Liebe F.,
Fuzzy
Ich veranschauliche es mir. Bei der Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden denke ich mir alles, was besteht, weg und dann ist da ein Loch, ein Nichts. Das aber kommt mir widersinnig vor, denn um mich herum gibt es ja all die Dinge und Tatsachen, die bestehen. Bei der Realisierung von Möglichkeiten dagegen bleibt alles Bestehende vor meinem inneren Auge bestehen, aber außerhalb dessen sehe ich einen weiten, großen Bereich des Möglichen, der diffus, ungegenständlich in einem lichten Grau erscheint. Ich glaube, daraus resultiert die Offenheit und Freiheit, die ich ebenso wie Du auch wahrnehme. Aus der unendlichen Vielfalt im Horizont der Möglichkeiten haben sich einige realisiert, andere nicht. Das gilt für die große Welt als auch für die kleine Welt eines jeden Menschen.
Mir scheint, wir verstehen unter der Nicht-Notwendigkeit nicht ganz dasselbe, kommen aber zum selben Ergebnis, nämlich dem Raum der Möglichkeiten. Für dich bedeutet Nicht-Notwendigkeit zunächst, dass alles, was ist, genauso gut auch nicht sein könnte, während meine Gedanken eher in die Richtung gingen, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. Deshalb hatte mir die Definition spontan so gut gefallen. Es ist nicht zwingend notwendig, dass etwas so ist, wie es ist, und vor allem: dass etwas so und so kommen muss. Kausalität (die ich damit nicht leugnen will) ist nicht absolut, sondern gilt sozusagen nur näherungsweise, mit einem unscharfen, „lichtgrauen“ (schön!) Spielraum an den Rändern. Die Zukunft ist (zu einem gewissen Grade) offen, und auch in meinem Handeln bin ich (zu einem gewissen Grade) frei. Fuzzy-Logik! :-) (Keine Ahnung, ob der Begriff hier passt, fiel mir nur gerade so ein.)
Am besten gefällt mir der Kontingenz-Gedanke allerdings im Hinblick auf mein eigenes Handeln. Sicher, nach dem Tod meines Mannes standen mir nicht alle Möglichkeiten zur Verfügung. „Alle“ ist ohnehin eine überhaupt nicht mehr denkbare Anzahl. Die Größe des Pools, aus dem man wählt, bestimmt sich durch den eigenen Horizont, oder nicht? Mit dem Campingbus durch die USA zu fahren, davon habe ich gehört und gelesen, insofern liegt dieses Unternehmen nicht außerhalb meines Horizontes. Ich weiß, dass man so etwas tun kann. Die Grenze des räumlichen Pools war aber viel enger gesteckt, innerhalb der Stadt, in der ich gewohnt habe und immer noch wohne. Nur erscheinen unter dem Aspekt des kontingenten Handelns die Realitäten, die ich geschaffen habe, bei weitem nicht mehr so zwingend, als sähe ich sie durch die Brille der einspurigen Notwendigkeit. Es öffnet sich der Raum für die Vielzahl von Möglichkeiten, aus denen ich am Ende jeweils eine in die Tat umgesetzt habe. Wobei man sich das natürlich als eine unablässige Folge von kleinen Handlungen vorstellen muß.
Und nicht zuletzt sehe ich meine Situation, so wie sie gegenwärtig ist, auch geöffneter, nicht nur für eine längerfristige, sondern vor allem auch für die kurzfristige Zukunft (morgen und übermorgen usf.). Es gibt keinen Plan der Notwendigkeiten, weder was mich selbst, d.h. meine Handlungen betrifft, noch für das, was mir zufällt.
Ich denke, es ist ein ständiges Changieren zwischen den vielen Möglichkeiten, die ich theoretisch habe, und den im Vergleich dazu begrenzten Möglichkeiten, die mir tatsächlich offenstehen. Wobei die Grenzen, die mir da gesteckt sind, eher psychologischer Natur sind, eher in mir als im Außen liegen, zumindest finde ich diese inneren Grenzen viel interessanter. Eine äußere Grenze könnte z.B. fehlendes Geld für was auch immer sein, und ich könnte jetzt viel Energie darauf verwenden diese Grenze zu verschieben, irgendwie „reich“ zu werden. Aber was habe ich davon? Eine innere Grenze wäre z.B. meine Schüchternheit, und diese zu verschieben verändert mich wirklich nachhaltig. Ich finde, bei uns beiden hat sich da in den letzten Jahren einiges getan. :-)
***
Jetzt, beim letzten Lesen, fällt mir plötzlich die Lücke ein, die wir ziemlich zu Anfang mal thematisiert hatten – die Lücke, die der Tod unserer Männer gerissen hat. Und mir kommt es so vor, als ob sich diese Lücke im Laufe der Jahre nicht geschlossen hat, wie ich ursprünglich gedacht hatte – vielleicht erinnerst du dich an mein Bild des Baumes, dem vom Sturm eine ganze Seite weggerissen worden ist, und ich hatte mir vorgestellt, dass diese Lücke allmählich wieder wenigstens teilweise zuwächst. Sondern jetzt will es mir scheinen, als ob die Lücke, die der Tod gerissen hat, bei mir eine Öffnung bewirkt hat, eine Grenzöffnung, die ich seitdem immer weiter auszudehnen versuche, anstatt sie zu schließen.
