Brief 42 | Die A-Symmetrie II

Liebe F.,

Mitte und Distanz

Wie kommst Du darauf, dieses „mitten in dir selbst“ – für einen möglichen Idealzustand anzusehen? Das heißt doch mit anderen Worten, die Zuschauerin Deines eigenen Lebens zu sein (ich war übrigens unsicher, ob Du Dein eigenes Leben meinst. Aus diesem Grunde hatte ich die Worte unterstrichen, damit Du sie auf keinen Fall :-))) übersiehst 👓 und gegebenenfalls widersprichst) ist für Dich nicht der Idealzustand, denn irgend etwas muß fehlen, aber was? „Mitten in sich selbst zu sein“ bedeutet Präsenz in jedem Moment des Lebens, Einverständnis mit sich? Eins sein mit sich? (weil ich mit dem Ausdruck nicht wirklich was anfangen kann, lasse ich Deine Frage an mich unbeantwortet). Und die Zuschauerin des eigenen Lebens zu sein bedeutet ... eine Art von Spaltung? Entfernt von Dir selbst sein?                  

Ich schrieb von einem möglichen Idealzustand (das eine hätte ich unterstreichen müssen, so war es missverständlich, Entschuldigung), schloss andere „Idealzustände“ damit also nicht aus. (Jetzt kommt mir das Wort allerdings unpassend vor, denn mehrere Idealzustände nebeneinander, das klingt irgendwie falsch.) Ich empfinde mein Zuschauerinnensein jedenfalls nicht als defizitär, sondern nur als anders. Und wenn eine gute Fee mir die Wahl zwischen diesen beiden Zuständen anböte – „mittendrin“ oder „mit Distanz“ –, würde ich bei der Distanz bleiben wollen.

Was habe ich aber nun mit „mitten in sich selbst sein“ gemeint? Ich hatte zwar auch an all die Sachen gedacht, die du beschrieben hast, aber vor allem hatte ich das Bild vor Augen, wie du tanzt. (Beim Folgenden weiß ich nicht, ob es auf dich zutrifft, es geht dabei mehr um meine eigene Vorstellung.) Ich habe großen Respekt vor Leuten, die „hemmungslos“ sein können, die ganz aus sich herausgehen können, die sich zum Beispiel ganz an einen Tanz hingeben können. Genauso wie vor Schauspielern, die sich ganz an eine Rolle verlieren können, sodass sie eben nicht mehr so tun als ob, sondern ganz ihre Figur sind. – Hm … viermal „ganz“ in zwei Sätzen – das ist wohl der Kern der Sache, diese zumindest zeitweilige Ganzheit.

Ich könnte nicht so sein, und ich würde das auch nicht wollen. Etwas in mir sperrt sich gewaltig gegen diese Vorstellung. Das hat was mit Scham zu tun, mit Angst vor Kontrollverlust; aber auch mit Eigen-Sinn, mit Grenzbewusstsein. Ich würde meinen „Zustand“ auch nicht als Spaltung bezeichnen, obwohl das naheläge, als Gegenbegriff zur Ganzheit. Dass ich in Distanz zu mir selbst gehen kann, empfinde ich eher als Bereicherung, als eine zusätzliche Seins-Dimension sozusagen. Für mich ist das mit einem Freiheitsgefühl verbunden. (So wie ich mir auch dieses ganz aus sich herausgehen Können als eine Befreiung vorstelle, nur ganz anderer Art.)

Aber wie so oft ist es wohl auch hier keine Frage des Entweder-Oder, sondern des Sowohl-Als-Auch. Man ist mal so, mal so, jede und jeder mit unterschiedlichen Gewichtungen oder unterschiedlichen Anteilen.

