was man da tun muss, und jeder Handgriff ist ein großes Ärgernis … Der Unterschied wäre dann vielleicht, dass man bei einer angenehmen Sache sich selbst vergisst, während man bei der unangenehmen Sache sich selbst gerade nicht vergessen kann, sondern unentwegt mit der eigenen Abwehr kämpft.

Mein Bruder fragte neulich einmal, wie unsere Mutter ihr Leben wohl gesehen habe und fügte gleich anschließend hinzu, dass sie eine solche Frage sicher nicht hätte beantworten können, weil sie einfach lebenspraktisch ihren Alltag bewältigt hätte. Und eben denke ich mir dazu, dass zum Beispiel ZaZen oder auch andere spirituelle Techniken und die sie begründenden Weltentwürfe für die Leute da sind, die viel über die Welt und das Leben nachdenken. Sie müssen vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Das ist reichlich plakativ und auch simplifizierend, denn natürlich bleibt die Reflexion im Hintergrund und geht nicht verloren, aber der wesentliche Aspekt scheint mir dennoch erfasst.

Mir fällt dazu als Gegenrede gleich ein, dass viele spirituelle Weltsichten (als ob ich viele kennen würde …) die Leute gerade nicht vom Kopf auf die Füße stellen, sondern sie eher noch weiter vom Alltag entfernen – Stichwort „Esoterik“. Das gibt es übrigens auch im Zen, um das nicht zu verschweigen.

Und ich bin mir auch nicht so sicher, ob nicht auch Menschen, die vollauf mit der Bewältigung ihres vielleicht sehr anstrengenden Alltags beschäftigt sind, sich nicht auch Fragen nach dem oder ihrem Leben stellen, nur eben in einem anderen Rahmen, nicht so theoretisch, sondern eben mehr lebenspraktisch, wie du es nennst. Es kommt immer wieder vor, dass mich Menschen mit einer tiefsinnigen Bemerkung über das Leben überraschen, bei denen ich gar nicht damit gerechnet hätte. Das ist dann kein abgehobenes Theoretisieren, sondern gelebte Weisheit, so kommt es mir jedenfalls vor.

 

Kontingenz

Du hattest es bemerkt, daß ich in meinem letzten Brief am Ende immer weniger wusste, was ich nun eigentlich gemeint hatte mit dem Aufgeben des Suchens nach dem „roten Faden“. Und als ich nun die Überschrift las, dachte ich sofort „ja, das ist es, was ich meinte und meine“. Das ist der Kern dessen, was sich in meiner Sicht auf mein Leben verändert hat. Daß ich in den zufallsbedingten Situationen dann nicht beliebig, sondern aus inneren Notwendigkeiten mich für dies oder jenes zu tun entschieden habe, fügt sich in den Rahmen der Zufälle und ach, ein schönes Wort, des Kontingenten ein.

Ja, Kontingenz ist ein Begriff, den ich auch sehr mag, auf den ich in diesem Zusammenhang aber merkwürdigerweise gar nicht gekommen bin; dabei passt er so gut. Da ich oft über die Etymologie gehe, habe ich mir eben den Wikipedia-Artikel aufgerufen und bin da gleich zu Anfang auf die philosophische Definition gestoßen, wonach man unter Kontingenz „die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden“ versteht. Weiter habe ich gar nicht gelesen, weil ich das so schön fand. Für mich bedeutet das keine willkürliche Beliebigkeit, sondern die Freiheit und Offenheit, dass vielleicht nicht alles, aber doch vieles auch anders sein könnte.

 

Mut zur Lücke :-)

Die Vergesslichkeit ist ein spannender Punkt, der mich vor mehreren Wochen angefangen hat zu beschäftigen. Schön, dass Du mich wieder daran erinnert hast, denn ich hatte doch tatsächlich vergessen, mich weiter mit der Vergesslichkeit zu befassen.

:-)))

„Ich darf vergessen“ ist der Schlüsselsatz. Wenn ich etwas vergesse, passiert überhaupt gar nichts. Ich meine damit nicht, aufzupassen, dass ich den Wohnungstürschlüssel immer bei mir habe, und ich meine damit auch nicht, einen Unterrichtstermin zu vergessen oder den Abgabetermin für meinen Brief, sondern ich meine damit genau das, wie Du es oben ausdrückst irgendetwas „Blödes“, irgendetwas Unangenehmes vergessen. Welche Funktion hat es, ergibt es irgendeinen Sinn, solche unangenehmen Zustände, Erlebnisse aufzubewahren, nicht vergessen zu dürfen? Legt man einmal die Hand auf eine glühend heiße Herdplatte, ein klassisches Beispiel für das Lernen aus Erfahrung, dann wird man es zukünftig wahrscheinlich nie wieder tun. Das Gehirn speichert dieses Erlebnis ab. Was aber macht es für einen Sinn, das unangenehme Erlebnis von vorgestern abzuspeichern und mitzunehmen in den heutigen Tag? Evolutionsbiologisch sei es vorteilhaft, wenn das Gehirn sich die negativen Erfahrungen leichter, dauerhafter und stärker einpräge als die positiven Erfahrungen, las ich. Die heiße Herdplatte könnte man hier einordnen.

