Liebe F.,
Verschränkung
Nun hast Du ein drittes Mal die „Verschränkung von Relativem und Absolutem“ erwähnt und erneut dazu gesagt, Du verstündest diese Idee -noch- nicht wirklich. Das ist ärgerlich, denn inzwischen bin ich natürlich zunehmend neugierig geworden, was es damit genau auf sich hat.
Oh je! :-) Genau kann ich dir das nicht sagen, aber ich will versuchen es irgendwie so zu beschreiben, wie ich mir das vorstelle. Ob ich damit den buddhistischen Gedanken treffe, sei dahingestellt …
Ich beginne aber mit einem Bereich, der mir gedanklich vertrauter ist, nämlich mit einer naturwissenschaftlichen Sichtweise auf die Welt. Auf einer ganz elementaren Ebene besteht alles, einschließlich unserer selbst, aus Protonen und Elektronen sowie ganz viel leerem Raum drumherum. Auf dieser elementaren Ebene ist also alles gleich. Auf der phänomenalen Ebene dagegen gibt es die ausdifferenzierte Dingwelt. Diese beiden „Welten“ existieren aber nicht getrennt voneinander, sondern sind immer gleichzeitig da. Ich bin ein von anderen Dingen unterschiedenes Ding UND ich bestehe wie alle anderen Dinge aus Elektronen und Protonen und ganz viel leerem Raum.
In buddhistischer Terminologie könnte man vielleicht sagen: Nichts hat eine feste, wesenhafte Natur, alles ist nur ein endloses Wechselspiel aus gegenseitig bedingtem Entstehen und Vergehen.Gleichzeitig gibt es aber die feste Welt der zehntausend Dinge. (Ich mag diesen Ausdruck der „zehntausend Dinge“ sehr!) Oder: Auf der absoluten Ebene gibt es nur einen einzigen Moment, aber auf der relativen Ebene leben wir in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. BEIDES ist richtig.
Das (für mich) Schöne an dieser Sichtweise ist, dass es keine außergewöhnliche Erkenntnis ist, sondern ein Gemeinplatz. Man kann das zur Kenntnis nehmen, vielleicht ein wenig darüber staunen und sein Leben anschließend ganz normal weiterleben, es hat keinen direkten Einfluss darauf. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass diese Vorstellung, dass wir auf einer bestimmten Ebene alle gleich sind (womit ich jetzt nicht die atomare Ebene meine, sondern mehr, dass wir alle Menschen mit denselben grundlegenden Bedürfnissen sind), langsam, aber stetig in mein Bewusstsein tröpfelt und viel verändert. Vielleicht kommt es daher, was ich in meiner Mail neulich schrieb, dass ich seit einiger Zeit das Gefühl habe, nicht mehr so viel Zeit für mich selbst zu brauchen, weil es gar nicht MEINE Zeit ist.
Vergiss die Achtsamkeit! :-)
Ja, ich denke, Du hast recht. Wozu wir dann feststellen könnten, dass sich die spirituellen Traditionen teilweise sehr ähnlich sind, denn die Konzentration auf das, was jetzt zu tun ist und getan wird, die spielt im ZaZen ebenso, wie ich von Dir weiß, eine große Rolle. Wie wirkt sich das Üben im ZaZen in dieser Hinsicht auf Deine Alltagsverrichtungen aus? Bist Du Dir der "Einmaligkeit des Momentes", wie Du es ausgedrückt hast, öfter bewußt? Als ich es eben so bedachte, ist mir klargeworden, dass ich die üblichen täglichen Erledigungen wie Kaffeetrinken, die Mülltüte in den Keller bringen, das Klo putzen, die Treppe im Haus heruntergehen usw. fast nie oder nur sehr selten mit Aufmerksamkeit verrichte. Meistens bin ich mit meinen Gedanken gerade nicht im Moment, sondern schon bei irgendeiner Tätigkeit, die irgendwann später zu tun ansteht, oder ich eile in Gedanken zurück zum gestrigen Tag oder weiß der Himmel, wohin sie gerade eilen. Das ist wahrscheinlich normal, denn wozu sonst würde man in buddhistischen oder christlichen Klöstern üben, Haus- und Gartenarbeiten ruhig, langsam, leise und bedachtsam zu verrichten – so, als gäbe es nichts anderes auf der Welt zu tun als genau dies, das man in diesem Moment tut?!
