Brief 193 | Der Weg ist das Ziel

Liebe B.,

ich bin mit meinem Brief überhaupt nicht zufrieden, weil mir meine Gedanken flach, dünn und unergiebig scheinen. Er ist, so bewerte ich ihn, keine Quelle, aus der Du reichlich schöpfen kannst. Woran es liegt, kann ich nicht sagen, denn ich war während des Schreibens engagiert und klar „beieinander“. Vielleicht und hoffentlich findest Du dennoch Anknüpfungspunkte.  

 

Der Weg ist das Ziel

Nein, wie der Wandel im Buddhismus näherhin gedacht wird, weiß ich nicht. Mir fällt nur ein, dass es zumindest das ultimative Ziel gibt, aus diesem Wandel auszusteigen, sprich: ins Nirvana zu gelangen. Wobei auch das eine komplizierte Sache ist. Früher dachte ich immer, damit sei gemeint, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen, in dem selbst das Erreichen der Götterebene nicht davor bewahrt, zum Beispiel wieder ins Reich der Hungergeister zurückzufallen. Im Nirvana hätte man endlich seine Ruhe, sozusagen. Die Auslegungen im Zen, die ich bisher gehört habe, gehen aber in eine andere Richtung, denn dort spielt der Gedanke der Wiedergeburt kaum eine Rolle (oder ich habe davon noch nichts mitbekommen). Hier verwirklicht sich das Nirvana im Samsara, also im alltäglichen Leben. KEINE AHNUNG, was damit gemeint ist! :-) Hier spielt wieder die Verschränkung von Absolutem und Relativem eine Rolle, von der ich in meinem letzten Brief gesprochen hatte.

Ich hatte Dir mein Erlebnis in einem karmelitischen Kloster, soweit ich mich erinnere, wohl schon einmal erzählt. Hier in unseren Briefen habe ich die Geschichte allerdings nicht finden können. Weil sie aber so sehr gut, wie ich finde, zum „Nirvana“ im „Samsara“ passt, erzähle ich sie jetzt und hier erneut. Meine Freundin und ich standen an einem Morgen im Garten, rauchend und lebhaft quatschend, während Sr. X (ich weiß ihren Namen nicht mehr) eine der großen schweren schwarzen Mülltonnen in vollem Habit, d.h. mit wehendem Gewand und Schleier die Eingangstreppe zum Kloster herunterhievte. Wir winkten ihr freundlich zu und sie rief lachend „die Ewigkeit ist jetzt“. Ob es zu dieser Idee einen ausgearbeiteten theoretischen Hintergrund in der karmelitischen Tradition gibt, das weiß ich nicht. Ich verstehe es so, dass man während des Lebens, im Leben auf nichts wartet, so wie man im Jenseits, in der Ewigkeit, ja auch zeit-los ist. So jedenfalls wird es im christlichen Glauben angenommen. Man hat das „ewige Leben“. Hier die irdische Zeitlichkeit, dort die zeitlose Ewigkeit. In den Worten der Sr. wird das Jenseits ins Diesseits reingeholt. Es ist also alles bereits im irdischen Leben erfüllt, so verstehe ich ihre Äußerung.

Wenn ich jetzt während des Schreibens in diese Vorstellung versuche einzutauchen, dann finde ich sie allerdings gar nicht einfach umzusetzen, denn im außerklösterlichen Leben gibt es ja immer noch etwas zu planen,  einen erforderlichen Wohnungswechsel, neue Formen von Aktivitäten,  die Erweiterung oder die Minimierung von sozialen Kontakten. Es steht immer noch etwas aus, das zu tun ist. Man muß auf die Zeit bezogen leben, damit man den Bus oder einen Termin nicht verpasst. Im Kloster entfallen die zukunftsbezogenen Ziele, denke ich mir. Weiter bedacht, ist es natürlich unsinnig anzunehmen, im Kloster könne es leichter sein, zeitlos zu leben. Damit man die Stundengebete nicht verpasst, die Mülltonnen zum rechten Zeitpunkt rausstellt, muß man in der zeitlichen Dimension leben.

