Brief 195 | Von Moment zu Moment

Liebe B.,

Von Moment zu Moment

Diese Geschichte klingt überaus zen-mäßig! :-) Wobei man im Zen vielleicht eher sagen würde: „Es gibt nur diesen einen Moment.“ Das ist auf der relativen Ebene (ich bleibe mal bei dieser Terminologie von relativer und absoluter Ebene, auch wenn ich sie noch nicht wirklich verstehe) natürlich Unsinn, würde man spontan denken. Unsere ganze Lebenserfahrung spricht dagegen. Wir leben nicht nur einen einzigen Moment, und wir leben auch nicht in vielen vereinzelten, voneinander unabhängigen Momenten, sondern in einer Abfolge und Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir haben eine Geschichte, d.h. die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein, und wir müssen planen, also jetzt, in der Gegenwart, die Zukunft mitbedenken. Aber auf der absoluten Ebene ist es tatsächlich so, dass wir nur diesen einen, gegenwärtigen Moment leben können. Das ist ja im Grunde ein Allgemeinplatz, den es nicht nur im Zen gibt. Trotzdem – wenn man ihn sich wirklich mal intensiv vergegenwärtigt [!], kann er einen schon ins Grübeln bringen. Was mache ich mit diesem einen Moment jetzt? Er ist einmalig, er kommt nie wieder – vergeude ich ihn gerade? Lebe ich sozusagen über ihn hinweg, ohne ihn richtig wahrzunehmen? Und lebe ich nicht den Großteil meines Lebens so „drüber weg“?

Nun hast Du ein drittes Mal die „Verschränkung von Relativem und Absolutem" erwähnt und erneut dazu gesagt, Du verstündest diese Idee -noch- nicht wirklich. Das ist ärgerlich, denn inzwischen bin ich natürlich zunehmend neugierig geworden, was es damit genau auf sich hat.

Ja, dieser Moment. Das ist ein Phänomen! Ich weiß immer nur in genau diesem Moment, dass ich es bin, die dieses riecht, sieht, schmeckt, fühlt, diesen Gedanken jetzt denkt. Das ist ein Wissen, das unmittelbar und unvermittelt, ohne logische Schlüsse zu ziehen, da ist. Annäherungsweise haben wir darüber schon einmal gesprochen. Ich weiß zwar, dass ich gestern oder 5 Minuten zuvor dieses „ich“-Bewußtsein auf eben diese Art auch hatte, nur ist das lediglich wie ein Erinnern, dass es einige Minuten zuvor so war, wie es jetzt in diesem Moment ist. Macht das aber die Kontinuität wirklich aus? Der rote Faden ist die Erinnerung – von einem Moment zum nächsten? Übrigens wäre dieses „ich“ dann auf irgendeine Weise dem „Absoluten“ vergleichbar, wahrscheinlich nur auf einer ganz anderen Erklärungsebene. Hier der einzelne Mensch mit seinem ich-Bewußtsein und da eine Art von Weltentwurf (ich habe keine Vorstellung davon). Nur zur Vermeidung von möglichen Missverständnissen ergänze ich noch, dass ich keine psychologischen oder philosophischen Konzepte des „Ich“/“Selbst“ oder der „Identität“ meine, sondern nur schlicht die Erfahrung der ich-Kenntnis jedes Menschen (ausgenommen evtl. psychische Störungen, worüber ich fast nichts weiß).        

Jetzt frage ich mich aber gerade, ob die Schwester mit ihrer Ewigkeit wirklich dasselbe gemeint hat. Sind völlige Gegenwart und Ewigkeit dasselbe? Aber hier komme ich nicht weiter, weil der Begriff Ewigkeit für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. Ich stelle mir nur vor, dass es nicht darum geht, die Zeit „abzuschalten“, z.B. das Planen einzustellen, um ganz im gegenwärtigen Moment zu sein. Sondern es geht mehr darum, den gegenwärtigen Moment ganz mit dem auszufüllen, was gerade ansteht. Wenn Planen ansteht, dann plane ich. Und wenn Müll wegbringen ansteht, dann bringe ich Müll weg.

