Brief 194 | Drüber weg?

Liebe F.,

Drüber weg

Ich hatte Dir mein Erlebnis in einem karmelitischen Kloster, soweit ich mich erinnere, wohl schon einmal erzählt. Hier in unseren Briefen habe ich die Geschichte allerdings nicht finden können. Weil sie aber so sehr gut, wie ich finde, zum „Nirvana“ im „Samsara“ passt, erzähle ich sie jetzt und hier erneut. Meine Freundin und ich standen an einem Morgen im Garten, rauchend und lebhaft quatschend, während Sr. X (ich weiß ihren Namen nicht mehr) eine der großen schweren schwarzen Mülltonnen in vollem Habit, d.h. mit wehendem Gewand und Schleier die Eingangstreppe zum Kloster herunterhievte. Wir winkten ihr freundlich zu und sie rief lachend „die Ewigkeit ist jetzt“. Ob es zu dieser Idee einen ausgearbeiteten theoretischen Hintergrund in der karmelitischen Tradition gibt, das weiß ich nicht. Ich verstehe es so, dass man während des Lebens, im Leben auf nichts wartet, so wie man im Jenseits, in der Ewigkeit, ja auch zeit-los ist. So jedenfalls wird es im christlichen Glauben angenommen. Man hat das „ewige Leben“. Hier die irdische Zeitlichkeit, dort die zeitlose Ewigkeit. In den Worten der Sr. wird das Jenseits ins Diesseits reingeholt. Es ist also alles bereits im irdischen Leben erfüllt, so verstehe ich ihre Äußerung.

Wenn ich jetzt während des Schreibens in diese Vorstellung versuche einzutauchen, dann finde ich sie allerdings gar nicht einfach umzusetzen, denn im außerklösterlichen Leben gibt es ja immer noch etwas zu planen,  einen erforderlichen Wohnungswechsel, neue Formen von Aktivitäten,  die Erweiterung oder die Minimierung von sozialen Kontakten. Es steht immer noch etwas aus, das zu tun ist. Man muß auf die Zeit bezogen leben, damit man den Bus oder einen Termin nicht verpasst. Im Kloster entfallen die zukunftsbezogenen Ziele, denke ich mir. Weiter bedacht, ist es natürlich unsinnig anzunehmen, im Kloster könne es leichter sein, zeitlos zu leben. Damit man die Stundengebete nicht verpasst, die Mülltonnen zum rechten Zeitpunkt rausstellt, muß man in der zeitlichen Dimension leben.

Mit „die Ewigkeit ist jetzt“ scheint mir daher „nur“ das Ziel klar ausgedrückt. Wir warten nicht auf einen zukünftigen Zustand, nämlich einen Zustand, in dem wir gar nicht mehr auf der Erde leben, sondern wir versuchen, diesen Zustand schon während des irdischen Lebens zu verwirklichen.

Diese Geschichte klingt überaus zen-mäßig! :-) Wobei man im Zen vielleicht eher sagen würde: „Es gibt nur diesen einen Moment.“ Das ist auf der relativen Ebene (ich bleibe mal bei dieser Terminologie von relativer und absoluter Ebene, auch wenn ich sie noch nicht wirklich verstehe) natürlich Unsinn, würde man spontan denken. Unsere ganze Lebenserfahrung spricht dagegen. Wir leben nicht nur einen einzigen Moment, und wir leben auch nicht in vielen vereinzelten, voneinander unabhängigen Momenten, sondern in einer Abfolge und Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir haben eine Geschichte, d.h. die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein, und wir müssen planen, also jetzt, in der Gegenwart, die Zukunft mitbedenken. Aber auf der absoluten Ebene ist es tatsächlich so, dass wir nur diesen einen, gegenwärtigen Moment leben können. Das ist ja im Grunde ein Allgemeinplatz, den es nicht nur im Zen gibt. Trotzdem – wenn man ihn sich wirklich mal intensiv vergegenwärtigt [!], kann er einen schon ins Grübeln bringen. Was mache ich mit diesem einen Moment jetzt? Er ist einmalig, er kommt nie wieder – vergeude ich ihn gerade? Lebe ich sozusagen über ihn hinweg, ohne ihn richtig wahrzunehmen? Und lebe ich nicht den Großteil meines Lebens so „drüber weg“?

Jetzt frage ich mich aber gerade, ob die Schwester mit ihrer Ewigkeit wirklich dasselbe gemeint hat. Sind völlige Gegenwart und Ewigkeit dasselbe? Aber hier komme ich nicht weiter, weil der Begriff Ewigkeit für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. Ich stelle mir nur vor, dass es nicht darum geht, die Zeit „abzuschalten“, z.B. das Planen einzustellen, um ganz im gegenwärtigen Moment zu sein. Sondern es geht mehr darum, den gegenwärtigen Moment ganz mit dem auszufüllen, was gerade ansteht. Wenn Planen ansteht, dann plane ich. Und wenn Müll wegbringen ansteht, dann bringe ich Müll weg.

