Brief 36 | Spiralen

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Liebe F.,

Schlechtes Gewissen

Ausnahmsweise möchte ich doch einmal psychologisierend problematisieren, weil Du das „schlechte Gewissen“ seit Beginn unseres Gespräches immer wieder erwähnst. Schlechtestenfalls tippe ich daneben. Daß es sich um allgemeine gesellschaftliche Konventionen handelt, an denen Du Deine Trauer bemisst, glaube ich nicht (z.B. „das gehört sich nicht für eine Witwe“). Dazu bist Du zu unabhängig und reflektiert. Aber daß es sich um die Verinnerlichung einer fremden Überzeugung handelt, die nicht wirklich Deine ist, weil sie zu Deinem Wesen nicht passt, diese Vermutung, so empfinde ich es, liegt nahe.

Wer kommt infrage? In der Regel die Eltern. Und jetzt phantasiere ich wild vor mich hin: „du machst es dir zu leicht, aber so warst du ja schon immer; über alles hinweghuschen, auf die leichte Schulter nehmen, anderen Menschen fällt nicht alles so einfach zu; wie habe ich gelitten!“ Also irgendeine fremde Stimme, die Deine Art des Trauerns nicht in Ordnung findet und Dir Gefühle oder Verhaltensweisen abverlangt, die Deinem Wesen nicht entsprechen. Trifft mein Einfall auf irgendeinen Widerhall bei Dir?    

Bei diesem kleinen Dramolett musste ich leise lachen. Nein, das trifft es nicht, auch nicht im entferntesten. Meine Familie findet, dass ich „tapfer“ bin, gerade weil ich, außer in der Anfangszeit, so selten Zeichen der Trauer zeige.

Die innere Stimme ist meine eigene, und das schlechte Gewissen habe ich meinem Mann gegenüber.

Kennst du den Film „Die Truman-Show“? Ein Mann wird schon als Kind in eine Reality-Werbe-Show gesteckt und wächst in den Kulissen eines riesigen, von Wasser umgebenen Filmstudios auf, ohne das über viele Jahre zu wissen. Er geht zur Schule, macht eine Ausbildung, verliebt sich, heiratet etc., alles live übertragen im Fernsehen. Es gibt Aktivisten, die sich ins Studio schmuggeln, weil sie ihn „befreien“ wollen, aber die werden regelmäßig vom Sicherheitsdienst abgefangen. Erst ganz allmählich dämmert Truman die Wahrheit, und im Showdown fiebern Millionen an den Bildschirmen mit, ob er es wohl schafft, mit einem Boot an den Rand dieses „Universums“ zu gelangen und durch eine Tür zu entkommen. Der Film ist an sich schon toll, aber absolut genial finde ich die Schlusssequenz: Diese Leute vor den Bildschirmen, für die Truman seit Jahren zu ihrem Leben gehört hat, die keine Folge verpasst haben, die gerade noch mitgefiebert, mitgelitten, sich mitgefreut haben – deren einzige Reaktion nach Abschluss dieser dramatischen letzten Folge ist: „Und was gibt es auf den anderen Sendern?“, und sie drücken auf die Fernbedienung.

So ähnlich komme ich mir manchmal vor. Ich schalte um von einem Leben mit meinem Mann zu einem Leben ohne meinen Mann. Mehr nicht. Alles andere bleibt gleich. Oder wie du es neulich ausgedrückt hast:

… ein diffuses Unbehagen […], daß der Umstand des Todes, von dem Du?/ ich gemeint hatte, er müsse die Welt fühlbar zum Einsturz bringen, nicht mehr bewirkt, als daß Du denselben Weg ohne Deinen Mann weitergehst.

Mir ist dazu ein Gedanke wieder eingefallen, den du vor einiger Zeit gebracht hattest (eine Rückkehr an denselben Punkt, nur einige Spiralumdrehungen weiter): Den Schatz der 40 Jahre, den Schatz der Liebe mitnehmen (im Unterschied zur geschiedenen Frau (es ist erstaunlich, wie wir wie in Spiralen immer wieder dieselben Schlüsselthemen streifen)) – mit Glück und Dankbarkeit weiterleben statt mit Bitternis oder dem Gefühl des Scheiterns.

Ja, das schwebt mir vor. Aber ich kann daraus noch keine stimmige Geschichte für mich machen. Es fühlt sich noch nicht „richtig“ an für mich. – Und dieses „noch“, geht mir gerade auf, bedeutet, dass ich mich noch mittendrin in diesem Prozess befinde und eben nicht einfach mal so umgeschaltet habe.

 

Lebensabschnitt

Mir ist jetzt eben erst, kurz vor dem Absenden meines Briefes aufgefallen, daß Du „abarbeiten“ mit einem „Gegeneinanderaufrechnen“ verknüpfst. Das hatte ich zuvor übersehen. Das wäre ja ein ganz anderer Aspekt. Es würde bedeuten, für 40 Jahre Zusammenleben mit Deinem Mann müsstest Du nicht 40, aber vielleicht ein, zwei, drei Jahre Leiden in die Waagschale werfen? Irgendwann müsste dann der Zeitpunkt gekommen sein, an dem Du intuitiv weißt, daß Du nun ausreichend gelitten hast –und dann erst trittst Du in Dein neues Leben des „Gleichmaßes“ ein?

Ja, Leiden ist auch ein Aspekt, aber gar nicht unbedingt der vorherrschende. Es ist mehr ein Symmetriegedanke, als ob etwas, was in über 40 Jahren gewachsen ist, auch viele Jahre brauchen müsste, um sich wieder zurückzubilden.