Ich verstehe nicht – wieso „vergessen dürfen“? Wer oder was sollte dir denn das Vergessen verbieten wollen? Wessen Stimme spricht da in dir? Mal abgesehen davon, dass man sowieso nicht aktiv vergessen kann – vergessen kann man nicht machen, es kann sich nur ereignen. Aber so, wie du es schreibst, liest es sich für mich, als ob du dich absichtlich anstrengst gewisse (vor allem unangenehme) Sachen nicht zu vergessen? Aber wozu? – Du erklärst es im nächsten Abschnitt:

Meine Überlegung geht in die Richtung von „Kontrolle“ als Funktion dieses Phänomens. Vergesse ich das „Blöde“ vom Vortag, von vorgestern, dann könnte es mich demnächst einmal überraschen, überrollen? Bewahre ich es bewusst auf, dann kann ich nicht überrascht werden. Es kommt darauf an, was „real geschieht“ und nicht darauf, was ich zuvor oder danach „darüber denke“. Ja, besonders was das „davor“ angeht, scheint es einen ähnlichen Zweck zu erfüllen wie das Aufbewahren, es ist eine Form der Kontrolle, des Vorbereitens auf das, was real geschehen wird.

Bitte entschuldige den etwas despektierlichen Vergleich, der mir beim Lesen kam, aber ich musste an Messies denken, die nicht, weil sie unordentlich sind, sondern angeblich auch aus diesem Wunsch von Kontrolle heraus nichts wegwerfen können – es könnte ja noch irgendwann nützlich oder wichtig werden, und man muss ja auf alles vorbereitet sein, sonst passiert eine Katastrophe. So ähnlich stellte ich es mir gerade in deinem Kopf vor: Eine Unmenge von Erinnerungen an negative Erlebnisse – alte, uralte, neuere … alle wichtig, alle müssen aufbewahrt, ja mehr noch, müssen ständig präsent sein …

Aber erfüllen diese Erinnerungen wirklich den Zweck, den du ihnen zuschreibst? Es ist doch mehr als unwahrscheinlich, dass sich eine unangenehme Situation auf genau dieselbe Weise wiederholen wird wie beim ersten Mal. In der dazwischenliegenden Zeit dreht die Welt sich weiter, weder die Umstände noch vor allem du selbst sind morgen dieselben wie am Tag zuvor. Und es kommt mir auch kontraproduktiv vor, zum Schutz vor der Wiederholung eines unangenehmen Ereignisses mir genau dieses Ereignis immer wieder vorzustellen. Damit zementiert man doch nur die Bahnen, die dafür sorgen, dass es beim nächsten Mal womöglich tatsächlich wieder fast genauso ablaufen wird. Viel sinnvoller wäre es doch mich daran zu erinnern, welche von meinen Reaktionen in dieser Situation gut gewesen ist, oder mir vorzustellen, was ich beim nächsten Mal anders machen würde. Das heißt, wenn man dieses Ereignis schon nicht loslassen kann (was man ja gar nicht immer in der Gewalt hat), dann es doch wenigstens weiterentwickeln.

Du hast geschrieben, der gestrige Tag sei am Folgetag verschwunden, es sei denn usw. Darauf kommt es mir an, wenn ich die „gnädige Vergesslichkeit“ sage. Und da mir das „Dürfen“ wichtig ist, scheint die  positive Perspektive entscheidend. Mit der positiven Perspektive meine ich das befreiende Moment. Heute ist ein neuer, ein anderer Tag, an dem Neues, Anderes sich um mich herum und in mir ereignen kann. Dir ist es in die Wiege gelegt, die Vergesslichkeit; von mir kann ich es gar nicht sagen, weil ich noch niemals darüber nachgedacht hatte. Ich fand normal, wie es für mich war. Ich habe auch tatsächlich vergessen, was eigentlich der Anlaß war, mich mit dem angenehmen Vergessen zu befassen – achso, klar, mich haben die Schatten des jeweils gestrigen Tages einfach gestört, ich habe sie als unangenehm und überflüssig mich belästigend empfunden. Zum Schluß fällt mir ein zu fragen, ob das „Verschwinden“, wie du es nennst, wohl Lücken macht? :-)

Ja klar macht es Lücken – Gottseidank! :-)))

B.

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