 

Zeit und Prozess

Ich bin völlig begeistert von deinen Gedanken zum Thema Zeit und Prozess! Aber ich weiß gar nicht, was ich zuerst zitieren soll – vielleicht den Hauptpunkt, um den sich alles andere für mich anordnet:

Außer vielleicht in den ersten Wochen sind die Veränderungen so schleichend, winzig und beiläufig, daß sie uns gar nicht auffallen. Und deswegen scheinen sie der Gewalt und der Tragweite des Bruches nicht zu entsprechen. Die A-Symmetrie! 🌵 Hier eine kleine Veränderung und da, und eine baut auf der anderen auf; unbemerkt und kontinuierlich verläuft dieser Prozeß und wenn man erwartet, der Bruch müsse sich –zumindest annähernd- symmetrisch im weiteren Leben abbilden, kommt es einem so vor, als sei fast alles wie vorher.

Ja, genau! Damit beschreibst du mein Empfinden bis ins Kleinste. Und dein Begriff der A-Symmetrie hat mir jetzt geholfen, von der Symmetrie, auch wenn ich sie selbst eingeführt habe, die mir aber die ganze Zeit über merkwürdig verkehrt vorkam (das erläutere ich jetzt nicht, ist nicht so wichtig), wegzukommen. Ich würde jetzt eher von einem Ungleichgewicht sprechen. Der Tod wog so schwer, und alles andere, was darauf folgte (bis auf die ersten Wochen, genau), ist meist so unscheinbar, so gewichtslos (um das Wort „leicht“ zu vermeiden). Ich kann Menschen so gut verstehen, die nach dem Tod des Partners, der Partnerin ein radikal neues, anderes Leben beginnen, die auswandern oder den Beruf wechseln oder ähnliches. Ich fühle mich manchmal in der Alltäglichkeit meines Weiterlebens wie gefangen. Dann wieder besinne ich mich aber auf meine Wertschätzung gerade dieser unscheinbaren Alltäglichkeit, die mir schon lange viel bemerkenswerter erscheint als ein Leben mit immer neuen Sensationen. Und im Laufe der Zeit werde ich wohl auch die Veränderungen wahrnehmen können, die sich aus dem kaum merklichen Prozess ergeben.

Als Bruch kann man den Tod überhaupt nur denken und wahrnehmen, weil man das eigene Leben als Kontinuität denkt. Anknüpfend an den ersten Abschnitt könnte man sagen, daß den flüchtigen Veränderungen, derer man kaum gewahr wird, das blasse Licht entspricht, in dem die Kontinuität erscheint, d.h. man ist sich ihrer nicht bewusst. Erst der überwältigende, durch den Tod verursachte Bruch rückt plötzlich auch die Kontinuität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mein Leben geht weiter.

Ja! Was ich fett markiert habe, das ist so klug! Die Selbstverständlichkeit des Lebens, des Weiterlebens ist plötzlich dahin, deshalb wird alles mit viel größerer Aufmerksamkeit registriert und bewertet. Wenn ich mir das richtig klarmache, dann liegt allein in dieser Intensitätssteigerung schon eine erhebliche Veränderung zu meinem Leben vor dem Bruch, und das meine ich in einem durchweg positiven Sinne.

Und auf einmal glaube ich zu wissen, warum es für Dich, stärker als für mich, so irritierend ist, daß sich nach dem Bruch, dem Verlust, so wenig verändert (wie Du in Brief 36 schriebst: Ich schalte um von einem Leben mit meinem Mann zu einem Leben ohne meinen Mann. Mehr nicht).

„stärker als für mich“ – ich vermute, hier spielt der Umstand eine Rolle, dass bei dir und deinem Mann der Sterbeprozess ein Jahr gedauert hat, bei uns kaum vier Wochen. Vielleicht würdest du deshalb auch gar nicht unbedingt von einem Bruch sprechen, sondern ein anderes Bild dafür wählen? Und hier passt nun vielleicht doch wieder der Symmetriegedanke: Der längeren Phase vor dem Tod entspricht bei dir vielleicht ein anderes Lebensgefühl danach als bei mir mit dieser eher kurzen Phase?

Zu Beginn unseres Gespräches habe ich gelegentlich geschrieben, man würde in die neue Situation, das neue Leben hineinwachsen – was das allerdings genau bedeutet und wie es konkret abläuft, das habe ich jetzt das erste Mal begriffen. Dank Deines theoretischen Exkurses.

Und ich habe es jetzt zum ersten Mal spüren können. Dank Deines konkreten Beschreibens. 🎈

B.

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