Dabei verkenne ich aber wohl das Wesen solcher Lebensumbrüche, zumal den endgültigen Bruch durch den Tod. Da ist nichts mit Symmetrie. Und ich komme wieder auf mein Kreisen um den Lebensabschnittsgedanken, der den Kontrast zu diesem Gedanken der Symmetrie bildet, und dessen Bedeutung für mich ich mit jeder Spiralumdrehung besser verstehe.

Selbst wenn meine Schnur und Dein „abarbeiten“ ganz Unterschiedliches sind und selbst wenn mein Bild der Krone nicht stimmt, dann besteht die, wie ich finde, bemerkenswerte Gemeinsamkeit aber darin, daß wir zurückgehen um vorwärtszukommen?! Ja, es scheint „absurd“, wie Du sagst, aber angesichts dieser Übereinstimmung in der Gegenläufigkeit der Bewegungen vermute ich, daß es nur vordergründig „absurd“ ist.

Eine Assoziation dazu: Ich gehe zurück – über die Grenze des Lebens-Abschnittes hinweg –, um von dort etwas herüberzuholen in mein jetziges Leben. Um es zu retten, es mitzunehmen, damit es nicht gänzlich verlorengeht (der Schatz). Das ist aber nur eine durch das Bild ausgelöste Assoziation, ich weiß noch nicht, ob es wirklich auf mich zutrifft.

 

Zeit

Irgendwann vor einigen Wochen oder Monaten habe ich das erste Mal ins Kalkül gezogen, es könne sein, daß ich bis zum Ende meines Lebens unfroh lebe. Seither, seit dies so etwas wie eine Option geworden ist, eine Vorstellung, die ich nicht entsetzt ablehnen muß, sondern ein bisschen (nicht radikal) akzeptieren kann, bin ich sehr viel ruhiger geworden. Ich muß mich nicht entsprechend einem Ideal entwickeln. Falls ich zu den Witwen gehören sollte, die nach dem Tod ihres Mannes im Alleineleben nie wieder richtig froh werden, dann ist es eben so. Deswegen muß ich mich selber nicht abwerten, und deswegen muß ich Dir nun auch nichts mehr voraushaben. Dieser Anspruch hatte mich, mehr als mir bewusst war, belastet. Das merke ich an der befreienden Wirkung.

Ach was (im Loriotschen Tonfall). Bitte entschuldige diese flapsige Reaktion, aber ich bin ganz perplex über diesen Selbstanspruch, der sich da, offenbar ausgelöst durch unseren Briefwechsel, bei dir gebildet hat. Jetzt verstehe ich auch dein Erstaunen, als ich schrieb, dass du mir vor allem Zeit voraushabest, nämlich die fünf Jahre, die du länger Witwe bist als ich. Weitere Vorstellungen hatte ich gar nicht. Es war für mich völlig offen, was in dieser Zeit geschehen ist.

Dass ein Mensch nach dem Tod des langjährigen geliebten Partners ein weniger glückliches Leben weiterlebt, empfinde ich als eine völlig normale, ja eigentlich zu erwartende „Variante“. Die Frage war und ist für mich deshalb eher, wie man damit umgeht, nicht, wie man das vermeidet.

 

Die Trauerbegleiterin von „Charon“ erzählte mir, es gäbe nicht wenige Menschen, die erst 2, 3 oder sogar 4 Jahre nach dem Tod eines/einer nahen Angehörigen in die Beratung kämen, und einer der Gründe dafür, den Du auch erwähnst, sei der Umstand, daß im ersten Jahr das soziale Umfeld, wie man sagt, den Ausnahmezustand anerkennt und berücksichtigt. Spätestens nach einem Jahr jedoch frage niemand mehr und die Bereitschaft, sich die Geschichte vom Sterben, dem Tod und der Trauer anzuhören, ließe deutlich nach. Das „normale“ Leben geht weiter.

Nicht nur die Bereitschaft, sich diese Geschichte anzuhören, nimmt ab, sondern, zumindest bei mir, auch die Bereitschaft, sie zu erzählen. In der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes hatte ich das Bedürfnis, fast jedem, Freunden wie Fremden, davon zu erzählen. Nicht in allen Einzelheiten, aber die Tatsache als solche, dass mein Mann gestorben war. Die Reaktionen von geschockter Überraschung (bei denen, die ihn gekannt hatten) bis zu höflichem Mitgefühl (bei Fremden) taten mir gut, ich sah mein eigenes Entsetzen in ihren Augen gespiegelt und konnte mein Leid durch ihr Mitleid tatsächlich verteilen.

Dieses Bedürfnis hat sich inzwischen vollständig verflüchtigt. Ich will das jetzt gar nicht mehr erzählen, es ist nicht mehr das beherrschende Thema für mich, und ich brauche auch kein Mitleid mehr. Wenn das Thema doch einmal zur Sprache kommt, ist ein nickendes Zurkenntnisnehmen für mich inzwischen wesentlich angenehmer.

Rückblickend finde ich immer noch, daß das erste Jahr am leichtesten war. Allerdings bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob es nicht eine Romantisierungstendenz ist, die mich dies so sehen lässt ... ich überlege, jetzt weiß ich die zutreffende Formulierung: Das erste Jahr ist auf eine ganz eigene Art anders schwierig als die folgenden Jahre. Das ist so wundervoll schwammig ausgedrückt, daß es „nichts sagt“.

Ich bin noch nicht weit genug entfernt vom ersten Jahr, um dazu etwas sagen zu können. Aber „wundervoll schwammig“ ist manchmal wundervoll treffend. 😊

B.

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