Mein Zenlehrer sagt dazu: Vergiss die Achtsamkeit! :-))) Wenn du versuchst, etwas ganz bewusst mit voller Aufmerksamkeit zu tun, dann bist du nicht bei dem Tun, sondern bei der Aufmerksamkeit. „Ich bin jetzt mal gaaanz aufmerksam!“ * schulterklopf *
Das ist natürlich eine von diesen wunderbaren zendialektischen Provokationen, von denen es so viele gibt. Und wie so oft ist es eine Verkürzung, die man nicht so wörtlich nehmen darf – und dann wieder doch … Natürlich kann es nicht schaden, die vielen Kleinigkeiten des Alltags mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu verrichten, schließlich ist DAS gerade mein Leben. Außerdem kann es auch Spaß machen, zumindest erlebe ich das oft so, wenn man sich für eine Weile ganz einer Sache hingibt, auf die man sonst keinen Gedanken verschwendet. Aber man sollte es damit auch nicht übertreiben (s.o.). Zen wurzelt zu einem Gutteil ja auch im Daoismus, und da gibt es das Prinzip des Wuwei, des Nicht-Tuns. Die Dinge nicht forcieren, sondern ihnen einfach ihren natürlichen Lauf lassen, auch dem eigenen Tun. Nicht schieben, sondern fließen lassen.
Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich glaube nicht, dass ich durch das Meditieren im Alltag bewusster geworden bin. Meistens geht es mir so, wie du es beschrieben hast: Während ich etwas Routinehaftes tue, sind meine Gedanken ganz woanders. Ich habe mich andererseits schon immer leicht in eine Sache verlieren können und bin dann ganz bei dem, was ich tue, ohne viel nachzudenken. Das ist also nichts, was sich durch die Meditation entwickelt hat. Der Unterschied zu früher ist vielleicht der, dass es mir jetzt öfter bewusst wird, wenn ich nicht wirklich bei der Sache gewesen bin, aber meistens erst im Nachhinein. Das ist ja auch schon mal was …
Der rote Faden des Zufalls
Wenn man in eine Rosenblüte hineinsieht, dann erkennt man die Staubgefäße, Fäden, den farbigen Schimmer der Blüte. Entfernt man sich einen Schritt, dann sieht man die Rose in ihrer Umgebung. So wie die räumliche Entfernung das, was man sieht, verändert, so ist es auch mit der zeitlichen Dimension. Rückblickend sieht man die längeren Linien und damit sieht man auch die unzähligen Kleinigkeiten, in die man auf dem Weg auf angenehme oder unangenehme Weise verstrickt war, anders.
[...]
Aus meiner gegenwärtigen Sicht betrachte ich die Geschichte fast neutral. Es war so, wie es war. Unter den gegebenen Umständen, das heißt den äußeren Bedingungen und der eigenen Befindlichkeit, habe ich jeweils das getan, wovon ich gemeint habe, es sei das Richtige. Daran u.a. hatte ich gedacht, als ich von dem roten Faden sprach und der Zielstrebigkeit, die zu suchen ich nun aufgeben kann.