„Glimmer“
Nachdem ich mich vorsichtshalber noch einmal im Netz vergewissert habe, was denn unter einem „Messie“ genau verstanden wird, möchte ich so umstandslos meinen Kopf doch lieber nicht dafür hergeben. Dennoch bin ich verblüfft, weil ich, wie mir scheint, diese beachtenswerte Gegenläufigkeit nie bedacht habe, ist sie mir überhaupt bewusst gewesen? Ich glaube nicht. Die wöchentliche Entleerung meiner Geräte und auch der Drang, in meiner Wohnung immer wieder Leere zu schaffen bzw. Dinge, die ich meine nicht mehr zu benötigen, wegzuwerfen oder wegzugeben, steht wirklich in starkem Kontrast zu meiner Aufbewahrungsfähigkeit in meinem Kopf bzw. Gedächtnis. Es könnte tatsächlich um eine ersatzweise oder symbolische Handlung gehen, dem Wunsch mich von Altlasten –und sei es denen vom Vortage- zu entledigen.
Da Du nun auf die Nützlich- bzw. Unnützlichkeit und somit auf die Unterscheidung in „angenehm“ und „unangenehm“ eingehst, schreibe ich Dir über eine neuere Erkenntnis von mir, die generell so neu nicht ist. Von Dir hatte ich vor langer Zeit den Ausdruck „trigger“ das erste Mal gehört. Hm, wahrscheinlich war er mir auch schon zuvor einmal über den Weg gelaufen, denn ich wusste, was Du meinst. Inzwischen weiß ich, dass es in der Psychologie ein Fachbegriff ist. Erst sein Kurzem weiß ich nun auch, dass es einen Gegenbegriff dazu gibt, ebenfalls ein Fachwort, nämlich das des „glimmer“. Damit bezeichnet man den Vorgang, dass kleine, nebensächliche und als schön empfundene Momente unbeabsichtigt frühere als schön erlebte Ereignisse plötzlich aktualisieren können. Da ich selber nicht mehr besonders motiviert bin, anstrengende Gedankenarbeit um Probleme vorzunehmen oder anders gesagt, herumzuproblematisieren, habe ich die „glimmer“-Idee freudig aufgegriffen. Die Aufmerksamkeit auf die unscheinbaren schönen Momente richten, ohne sie weiter zu bedenken und einfach nur unter der Erwartung, dass sie unbemerkt weiterwirken und sich zukünftig aktualisieren, wenn ich Ähnliches erfahre. Das klingt vermutlich etwas einfältig oder mechanistisch … gerade als ich diesem Eindruck widersprechen will, denke ich mir, dass es mechanistisch ist, mich aber im Moment nicht stört. Ich übe mein Gehirn darin, das Erfreuliche und Schöne zur Kenntnis zu nehmen und abzuspeichern, denn es ist völlig richtig, wie Du sagst, dass das Anhäufen negativer Erfahrungen, aus lauter Gewohnheit, „zementiert“.
„Glimmer“ – was für ein schönes Wort für eine schöne Sache! Davon hatte ich bisher noch nie gehört. Ich musste sofort an den Spruch „Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess ich nimmer“ denken, einen Merkspruch für die Zusammensetzung von Granitgestein. Granit sieht meist sehr unscheinbar aus, aber man muss ihn nur mal etwas bewegen bzw. sich selbst bewegen, um sofort das Glimmern darin zu sehen. Eine minimale Perspektivveränderung, und schon fängt so ein unscheinbarer Stein an zu glitzern und zu funkeln. Das darf man gern metaphorisch verstehen. :-)
Zur Erläuterung schiebe ich hinterher, dass ich mich nicht plötzlich dem „Denke positiv“ oder „sei positiv“-Konzept zugewandt habe (neulich las ich den Ausdruck „toxische Positivität“ als eine Diagnose der Zeit unserer Gesellschaft, Stichwort ist z.B. die „Selbstoptimierung“) und somit bestrebt bin, das Unerfreuliche und Belastende in sein Gegenteil zu verkehren. Es ist nur der Versuch und mein Bemühen, das Schöne für ebenso wahrnehmens- und aufbewahrungswert zu halten, wie ich mit dem Negativen schon lange –unbewußt verfahre.
„Ganzheitlich“ fällt mir dazu ein – auch so ein Modebegriff, aber in manchen Zusammenhängen ein recht schöner. Ganz werden, vollständig werden … Neulich war ich in einer Gruppe, in der ich mich zunächst nicht besonders wohl fühlte. Zu laute, zu schnelle Gespräche, ich stumm mittendrin … Da fiel mir ein Mann auf, der ebenfalls fast die ganze Zeit schwieg, sich dabei aber im Gegensatz zu mir wohlzufühlen schien. Als ich ihn am nächsten Tag darauf ansprach, meinte er, er sei Zeit seines Lebens sehr kommunikativ gewesen, extrovertiert, immer mittendrin, immer der Spaßmacher. Aber mit zunehmendem Alter habe er das Gefühl bekommen, dass das gar nicht seine wahre Natur sei, und nun mache er das nicht mehr. Da erzählte ich ihm, dass es sich bei mir gerade umgekehrt entwickelt: Ich, die Introvertierte, die das Alleinsein so sehr liebt, ich fühle mich plötzlich (in Maßen) zu den Menschen hingezogen. Da meinte er, wir seien wohl beide auf dem Weg vollständig zu werden. Das gefiel mir gut.
Das passt auch gut zum Thema der Kontingenz, der Möglichkeiten. Ich bin nicht festgelegt auf ein einziges Charaktermerkmal, z.B. Introvertiertheit (so war ja viele Jahrzehnte mein Selbstbild), sondern ich habe auch andere und sogar die entgegengesetzten Wesenszüge, wenn auch vielleicht in geringerem Maße. Das muss ich aber erst einmal überhaupt erkennen und anerkennen, um dieses erweiterte Repertoire auch nutzen zu können.
Und so siehst du jetzt das Positive nicht anstatt des Negativen, sondern zusätzlich. Die Welt wird größer, weiter …
B.
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