Brief 41 | Die A-Symmetrie

Liebe B.,

Kurzformeln

Ich habe jetzt länger überlegt, ob „Entdeckung“ wirklich das richtige Wort ist, denn ich bin mir ja bisher nicht unbekannt gewesen, sondern bis zu einem gewissen Grade durchaus selbstreflektiert. Aber irgendwie bin ich mir selbst während der letzten zwei Jahre deutlicher geworden, manchmal bis hin zum erstaunten „So bin ich also!“. Und ich spüre in mir eine starke Tendenz, dieses Sosein bewusst weiter zu kultivieren. Manchmal habe ich das Gefühl, jetzt erst allmählich zu mir selbst zu kommen. Das hat wohl viel mit Selbstakzeptanz zu tun, aber auch mit dem, was du hier schreibst: „Ein Abschied für immer – und von nun an gehe ich mein eigenes Leben“.

In meinem e-mail-Brief hatte ich es als „Identitätsgewinn“ bezeichnet, aber der Ausdruck ist unpassend, wie ich merke, denn Dein „so bin ich (also)“ drückt treffend den Prozeß der Selbstvergewisserung aus, den ich (auch) seit einigen Monaten –ganz sicher durch unser Gespräch angeschubst- an mir beobachte. Ich bekomme Kontur, so würde ich anstelle Deines „ich bin mir deutlicher geworden“ sagen. „Mein eigenes Leben gehen“, das erinnert mich spontan an eine Gesprächssequenz, in der wir uns über das Erwachsenwerden unterhalten haben. Sich bei Entscheidungen nicht mehr rückversichern zu können und wie wir dies gelegentlich als ausgesprochen „erhebend“ erfahren. Ein ganz unvergleichliches Gefühl der Stärke, das, wie ich glaube, eng mit der Affirmation des „Selbst“ verbunden ist. Deine Skepsis in Bezug auf das Wort „Entdeckung“ trifft hier ebenfalls zu, denn erwachsen gehandelt haben wir ja auch während unserer Ehe, nur eben mit „Netz und doppeltem Boden“. In eine weitere Kurzformel gepackt: „O, das bin ich“ (freudig und stolz überrascht).  

 

Die Rolle der Zuschauerin

Ah, konsequenter weitergedacht, als ich es getan habe! Ich hatte mich nur als Zuschauerin des Lebens gesehen, nicht aber meines eigenen Lebens. Mir ist halt generell zu allem eine gewisse Distanz zu eigen, und ja, vielleicht sogar zum eigenen Leben, wieso eigentlich nicht … Das ist zwar ein neuer, sehr ungewohnter Gedanke für mich, aber einer, zu dem ich spontan „Ja“ sagen kann.

Wenn du dich nicht als Zuschauerin empfindest, dann finde ich es nur konsequent, dass du dich auch nicht als Akteurin auf einer Bühne empfindest, denn dann würdest du ja gleichzeitig auch die Zuschauer mitdenken, also doch wieder nicht vollständig bei dir selbst sein. Du bist vielleicht so, wie ich es als einen möglichen Idealzustand sehen würde, nämlich mitten in dir selbst; aber dieses Unmittelbare, Distanzlose ist es vielleicht auch, was dich alles, auch die Ängste, viel stärker empfinden lässt, als dir lieb ist?

Es ist jetzt der dritte Brief, in dem ich an dieser Stelle einhake, weil mir irgendetwas unverständlich ist. Entschuldige also, daß ich erneut nachfrage. Wie kommst Du darauf, dieses „mitten in dir selbst“ – für einen möglichen Idealzustand anzusehen? Das heißt doch mit anderen Worten, die Zuschauerin Deines eigenen Lebens zu sein (ich war übrigens unsicher, ob Du Dein eigenes Leben meinst. Aus diesem Grunde hatte ich die Worte unterstrichen, damit Du sie auf keinen Fall :-))) übersiehst 👓 und gegebenenfalls widersprichst) ist für Dich nicht der Idealzustand, denn irgend etwas muß fehlen, aber was? „Mitten in sich selbst zu sein“ bedeutet Präsenz in jedem Moment des Lebens, Einverständnis mit sich? Eins sein mit sich? (weil ich mit dem Ausdruck nicht wirklich was anfangen kann, lasse ich Deine Frage an mich unbeantwortet). Und die Zuschauerin des eigenen Lebens zu sein bedeutet ... eine Art von Spaltung? Entfernt von Dir selbst sein?                  

