Brief 197 | Die gnädige Vergesslichkeit

Liebe B.,

Das Mysterium der „Verschränkung“

Ich beginne aber mit einem Bereich, der mir gedanklich vertrauter ist, nämlich mit einer naturwissenschaftlichen Sichtweise auf die Welt. Auf einer ganz elementaren Ebene besteht alles, einschließlich unserer selbst, aus Protonen und Elektronen sowie ganz viel leerem Raum drumherum. Auf dieser elementaren Ebene ist also alles gleich. Auf der phänomenalen Ebene dagegen gibt es die ausdifferenzierte Dingwelt. Diese beiden „Welten“ existieren aber nicht getrennt voneinander, sondern sind immer gleichzeitig da. Ich bin ein von anderen Dingen unterschiedenes Ding UND ich bestehe wie alle anderen Dinge aus Elektronen und Protonen und ganz viel leerem Raum.

Ich komme mit den Begriffen des „Absoluten“ und des „Relativen“ nicht klar, aber wenn Du es so wie oben beschreibst, glaube ich die Unterscheidung zu verstehen und was damit gemeint ist. Das Eine ist die Welt des Unsichtbaren, die wir nur über ein physikalisches und mathematisches Wissen erschließen können und das Andere ist die Welt, wie sie uns erscheint. Ob ich damit das „Absolute“ und das „Relative“ wirklich richtig erfasst habe, steht auf einem anderen Blatt.

Als ein Mensch bin ich für eine bestimmte Zeit aus Protonen und Elektronen zusammengesetzt und so wie ich als dieses Einzelding irgendwann entstanden bin, werde ich irgendwann wieder in die Protonen und Elektronen zerfallen. Gefällt mir dieser Gedanke? Ich weiß es nicht zu sagen. Ich nehme ihn erst einmal so hin und bin froh, Dich ansatzweise verstanden zu haben.

In buddhistischer Terminologie könnte man vielleicht sagen: Nichts hat eine feste, wesenhafte Natur, alles ist nur ein endloses Wechselspiel aus gegenseitig bedingtem Entstehen und Vergehen. Gleichzeitig gibt es aber die feste Welt der zehntausend Dinge. (Ich mag diesen Ausdruck der „zehntausend Dinge“ sehr!) Oder: Auf der absoluten Ebene gibt es nur einen einzigen Moment, aber auf der relativen Ebene leben wir in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. BEIDES ist richtig.

Vielleicht in einem Bild, um es mir zu veranschaulichen: Das Blatt, das von einem Baum fällt, irgendwann zu Erde wird, aus der später dann wieder ein Baum entsteht, wäre das gegenseitig bedingte „Entstehen“ und „Vergehen“. Hm, das ist wahrscheinlich viel zu sehr auf der Erscheinungsebene gemalt, denn eigentlich geht es ja um die unsichtbare Welt bzw. um die Verschränktheit der beiden Ebenen. Auch bei der Übertragung in die zeitliche Dimension bekomme ich Schwierigkeiten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist das, wie wir die Welt wahrnehmen, wie sie uns erscheint, aber ich würde jetzt nicht den „Moment“ für das Absolute ansehen, sondern die Zeitlosigkeit, die Aufhebung der zeitlichen Dimension. Achso, vielleicht meint der „Moment“ aber genau dies. Vielleicht könnte ich stattdessen sagen, auf der absoluten Ebene gibt es keine Zeit.

[…] Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass diese Vorstellung, dass wir auf einer bestimmten Ebene alle gleich sind (womit ich jetzt nicht die atomare Ebene meine, sondern mehr, dass wir alle Menschen mit denselben grundlegenden Bedürfnissen sind), langsam, aber stetig in mein Bewusstsein tröpfelt und viel verändert. Vielleicht kommt es daher, was ich in meiner Mail neulich schrieb, dass ich seit einiger Zeit das Gefühl habe, nicht mehr so viel Zeit für mich selbst zu brauchen, weil es gar nicht MEINE Zeit ist.

Ich habe versucht, über ein Bild die Idee zumindest emotional für mich fassbar zu machen, aber ich sehe nichts. Mir fällt nur auf, dass ich unbemerkt immer wieder in ein „entweder-oder“ gerate, so als müsste ich mich entscheiden, die Welt  s o  oder  s o  zu sehen. Das Entscheidende muß ich mir beständig neu bewusst machen: Wie Du eingangs geschrieben hast, sind es 2 Welten, die beide gleichzeitig existieren. Und wie die beiden Welten nun aber gleichzeitig existieren, das kann ich –noch- nicht sehen. Dieses „sehen“ meine ich nicht metaphorisch, sondern wörtlich. Ich brauche ein Bild für die Verschränktheit. Schwierigschwierig – das alles :-))).