Mit „die Ewigkeit ist jetzt“ scheint mir daher „nur“ das Ziel klar ausgedrückt. Wir warten nicht auf einen zukünftigen Zustand, nämlich einen Zustand, in dem wir gar nicht mehr auf der Erde leben, sondern wir versuchen, diesen Zustand schon während des irdischen Lebens zu verwirklichen.                 

Auf jeden Fall sehe ich das wie du, dass Wandel und Zielstrebigkeit einander nicht ausschließen müssen. Dass sich alles im Wandel befindet, bedeutet ja nicht, dass wir völlig ziellos durchs Leben taumeln. Mir fällt das Bild einer Wanderung ein. Irgendwann erreicht man sein Ziel, die Wanderung endet. Aber was passiert dann? Ist dann Schluss? Hört die Welt plötzlich auf zu existieren, nur weil ich an ein Ziel gekommen bin? Nach meiner Vorstellung ist jedes Ziel immer nur ein Durchgangspunkt. Selbst wenn ich MÖCHTE, dass ein erreichter Zustand als endgültiges Ziel dauerhaft bleibt, hat „die Welt“ dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden, die sich weiterbewegt und ich als ein Teil von ihr mit ihr, und schwupps! ist der „endgültige Zustand“ schon wieder passé. Oder wie es in unserem Blog-Untertitel heißt: Das Leben geht weiter.

Ich habe meine Gedanken ziellos umherschweifen lassen und komme am Ende zu meiner Person zurück. Der Gedanke, dass auch ich mich während der Spanne meiner Lebensdauer beständig wandle, ohne ein Ziel, der gefällt mir gut.

Warum? frage ich jetzt mal ganz schnörkellos interessiert.

Ich versuche eine schnörkellose und einigermaßen spontane Antwort: Weil es mich von allen Ansprüchen an mich selbst befreit. Ich greife Dein Bild der Wanderung auf und sehe mich rückblickend –wie auch gegenwärtig- durchs Leben hangeln, nicht „taumeln“, immer auf der Suche nach dem Glück, und unterdessen habe ich mich verändert und tue das auch noch. Mit der Befreiung von Ansprüchen meine ich, für mein Leben einen roten Faden finden zu müssen, der die Wanderung begleitet hat. Ich bin nicht dazu bestimmt, irgendetwas Bestimmtes zu sein oder werden zu müssen (im Sinne der Teleologie des Aristoteles ungefähr gedacht). Ich hatte überhaupt keine langfristigen Ziele oder Vorhaben. Sehe ich mich auf einer Wanderung, dann bin ich durchs dornige Gestrüpp gelaufen, über saftig grüne Wiesen, über Stock und Stein, wie man sagt, und ja, kleine Etappenziele hatte auch ich, aber insgesamt bin ich nicht zielgerichtet gegangen. Es ist dies eine Sache der Interpretation eines Lebensweges. Möchte ich den roten Faden finden und sehen, weil ich mich nur dann als vollständig empfinde, oder kann ich ihn wegnehmen, diesen Anspruch? So empfinde ich es zur Zeit. Nehme ich den Anspruch weg, dann komme ich zu mehr Einverständnis mit mir. Mir ist dazu die aphoristische Floskel „der Weg ist das Ziel“ in den Sinn gekommen. Die Wanderung selbst erfüllt das Ziel oder so … ich glaube, ich werde schwafelig.             

 

Natura non facit saltus

Und weiter geht es mit den ganz großen Themen, nun also Geist und Materie. :-) Mein spontaner erster Gedanke war: Ist diese Cartesische Trennung überhaupt notwendig und sinnvoll? Haben wir es hier wirklich mit etwas „kategorial vollkommen Anderem“ zu tun? Ein Weltbild mit stetiger Entwicklung und fließenden Übergängen finde ich viel naheliegender. Für mich ist der Vorgang, dass aus einem Samenkorn ein Baum wächst, nicht weniger mirakulös als der Vorgang, dass aus elektrischen Signalen und chemischen Stoffen Gedanken und Gefühle erwachsen. Schon Einzeller nehmen Informationen auf und verarbeiten sie, warum sollten dann nicht beispielsweise aus Rückkopplungen von hochspezialisierten Zellverbänden wie den Hirnzellen neuartige Phänomene entstehen? Ich muss dazu nicht notwendig einen kategorialen Sprung annehmen. Natura non facit saltus. (Mein Wikipedia-Latein wieder :-).)