 

Der holpernde Wagen

Ich folge Deinen Überlegungen ...

Der Grundgedanke der Dialektik, soweit ich das verstanden habe, ist die Bewegung, die Veränderung, die Einbeziehung der Zeit ins Denken, die Geschichtlichkeit … wie immer man das nennen will. Sie ist dynamisch, nicht statisch. Und insofern kann Kontinuität nur gedacht werden als eine Abfolge von Veränderungen. Nichts ist dauerhaft, ständig geht der eine Zustand in den anderen über. Da man das im alltäglichen Lebensfluss oft nicht spürt, wäre es übertrieben, immer von Brüchen zu sprechen. Aber manchmal sind die Veränderungen eben doch heftiger, abrupter, und dann passt der Begriff. Im Grunde ist aber solch ein Bruch nur eine stärkere Version dessen, was ohnehin ständig geschieht.

„Kontinuität kann nur gedacht werden als eine Abfolge von Veränderungen“, ja (denn sonst gäbe es nur die Ewigkeit), und ich führe es so weiter: Veränderungen können nur gedacht und wahrgenommen werden, wenn es „irgendetwas“ gibt, das Bestand oder Kontinuität aufweist.

(Ein Nebengedanke: Das würde übrigens bedeuten, daß Abschiede uns begleiten. Und so, wie die Brüche in Intensitätsgraden gedacht werden müssen, genau so stellt es sich für die Abschiede auch dar. Bei den unmerklichen oder den kaum merklichen Veränderungen sind wir der Abschiede nur nicht gewahr).

(Zwei Assoziationen dazu: Die Gleichgewichtsstörung – die Veränderung als Regelfall, nicht als Ausnahme. Und dukkha, ein buddhistischer Schlüsselbegriff, der meist mit „Leiden“ übersetzt wird (die erste der vier edlen Wahrheiten, wonach alles Leben Leiden ist). Ich habe aber gelesen (Muho, Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück), dass das Wort ursprünglich einen Wagen mit beschädigter Achse bezeichnet. Die Räder dieses Wagens (unser Leben) laufen deshalb nicht rund, sondern holpern ständig. Dieses Bild hat mich sofort fasziniert, vermutlich, weil die Sicht, alles Leben sei Leiden, meinem eigenen Lebensempfinden so sehr zuwiderläuft. Ich habe das immer als sehr einseitig empfunden und nie verstanden, warum man alles unter dem Aspekt eines irgendwann einmal kommenden Endes sehen sollte. Das widerspricht doch auch der Achtsamkeit für den Moment. Wenn ich jetzt glücklich bin, dann bin ich jetzt tatsächlich glücklich und nicht etwa unglücklich, weil dieses Glück nicht von Dauer ist. Holpern dagegen, ja, das passt! Das Leben läuft nicht glatt, und daran kann man sich abwehrend abarbeiten. Man kann sich dafür aber auch öffnen, und dann erzeugt es eine große, manchmal beglückende, manchmal schmerzhafte Lebendigkeit.)

Ein schönes Bild, der holpernde Wagen als Sinnbild für unser Leben –

Die Kontinuität im Bruch zu denken fällt mir schwerer. [...] Wenn ich mir den Bruch aber nicht wie bei einem Glas vorstelle, das herunterfällt und so vollständig zerbricht, dass man es nicht mehr benutzen kann, sondern beim Bild des Baumes bleibe, in den der Sturm hineingefahren ist, dann sind Bruch und Kontinuität ja ganz natürlich vereint. Der Baum lebt weiter, auch wenn ihm ein Ast abbricht, und manche Bäume treiben sogar dann noch neu aus, wenn man sie fast bis auf den Stumpf abschneidet. [...] Aber solange ich selbst noch lebendig bin, wird jeder Bruch, und sei es auch solch ein schrecklicher wie der Tod meines Mannes, zu einem Teil meines holpernden Lebens.

