Brief 40 | Der holpernde Wagen

Liebe F.,

Selbstakzeptanz

Eher wächst eine Art von Selbstakzeptanz, daß mein Umgang mit dem Verlust, dem Tod meinem ganz eigenen Wesen/Charakter entspricht und es daran nichts zu bemäkeln gibt. Dabei habe ich allerdings die letzten 2 Jahre und die Gegenwart im Blick, nicht die Anfangszeit. Es gibt kein "richtig" und "falsch", auch nicht im 5. oder 10. Jahr, sage ich energisch zu mir selbst :-))).      

Ja, diese Entdeckung des eigenen Wesens – umso intensiver, je existentieller der Anlass ist – empfinde ich als eine große Bereicherung inmitten des Verlustes. 

Ich habe jetzt länger überlegt, ob „Entdeckung“ wirklich das richtige Wort ist, denn ich bin mir ja bisher nicht unbekannt gewesen, sondern bis zu einem gewissen Grade durchaus selbstreflektiert. Aber irgendwie bin ich mir selbst während der letzten zwei Jahre deutlicher geworden, manchmal bis hin zum erstaunten „So bin ich also!“. Und ich spüre in mir eine starke Tendenz, dieses Sosein bewusst weiter zu kultivieren. Manchmal habe ich das Gefühl, jetzt erst allmählich zu mir selbst zu kommen.

Das hat wohl viel mit Selbstakzeptanz zu tun, aber auch mit dem, was du hier schreibst:

An irgendeinem Abend floß es mir wie aus dem Nichts zu: Niemals mehr werde ich diesen Mann sehen dürfen, aber ich habe diese Liebe erlebt, diese Erfahrung wird immer bei mir bleiben -und von nun an gehe ich mein eigenes Leben. Es war ein vollkommenes Einverständnis mit dem, was ist, ein Abschied für immer, und ich fühlte mich tatsächlich wie „neu“, weil ich das Alte losgelassen hatte.

Ein Abschied für immer – und von nun an gehe ich mein eigenes Leben.

 

Selbstverortung

Ich möchte Dein Selbstverständnis? Dein Existenzgefühl? oder besser noch Deine Selbstwahrnehmung? gerne –für mich- deutlicher machen. Du siehst Dich selbst als engagierte, gedanklich und emotional beteiligte, aber eben in der Rolle einer Zuschauerin Deines eigenen Lebens?

Ah, konsequenter weitergedacht, als ich es getan habe! Ich hatte mich nur als Zuschauerin des Lebens gesehen, nicht aber meines eigenen Lebens. Mir ist halt generell zu allem eine gewisse Distanz zu eigen, und ja, vielleicht sogar zum eigenen Leben, wieso eigentlich nicht … Das ist zwar ein neuer, sehr ungewohnter Gedanke für mich, aber einer, zu dem ich spontan „Ja“ sagen kann.

Wenn du dich nicht als Zuschauerin empfindest, dann finde ich es nur konsequent, dass du dich auch nicht als Akteurin auf einer Bühne empfindest, denn dann würdest du ja gleichzeitig auch die Zuschauer mitdenken, also doch wieder nicht vollständig bei dir selbst sein. Du bist vielleicht so, wie ich es als einen möglichen Idealzustand sehen würde, nämlich mitten in dir selbst; aber dieses Unmittelbare, Distanzlose ist es vielleicht auch, was dich alles, auch die Ängste, viel stärker empfinden lässt, als dir lieb ist?

 

Arbeitsbilder

Mir kommt ein anderes meiner (Arbeits-)Bilder in den Sinn, nicht die Schnur, :-)))  das mich in der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes begleitet hat. Du kennst es. Ich bin in einen tiefen Abgrund, schluchtähnlich, gefallen, unten ist es wie in einer großen Höhle dunkel; ich sehe hohe feuchte Felswände um mich herum, die ich hochklettern muß, damit ich oben wieder ans Licht komme. Fällt Dir relativ spontan ein Bild ein, das Deine „Schnitt“-Vorstellung veranschaulicht?

Zunächst einmal fällt mir ein Bild zu deinem Bild ein 😊, nämlich die Gebärmutter (dunkel, feucht, tief unten (drinnen), ans Licht kommen). Aber anders als bei einer Geburt presst dich niemand nach draußen, sondern du musst die schwierige und schmerzhafte Arbeit der Neugeburt ganz allein leisten. Und du hast sie geleistet!

Mein Bild? Ja, da gibt es eins (ich habe sogar ein- oder zweimal versucht, es tatsächlich zu zeichnen). Es ist das Bild der zwei Bäume, von denen der eine durch den Sturm gefällt worden ist und nun zersplittert am Boden liegt. – Dieses Bild passt nicht nur auf die Anfangszeit, sondern gilt auch heute noch, denke ich gerade. Denn es illustriert nicht nur den Bruch, dieses Gefühl der klaffenden Wunde an meiner Seite, sondern auch den Übergang zur Kontinuität, zum Weiterleben, zum Verheilen, mit dem Bruch.