Ja, ich denke, Du hast recht. Wozu wir dann feststellen könnten, dass sich die spirituellen Traditionen teilweise sehr ähnlich sind, denn die Konzentration auf das, was jetzt zu tun ist und getan wird, die spielt im ZaZen ebenso, wie ich von Dir weiß, eine große Rolle. Wie wirkt sich das Üben im ZaZen in dieser Hinsicht auf Deine Alltagsverrichtungen aus? Bist Du Dir der "Einmaligkeit des Momentes", wie Du es ausgedrückt hast, öfter bewußt? Als ich es eben so bedachte, ist mir klargeworden, dass ich die üblichen täglichen Erledigungen wie Kaffeetrinken, die Mülltüte in den Keller bringen, das Klo putzen, die Treppe im Haus heruntergehen usw. fast nie oder nur sehr selten mit Aufmerksamkeit verrichte. Meistens bin ich mit meinen Gedanken gerade nicht im Moment, sondern schon bei irgendeiner Tätigkeit, die irgendwann später zu tun ansteht, oder ich eile in Gedanken zurück zum gestrigen Tag oder weiß der Himmel, wohin sie gerade eilen. Das ist wahrscheinlich normal, denn wozu sonst würde man in buddhistischen oder christlichen Klöstern üben, Haus- und Gartenarbeiten ruhig, langsam, leise und bedachtsam zu verrichten – so, als gäbe es nichts anderes auf der Welt zu tun als genau dies, das man in diesem Moment tut?!         

 

„Die Vergangenheit findet in der Gegenwart statt“

Wenn du meinst, dass es in deinem Leben nicht wirklich einen roten Faden gibt, dann bist du damit nicht allein. Angeblich (Achtung, angelesenes Halbwissen!) konstruieren wir alle uns unsere Lebensgeschichte und damit auch so etwas wie einen roten Faden immer erst im Nachhinein. Wir leben von Augenblick zu Augenblick, und erst im Rückblick sortieren wir, fügen bestimmte Ereignisse zusammen, scheiden andere aus … Wir erzählen uns selbst unsere Geschichte, und das ist immer ein mehr oder minder willkürliches Konstrukt, das sich aktiv in der Gegenwart bildet.

Wenn man in eine Rosenblüte hineinsieht, dann erkennt man die Staubgefäße, Fäden, den farbigen Schimmer der Blüte. Entfernt man sich einen Schritt, dann sieht man die Rose in ihrer Umgebung. So wie die räumliche Entfernung das, was man sieht, verändert, so ist es auch mit der zeitlichen Dimension. Rückblickend sieht man die längeren Linien und damit sieht man auch die unzähligen Kleinigkeiten, in die man auf dem Weg auf angenehme oder unangenehme Weise verstrickt war, anders.

Und welche Geschichte machen wir daraus? Als wir uns kennengelernt haben, habe ich Dir von meinen Ausbildungen, den Studien, den Jobs zum Geldverdienen erzählt, von Abbrüchen, Abschlüssen und Neuanfängen, und ich habe diese Geschichte als eine Geschichte des Misserfolges erzählt. Deine Geschichte des Studiums und der jahrzehntelangen Festanstellung in dem von Dir erlernten Beruf dagegen war für mich eine Geschichte des Erfolges. Du hast meinen Weg interessant und ereignisreich gefunden, Deinen Weg hingegen als langweilig beschrieben. Woran habe ich die Bewertung als Misserfolg bemessen? Wohl an gesellschaftlichen Erwartungen und Beurteilungen, näherhin an dem, was ich meine, in der Familie, im Bekanntenkreis, in der Schule gelernt zu haben. Bemessen habe ich sicher nicht an einem ursprünglichen Plan meines beruflichen Weges, denn den hatte ich überhaupt nie. In dieser Hinsicht habe ich Ideen, die Lust zu etwas als Orientierung genommen. Jetzt möchte ich dieses nicht mehr tun, sondern etwas anderes beginnen.

Aus meiner gegenwärtigen Sicht betrachte ich die Geschichte fast neutral. Es war so, wie es war. Unter den gegebenen Umständen, das heißt den äußeren Bedingungen und der eigenen Befindlichkeit, habe ich jeweils das getan, wovon ich gemeint habe, es sei das Richtige. Daran u.a. hatte ich gedacht, als ich von dem roten Faden sprach und der Zielstrebigkeit, die zu suchen ich nun aufgeben kann. Diesen Teil meines Weges, des beruflichen Weges, wie ich ihn bezeichne, könnten andere Menschen sicher auch noch als eine ganz andere Geschichte erzählen. 