Als ich das las, kam ich ins Grübeln: Gibt es nun den roten Faden oder gibt es ihn nicht? Ich hatte ihn ja tendenziell als fiktiv dargestellt, aber ich denke, das ist wieder so eine von den Entweder-Oder-Fragen, die in ein Sowohl-als-auch münden. In unserem Leben ereignet sich ein Zufall nach dem anderen und wir kommen immer wieder an Weggabelungen; aber welchen Weg wir dann einschlagen, ist nicht rein zufällig, sondern ergibt sich aus unserer Vergangenheit, unserem Charakter, unseren Wünschen … die dann wiederum beeinflusst werden durch die eben getroffene Entscheidung, durch die Zufälle, die uns nun begegnen und immer so weiter und so weiter … Die Wirklichkeit ist halt komplex, das macht das Denken so mühsam! :-)
Jetzt nicht
Einen Aspekt dieses Vorganges beobachte ich seit einiger Zeit aufmerksam und versuche, ihn an einem Beispiel zu beschreiben. Ich stehe an einem beliebigen Tag auf, verrichte die üblichen Tagesbeginnbeschäftigungen wie Kaffee trinken, duschen, ein wenig herumräumen, Fenster öffnen, den Laptop anwerfen usw. Dies alles tue ich vor dem Hintergrund und der Stimmung, dass ich später am Nachmittag zum Zahnarzt zur Zahnreinigung gehen werde. Mir ist die Prozedur aus verschiedenen Gründen unangenehm und deswegen liegt der Schatten dieses noch kommenden Ereignisses über den ihm vorausgehenden Stunden. Am nächsten Morgen wird das Erleben des vergangenen Morgens meine Stimmung prägen. Ich erlebe den neuen Morgen nicht wirklich neu, nicht wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, sondern die Erfahrung des Morgens davor begleitet die üblichen Morgenverrichtungen. Gleichzeitig werden neue Eindrücke das Erleben beeinflussen, die ihrerseits nun in den Vordergrund rücken können, sodaß es zu einem Wechselspiel von bekannten und neuen Eindrücken kommt. Der beliebige Tag mit dem blöden Zahnarzttermin ist ja auch nur das willkürliche Setzen eines Beginns, dem schon unzählige Lebenstage vorausgegangen sind.
Gepriesen sei meine Vergesslichkeit! Wenn am Vortag nicht etwas sehr Blödes passiert ist, dann ist der Tag am nächsten Morgen einfach verschwunden bei mir. Und was im Laufe des aktuellen Tages ansteht, gerät auch immer wieder so schnell in den Hintergrund, dass ich manchmal aufpassen muss vor lauter Herumtüdelei keinen Termin zu verpassen. (Ach herrje, ich muss ja auch noch zur Arbeit! :-))) Wahrscheinlich spielen Vergangenheit und Zukunft im Untergrund eine Rolle, so wie bei dir, aber an der Oberfläche ist da jeden Morgen meistens nur die Freude auf das Frühstück (meine liebste Mahlzeit, immer wieder; es ist alles ruhig und friedlich, ich muss mich noch um nichts kümmern, ich genieße das Essen, den Tee, das Lesen …). –
Heute Morgen habe ich mich beobachtet und gemerkt, dass ich, als der Gedanke an einen (angenehmen) Termin am Abend auftauchte, ich automatisch gedacht habe: „Jetzt nicht“. Diesen Satz habe ich bei der Meditation kennengelernt. Das, woran ich da denke, passiert jetzt, in diesem Augenblick, ja überhaupt nicht, darüber muss ich jetzt auch gar nicht nachdenken. Wenn ich dafür etwas planen muss, dann muss ich mich damit natürlich beschäftigen, aber es geht mir hier um das endlose Kreisen der (angenehmen oder unangenehmen) Gedanken, das einen so gefangennehmen kann. Jetzt, in diesem Moment, ist dieser Termin einfach noch nicht da, warum sollte ich mich also jetzt in Gedanken damit beschäftigen? Wenn der Termin kommt, dann werde ich mich drum kümmern, aber dann halt nicht in Gedanken, sondern real, und das ist es doch, worauf es letztlich ankommt – das, was wirklich geschieht, nicht das, was ich darüber denke.
B.
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