Womit ich bei der Dialektik angekommen wäre. 😊

 

Der holpernde Wagen

Da die „Dialektik“ Dein Terrain ist, versuche ich unsachverständig Deine Pünktchen fortzusetzen ... was bedeutet, daß eines ohne das Andere nicht zu denken ist. Den „Bruch“ denken zu können, setzt das Denken der „Kontinuität“ voraus und andersherum ist die Bedingung dafür „Kontinuität“ zu denken, der Gedanke des „Bruches“? Ich frage zwar nie aus Höflichkeit, sondern immer, weil ich interessiert bin, aber hier bin ich besonders an Deiner Antwort interessiert Pünktchen usw. 

Ich bin zwar fasziniert von der Dialektik, aber sie ist mir immer noch ein Rätsel mit sieben Siegeln. Will heißen: Ich fühle mich außerstande, sie im konkreten Fall mehr als nur ahnungsweise anzuwenden. Ich will es trotzdem versuchen. (Achtung, jetzt wird’s theoretisch! 😊)

Der Grundgedanke der Dialektik, soweit ich das verstanden habe, ist die Bewegung, die Veränderung, die Einbeziehung der Zeit ins Denken, die Geschichtlichkeit … wie immer man das nennen will. Sie ist dynamisch, nicht statisch. Und insofern kann Kontinuität nur gedacht werden als eine Abfolge von Veränderungen. Nichts ist dauerhaft, ständig geht der eine Zustand in den anderen über. Da man das im alltäglichen Lebensfluss oft nicht spürt, wäre es übertrieben, immer von Brüchen zu sprechen. Aber manchmal sind die Veränderungen eben doch heftiger, abrupter, und dann passt der Begriff. Im Grunde ist aber solch ein Bruch nur eine stärkere Version dessen, was ohnehin ständig geschieht.

(Zwei Assoziationen dazu: Die Gleichgewichtsstörungen – die Veränderung als Regelfall, nicht als Ausnahme. Und dukkha, ein buddhistischer Schlüsselbegriff, der meist mit „Leiden“ übersetzt wird (die erste der vier edlen Wahrheiten, wonach alles Leben Leiden ist). Ich habe aber gelesen (Muho, Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück), dass das Wort ursprünglich einen Wagen mit beschädigter Achse bezeichnet. Die Räder dieses Wagens (unser Leben) laufen deshalb nicht rund, sondern holpern ständig. Dieses Bild hat mich sofort fasziniert, vermutlich, weil die Sicht, alles Leben sei Leiden, meinem eigenen Lebensempfinden so sehr zuwiderläuft. Ich habe das immer als sehr einseitig empfunden und nie verstanden, warum man alles unter dem Aspekt eines irgendwann einmal kommenden Endes sehen sollte. Das widerspricht doch auch der Achtsamkeit für den Moment. Wenn ich jetzt glücklich bin, dann bin ich jetzt tatsächlich glücklich und nicht etwa unglücklich, weil dieses Glück nicht von Dauer ist. Holpern dagegen, ja, das passt! Das Leben läuft nicht glatt, und daran kann man sich abwehrend abarbeiten. Man kann sich dafür aber auch öffnen, und dann erzeugt es eine große, manchmal beglückende, manchmal schmerzhafte Lebendigkeit.)

Die Kontinuität im Bruch zu denken fällt mir schwerer. Sehr abstrakt könnte man sagen, dass, wie die Physik behauptet, nichts verloren geht (Energieerhaltungssatz), sondern sich nur die Zustände ändern. Aber das bringt mich in diesem konkreten Fall nicht weiter. Wenn ich mir den Bruch aber nicht wie bei einem Glas vorstelle, das herunterfällt und so vollständig zerbricht, dass man es nicht mehr benutzen kann, sondern beim Bild des Baumes bleibe, in den der Sturm hineingefahren ist, dann sind Bruch und Kontinuität ja ganz natürlich vereint. Der Baum lebt weiter, auch wenn ihm ein Ast abbricht, und manche Bäume treiben sogar dann noch neu aus, wenn man sie fast bis auf den Stumpf abschneidet. Ich will das Bild jetzt nicht so weit treiben, dass auch aus einem umgestürzten Baum noch Leben erwächst (Insekten, Pilze, Moose etc.), denn das ist dann ja ein anderes Leben, nicht mehr das des Baumes. Aber solange ich selbst noch lebendig bin, wird jeder Bruch, und sei es auch solch ein schrecklicher wie der Tod meines Mannes, zu einem Teil meines holpernden Lebens.

B.

© Britta Berg

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