 

Vergiss die Achtsamkeit! :-)

Mein Zenlehrer sagt dazu: Vergiss die Achtsamkeit! :-))) Wenn du versuchst, etwas ganz bewusst mit voller Aufmerksamkeit zu tun, dann bist du nicht bei dem Tun, sondern bei der Aufmerksamkeit. „Ich bin jetzt mal gaaanz aufmerksam!“ * schulterklopf *

Das ist natürlich eine von diesen wunderbaren zendialektischen Provokationen, von denen es so viele gibt. Und wie so oft ist es eine Verkürzung, die man nicht so wörtlich nehmen darf – und dann wieder doch … Natürlich kann es nicht schaden, die vielen Kleinigkeiten des Alltags mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu verrichten, schließlich ist DAS gerade mein Leben. Außerdem kann es auch Spaß machen, zumindest erlebe ich das oft so, wenn man sich für eine Weile ganz einer Sache hingibt, auf die man sonst keinen Gedanken verschwendet. Aber man sollte es damit auch nicht übertreiben (s.o.). Zen wurzelt zu einem Gutteil ja auch im Daoismus, und da gibt es das Prinzip des Wuwei, des Nicht-Tuns. Die Dinge nicht forcieren, sondern ihnen einfach ihren natürlichen Lauf lassen, auch dem eigenen Tun. Nicht schieben, sondern fließen lassen.

Vor Kurzem habe ich an einem Sonntag für ungefähr 3 Stunden mit 2 anderen Leuten –im Internet- Schach gespielt. Es hat sich so ergeben, ich hatte keinen Plan vorher –und erst nachdem das Spiel dann zuende war, wurde mir klar, dass ich tatsächlich mehrmals für einige Zeit so gefesselt an die Problemlösung war, dass ich nichts anderes mehr im Kopf hatte als die Stellung der Figuren und wie man sie hin- und herschieben könnte. Wenn mir also etwas Spaß macht, dann bin ich achtsam und konzentriert, und macht mir etwas keinen Spaß, dann bin ich allüberall und nur nicht bei dem, was ich gerade tue.

Mein Bruder fragte neulich einmal, wie unsere Mutter ihr Leben wohl gesehen habe und fügte gleich anschließend hinzu, dass sie eine solche Frage sicher nicht hätte beantworten können, weil sie einfach lebenspraktisch ihren Alltag bewältigt hätte. Und eben denke ich mir dazu, dass zum Beispiel ZaZen oder auch andere spirituelle Techniken und die sie begründenden Weltentwürfe für die Leute da sind, die viel über die Welt und das Leben nachdenken. Sie müssen vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Das ist reichlich plakativ und auch simplifizierend, denn natürlich bleibt die Reflexion im Hintergrund und geht nicht verloren, aber der wesentliche Aspekt scheint mir dennoch erfasst.   

Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich glaube nicht, dass ich durch das Meditieren im Alltag bewusster geworden bin. Meistens geht es mir so, wie du es beschrieben hast: Während ich etwas Routinehaftes tue, sind meine Gedanken ganz woanders. Ich habe mich andererseits schon immer leicht in eine Sache verlieren können und bin dann ganz bei dem, was ich tue, ohne viel nachzudenken. Das ist also nichts, was sich durch die Meditation entwickelt hat. Der Unterschied zu früher ist vielleicht der, dass es mir jetzt öfter bewusst wird, wenn ich nicht wirklich bei der Sache gewesen bin, aber meistens erst im Nachhinein. Das ist ja auch schon mal was …

Das widerspricht meiner These von oben! Nein, doch nicht, denn Du hast ein verstärktes Bewusstsein Deiner Abwesenheit – wenn auch oft nur rückblickend.

 

Der rote Faden des Zufalls

Als ich das las, kam ich ins Grübeln: Gibt es nun den roten Faden oder gibt es ihn nicht? Ich hatte ihn ja tendenziell als fiktiv dargestellt, aber ich denke, das ist wieder so eine von den Entweder-Oder-Fragen, die in ein Sowohl-als-auch münden. In unserem Leben ereignet sich ein Zufall nach dem anderen und wir kommen immer wieder an Weggabelungen; aber welchen Weg wir dann einschlagen, ist nicht rein zufällig, sondern ergibt sich aus unserer Vergangenheit, unserem Charakter, unseren Wünschen … die dann wiederum beeinflusst werden durch die eben getroffene Entscheidung, durch die Zufälle, die uns nun begegnen und immer so weiter und so weiter … Die Wirklichkeit ist halt komplex, das macht das Denken so mühsam! :-)

Du hattest es bemerkt, daß ich in meinem letzten Brief am Ende immer weniger wusste, was ich nun eigentlich gemeint hatte mit dem Aufgeben des Suchens nach dem „roten Faden“. Und als ich nun die Überschrift las, dachte ich sofort „ja, das ist es, was ich meinte und meine“. Das ist der Kern dessen, was sich in meiner Sicht auf mein Leben verändert hat. Daß ich in den zufallsbedingten Situationen dann nicht beliebig, sondern aus inneren Notwendigkeiten mich für dies oder jenes zu tun entschieden habe, fügt sich in den Rahmen der Zufälle und ach, ein schönes Wort, des Kontingenten ein.     