Das Leben, das in beständigem Wandel ist, bildet die Kontinuität und der Verlust eines geliebten Menschen ist eine der Veränderungen, die als Bruch wahrgenommen werden. Die Kontinuität im Bruch zeigt sich darin, daß das Leben (des Überlebenden) andauert. Oder nochmal anders formuliert: Als Bruch kann man den Tod überhaupt nur denken und wahrnehmen, weil man das eigene Leben als Kontinuität denkt. Anknüpfend an den ersten Abschnitt könnte man sagen, daß den flüchtigen Veränderungen, derer man kaum gewahr wird, das blasse Licht entspricht, in dem die Kontinuität erscheint, d.h. man ist sich ihrer nicht bewusst. Erst der überwältigende, durch den Tod verursachte Bruch rückt plötzlich auch die Kontinuität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mein Leben geht weiter.

Und auf einmal glaube ich zu wissen, warum es für Dich, stärker als für mich, so irritierend ist, daß sich nach dem Bruch, dem Verlust, so wenig verändert (wie Du in Brief 36 schriebst: Ich schalte um von einem Leben mit meinem Mann zu einem Leben ohne meinen Mann. Mehr nicht).

Dazu muß ich Dich noch einmal zitieren:

Nichts ist dauerhaft, ständig geht der eine Zustand in den anderen über. Da man das im alltäglichen Lebensfluss oft nicht spürt, wäre es übertrieben, immer von Brüchen zu sprechen. Aber manchmal sind die Veränderungen eben doch heftiger, abrupter, und dann passt der Begriff. Im Grunde ist aber solch ein Bruch nur eine stärkere Version dessen, was ohnehin ständig geschieht.

Außer vielleicht in den ersten Wochen sind die Veränderungen so schleichend, winzig und beiläufig, daß sie uns gar nicht auffallen. Und deswegen scheinen sie der Gewalt und der Tragweite des Bruches nicht zu entsprechen. Die A-Symmetrie! 🌵 Hier eine kleine Veränderung und da, und eine baut auf der anderen auf; unbemerkt und kontinuierlich verläuft dieser Prozeß und wenn man erwartet, der Bruch müsse sich –zumindest annähernd- symmetrisch im weiteren Leben abbilden, kommt es einem so vor, als sei fast alles wie vorher.

Ich nehme nur ein Beispiel, um Dir zu verdeutlichen, was ich meine. Man kommt das erste Mal von der Arbeitsstelle in die Wohnung und ist alleine. Ich erinnere mich, wie ich an dem Tag immer wieder laut vor mir her sagte „ich kann es nicht glauben, ich fasse es nicht, du bist nicht hier“. Am zweiten Tag hat man die Situation ja nun schon einmal erlebt und weiß, man überlebt sie erstaunlicherweise. So gewöhnt man sich langsam und bald nimmt man die Situation für die neue „Normalität“. Das betrifft unzählige Alltagsbegebenheiten (heute ist Sonntag, haben wir nicht immer um diese Uhrzeit – als wir das letzte Mal hier zusammen eingekauft haben – um die Wäsche hast du dich immer gekümmert, jetzt muß ich - usw. usf.). All diese Veränderungen vollziehen sich zwar mehr oder weniger zügig, bereitwilliger oder widerständiger, oft nicht gleichzeitig, aber meistens sind sie leise, übergangslos und fließend, so daß man auf sie gar nicht aufmerksam wird. Zu Beginn unseres Gespräches habe ich gelegentlich geschrieben, man würde in die neue Situation, das neue Leben hineinwachsen – was das allerdings genau bedeutet und wie es konkret abläuft, das habe ich jetzt das erste Mal begriffen. Dank Deines theoretischen Exkurses.

F.

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