Und dieser, der berufliche Aspekt, ist ja nur ein kleiner Bereich, der Ausschnitt eines Lebens. Die sozialen Beziehungen insgesamt, feste Partnerschaft(en), über den Arbeitsbereich hinausreichende Interessen, Entwicklungsschritte, Veränderungen in der Person – es ist wahr, die Geschichte, die wir selber darüber schreiben, ist eine Interpretation. Würde ein anderer Mensch über mein Leben schreiben, mit den vorgegebenen Daten, käme wahrscheinlich eine völlig andere Biographie dabei heraus.     

So wie es ja auch heißt, dass unser Gedächtnis kein objektiver Speicher ist, sondern dass Erinnerungen aktiv produziert werden, in einem ähnlichen Prozess des Zusammenfügens und Ausscheidens, ohne dass uns das richtig bewusst ist. Ich finde diesen Gedanken, dass also im Grunde unsere Vergangenheit in der Gegenwart stattfindet, faszinierend.

Einen Aspekt dieses Vorganges beobachte ich seit einiger Zeit aufmerksam und versuche, ihn an einem Beispiel zu beschreiben. Ich stehe an einem beliebigen Tag auf, verrichte die üblichen Tagesbeginnbeschäftigungen wie Kaffee trinken, duschen, ein wenig herumräumen, Fenster öffnen, den Laptop anwerfen usw. Dies alles tue ich vor dem Hintergrund und der Stimmung, dass ich später am Nachmittag zum Zahnarzt zur Zahnreinigung gehen werde. Mir ist die Prozedur aus verschiedenen Gründen unangenehm und deswegen liegt der Schatten dieses noch kommenden Ereignisses über den ihm vorausgehenden Stunden. Am nächsten Morgen wird das Erleben des vergangenen Morgens meine Stimmung prägen. Ich erlebe den neuen Morgen nicht wirklich neu, nicht wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, sondern die Erfahrung des Morgens davor begleitet die üblichen Morgenverrichtungen. Gleichzeitig werden neue Eindrücke das Erleben beeinflussen, die ihrerseits nun in den Vordergrund rücken können, sodaß es zu einem Wechselspiel von bekannten und neuen Eindrücken kommt. Der beliebige Tag mit dem blöden Zahnarzttermin ist ja auch nur das willkürliche Setzen eines Beginns, dem schon unzählige Lebenstage vorausgegangen sind.       

Hm, ich beschreibe das Gegenteil von dem, was Du sagst?! Die Vergangenheit, das Gestern reicht, so wie ich es beschreibe, in die Gegenwart, das Heute hinein, insofern stimmt es zu sagen, sie würde in der Gegenwart stattfinden. Du aber hattest gemeint, wenn ich mich heute an den Todestag meines Mannes erinnere, dann erinnere ich ihn nicht genau so, wie ich ihn damals erlebt habe, sondern ich gestalte ihn aus meiner gegenwärtigen Situation heraus. Mein Gedächtnis aktualisiert nicht exakt das vergangene Erlebnis, erneuert oder besser noch, wiederholt es nicht. Mein Gehirn gestaltet das vergangene Ereignis aus der jeweiligen gegenwärtigen Stimmung heraus, sodaß auch die Empfindungen dabei die des Heute sind und nicht die von damals. An dieser Stelle, glaube ich, könnte man aber doch zu der Bewegungsrichtung wechseln, die ich anfangs –versehentlich und unabsichtlich- eingeschlagen habe. Mein gegenwärtiges Erinnern ist auch beeinflusst davon, wie ich den Todestag meines Mannes vor einem Monat oder vor einem Jahr neu erinnert habe. 

„Unsere Vergangenheit findet in der Gegenwart statt“, diesen Gedanken finde auch ich faszinierend, obwohl es gar kein neuer Gedanke ist. Aber in dieser Formulierung und mit der Nase drauf gestoßen, kommt er mir wie neu vor. Meine Idee, an einem Morgen wie ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier aufzuwachen, ist zwar aus Richtung des Vergangenen, das ins Jetzt hineinragt, nicht möglich, aber aus dem Jetzt heraus gesehen, kann ich das in die Gegenwart hineinnehmen, was ich möchte und mehr noch ist es die Entdeckung, dass ich die Vergangenheit mit meinen Augen sehe und das heißt, sie –kreativ- gestalten zu können. 

F.

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.