 

Schlag auf Schlag

Ich versuche eine schnörkellose und einigermaßen spontane Antwort: Weil es mich von allen Ansprüchen an mich selbst befreit. Ich greife Dein Bild der Wanderung auf und sehe mich rückblickend –wie auch gegenwärtig- durchs Leben hangeln, nicht „taumeln“, immer auf der Suche nach dem Glück, und unterdessen habe ich mich verändert und tue das auch noch. Mit der Befreiung von Ansprüchen meine ich, für mein Leben einen roten Faden finden zu müssen, der die Wanderung begleitet hat. Ich bin nicht dazu bestimmt, irgendetwas Bestimmtes zu sein oder werden zu müssen (im Sinne der Teleologie des Aristoteles ungefähr gedacht). Ich hatte überhaupt keine langfristigen Ziele oder Vorhaben. Sehe ich mich auf einer Wanderung, dann bin ich durchs dornige Gestrüpp gelaufen, über saftig grüne Wiesen, über Stock und Stein, wie man sagt, und ja, kleine Etappenziele hatte auch ich, aber insgesamt bin ich nicht zielgerichtet gegangen. Es ist dies eine Sache der Interpretation eines Lebensweges. Möchte ich den roten Faden finden und sehen, weil ich mich nur dann als vollständig empfinde, oder kann ich ihn wegnehmen, diesen Anspruch? So empfinde ich es zur Zeit. Nehme ich den Anspruch weg, dann komme ich zu mehr Einverständnis mit mir. Mir ist dazu die aphoristische Floskel „der Weg ist das Ziel“ in den Sinn gekommen. Die Wanderung selbst erfüllt das Ziel oder so … ich glaube, ich werde schwafelig.

Wenn du meinst, dass es in deinem Leben nicht wirklich einen roten Faden gibt, dann bist du damit nicht allein. Angeblich (Achtung, angelesenes Halbwissen!) konstruieren wir alle uns unsere Lebensgeschichte und damit auch so etwas wie einen roten Faden immer erst im Nachhinein. Wir leben von Augenblick zu Augenblick, und erst im Rückblick sortieren wir, fügen bestimmte Ereignisse zusammen, scheiden andere aus … Wir erzählen uns selbst unsere Geschichte, und das ist immer ein mehr oder minder willkürliches Konstrukt, das sich aktiv in der Gegenwart bildet. So wie es ja auch heißt, dass unser Gedächtnis kein objektiver Speicher ist, sondern dass Erinnerungen aktiv produziert werden, in einem ähnlichen Prozess des Zusammenfügens und Ausscheidens, ohne dass uns das richtig bewusst ist. Ich finde diesen Gedanken, dass also im Grunde unsere Vergangenheit in der Gegenwart stattfindet, faszinierend.

Jetzt bin ich allerdings von deinem Grundgedanken, dass du dich von der Ziel- und Absichtslosigkeit entlastet fühlst, völlig abgekommen und ins Theoretische gerutscht. Ich kehre dahin zurück, hänge den Gedanken der Entlastung aber an etwas aus meiner eigenen momentanen Lebenswirklichkeit. Und da ist es so, dass ich in den letzten Jahren das Gefühl hatte, dass eine Befreiung auf die nächste folgte, Schlag auf Schlag. Das ist vermutlich zum einen die ganz normale Entwicklung des Alterns, hat zum anderen mit einer Reihe von Ereignissen zu tun (Tod meines Mannes, Herzstillstand, Arbeit mit den geistig Behinderten) und wurde und wird zum dritten durch meine Begegnung mit Zen enorm verstärkt.

Aber auch damit schreibe ich wohl an dem vorbei, was du gemeint hast, denn das hat bei mir ja wenig mit Ziel- und Absichtslosigkeit zu tun. Oder vielleicht doch? Meine jetzigen Lebensumstände sind ja weiß Gott nicht von mir so vorausgesehen, geschweige denn geplant worden. Aber jetzt beginne ich mich zu vertüdeln ...

 

Staunen

Meine derzeitige Rückkehr in das philosophische Denken hat mir, da bin ich sicher, das Wunderbare des Denkens wieder nahegebracht und daher rührt meine Frage nach dem „Geist im Körper“. Wir hatten in Verbindung mit dem ZaZen über die Funktion des Gehirns gesprochen, nämlich die zu denken. Es denkt eben. Weiter nichts. Und so fließen die Ströme von Gedanken, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Aber darüberhinaus entwickeln wir eben auch die bewussten, die reflektierenden Gedanken, wir ziehen logische Schlüsse, wir verleihen den Gedanken Kontur und Schärfe. Dies hat mich neuerlich fasziniert.

Das Staunen ist laut Platon der Anfang aller Philosophie! :-) Und gerade kommt mir der Gedanke: Das Staunen ist auch der Anfang der Liebe zur Welt, im Kleinen und im Großen. Jedenfalls bei mir. 🌾

B.



Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.