Um Dir zu folgen, habe ich ebenfalls zu Wikipedia gehen müssen, und da ich keine mich ansprechende Übersetzung gefunden habe, lasse ich Deine Überschrift so stehen. Die Hauptsache ist, ich weiß, was sie bedeutet.

Dann habe ich ein zweites Mal das Netz zu Hilfe genommen, weil ich mir nämlich angesichts Deiner Antwort etwas zurückgeblieben, d.h. altmodisch und nicht auf dem neueren Stand der Dinge vorgekommen bin. Aber siehe da, es gibt viele Buchtitel, die ahnen lassen, dass die Verfasser*innen Deiner Annahme folgen (bzw. Du ihrer Annahme). Emergenz ist wohl das neuere Stichwort dafür. „Emergenz bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften (Systemeigenschaften) oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente“. Und mindestens ebenso viele Buchtitel gibt es, die ahnen lassen, dass es sich bei der Entstehung des Bewusstseins (der Begriff taucht häufiger auf als der Begriff des Geistes) um eine ganz andere Dimension handelt, die einer Erklärung bedarf. Das scheinen die Leute zu sein, die eine auf die Emergenz zurückgreifende Erklärung nicht zufriedenstellt.  

Ich vermute, dass die unterschiedlichen Aufassungen damit zu tun haben, worüber man erstaunt ist und was man nicht erstaunlich findet. Du  meinst, nicht weniger mirakulös erschiene Dir die Entwicklung eines Baumes aus einem Samenkorn, und so habe ich, als ich Deinem Gedanken nachging, wohl zum ersten Mal in meinem Leben dies für auch staunenswert gehalten. Es ist tatsächlich so, dass ich daran wie auch am Sternenhimmel immer vorbeigesehen habe. Gesehen habe ich das Kleine und das Große, mich aber nicht verwundert.

Den Ausdruck „Geist“ habe ich benutzt, um das für mich Mirakulöse (ein schönes Wort) hervorzuheben, zugleich jedoch mit leichter Ironie. Nein, ich muß nicht in die Sphäre des Erhabenen eintauchen, mir genügt schon das „Bewusstsein“. Das Wort klingt profaner, nüchterner und lässt den Sprung zu den „Rückkopplungen hochspezialisierter Zellverbände“ schon eher wie einen Schritt aussehen. Ja, näher bedacht, d.h. die Entwicklung eines Menschen von seiner Geburt bis zum Erwachsenenleben bedenkend, kommt mir die Ausbildung der geistigen Ebene auch gar nicht mehr so sonderbar vor. Zuerst sind es reflexhafte Lebensäußerungen, danach entwickelt sich die Körpersprache und mit dem Erlernen der verbalen Sprache erweitert sich der beständig die Fähigkeit des Denkens, d.h. die geistige Ebene bildet sich tatsächlich schrittweise, stetig, nicht sprunghaft, heraus.

Meine derzeitige Rückkehr in das philosophische Denken hat mir, da bin ich sicher, das Wunderbare des Denkens wieder nahegebracht und daher rührt meine Frage nach dem „Geist im Körper“. Wir hatten in Verbindung mit dem ZaZen über die Funktion des Gehirns gesprochen, nämlich die zu denken. Es denkt eben. Weiter nichts. Und so fließen die Ströme von Gedanken, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Aber darüberhinaus entwickeln wir eben auch die bewussten, die reflektierenden Gedanken, wir ziehen logische Schlüsse, wir verleihen den Gedanken Kontur und Schärfe. Dies hat mich neuerlich fasziniert.                        

F.

 

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