 

Die gnädige Vergesslichkeit

Gepriesen sei meine Vergesslichkeit! Wenn am Vortag nicht etwas sehr Blödes passiert ist, dann ist der Tag am nächsten Morgen einfach verschwunden bei mir. […]

Heute Morgen habe ich mich beobachtet und gemerkt, dass ich, als der Gedanke an einen (angenehmen) Termin am Abend auftauchte, ich automatisch gedacht habe: „Jetzt nicht“. Diesen Satz habe ich bei der Meditation kennengelernt. Das, woran ich da denke, passiert jetzt, in diesem Augenblick, ja überhaupt nicht, darüber muss ich jetzt auch gar nicht nachdenken. Wenn ich dafür etwas planen muss, dann muss ich mich damit natürlich beschäftigen, aber es geht mir hier um das endlose Kreisen der (angenehmen oder unangenehmen) Gedanken, das einen so gefangennehmen kann. Jetzt, in diesem Moment, ist dieser Termin einfach noch nicht da, warum sollte ich mich also jetzt in Gedanken damit beschäftigen? Wenn der Termin kommt, dann werde ich mich drum kümmern, aber dann halt nicht in Gedanken, sondern real, und das ist es doch, worauf es letztlich ankommt – das, was wirklich geschieht, nicht das, was ich darüber denke.

Die Vergesslichkeit ist ein spannender Punkt, der mich vor mehreren Wochen angefangen hat zu beschäftigen. Schön, dass Du mich wieder daran erinnert hast, denn ich hatte doch tatsächlich vergessen, mich weiter mit der Vergesslichkeit zu befassen. „Ich darf vergessen“ ist der Schlüsselsatz. Wenn ich etwas vergesse, passiert überhaupt gar nichts. Ich meine damit nicht, aufzupassen, dass ich den Wohnungstürschlüssel immer bei mir habe, und ich meine damit auch nicht, einen Unterrichtstermin zu vergessen oder den Abgabetermin für meinen Brief, sondern ich meine damit genau das, wie Du es oben ausdrückst irgendetwas „Blödes“, irgendetwas Unangenehmes vergessen. Welche Funktion hat es, ergibt es irgendeinen Sinn, solche unangenehmen Zustände, Erlebnisse aufzubewahren, nicht vergessen zu dürfen? Legt man einmal die Hand auf eine glühend heiße Herdplatte, ein klassisches Beispiel für das Lernen aus Erfahrung, dann wird man es zukünftig wahrscheinlich nie wieder tun. Das Gehirn speichert dieses Erlebnis ab. Was aber macht es für einen Sinn, das unangenehme Erlebnis von vorgestern abzuspeichern und mitzunehmen in den heutigen Tag? Evolutionsbiologisch sei es vorteilhaft, wenn das Gehirn sich die negativen Erfahrungen leichter, dauerhafter und stärker einpräge als die positiven Erfahrungen, las ich. Die heiße Herdplatte könnte man hier einordnen.

Meine Überlegung geht in die Richtung von „Kontrolle“ als Funktion dieses Phänomens. Vergesse ich das „Blöde“ vom Vortag, von vorgestern, dann könnte es mich demnächst einmal überraschen, überrollen? Bewahre ich es bewusst auf, dann kann ich nicht überrascht werden. Es kommt darauf an, was „real geschieht“ und nicht darauf, was ich zuvor oder danach „darüber denke“. Ja, besonders was das „davor“ angeht, scheint es einen ähnlichen Zweck zu erfüllen wie das Aufbewahren, es ist eine Form der Kontrolle, des Vorbereitens auf das, was real geschehen wird. Hier wäre auch Platz für das Spontansein, über das wir eine zeitlang gesprochen haben. Mit Letzterem drifte ich ab.

Du hast geschrieben, der gestrige Tag sei am Folgetag verschwunden, es sei denn usw. Darauf kommt es mir an, wenn ich die „gnädige Vergesslichkeit“ sage. Und da mir das „Dürfen“ wichtig ist, scheint die  positive Perspektive entscheidend. Mit der positiven Perspektive meine ich das befreiende Moment. Heute ist ein neuer, ein anderer Tag, an dem Neues, Anderes sich um mich herum und in mir ereignen kann. Dir ist es in die Wiege gelegt, die Vergesslichkeit; von mir kann ich es gar nicht sagen, weil ich noch niemals darüber nachgedacht hatte. Ich fand normal, wie es für mich war. Ich habe auch tatsächlich vergessen, was eigentlich der Anlaß war, mich mit dem angenehmen Vergessen zu befassen – achso, klar, mich haben die Schatten des jeweils gestrigen Tages einfach gestört, ich habe sie als unangenehm und überflüssig mich belästigend empfunden. Zum Schluß fällt mir ein zu fragen, ob das „Verschwinden“, wie du es nennst, wohl Lücken macht? :-)                   

F.

 

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