Liebe B.,
Ja, es geht mir an dieser Stelle um das Verlustgefühl, dessen Fehlen mich, gelinde gesagt, „irritiert“.[...]
Ich glaube, dahinter steckt die Vorstellung, ich müsste jetzt sozusagen die gemeinsamen 40 Jahre „rückwärts“ abarbeiten, bevor ich wieder einen Zustand des Gleichmaßes erreiche. Aber das ist natürlich absurd. Denn was war vor 40 Jahren? Da habe ich meinen Mann ja noch gar nicht gekannt! Will ich dahin zurück? Natürlich nicht. Ich will ja mit diesen 40 Jahren weiterleben, nicht ohne sie. Dieses Gegeneinanderaufrechnen ist also kompletter Blödsinn. – Jetzt muss ich nur noch das, was mein Verstand einsieht, auch wirklich fühlen.
„Abarbeiten“? Ich versuche zu verstehen, was Du damit meinst. Vielleicht ist es vergleichbar meiner kleinen „Arbeit“, die ich in den ersten Monaten nach dem Tod meines Mannes öfter probiert habe. Ich habe eine lange Schnur vor mich hingelegt, die meinen Lebensweg symbolisieren sollte und bin auf dieser Schnur bis in meine Kindheit zurückgegangen. Dabei habe ich die Schnur in Abschnitte zerlegt, die einzelne Lebensphasen darstellten. Spontan weiß ich gar nicht, welche Absicht ich mit dieser Arbeit eigentlich verbunden hatte ... achso, ich glaube, ich wollte meinen Blick dafür weiten, daß ich und mein Leben mehr umfassen als meine Ehe und meinen Mann. Aber genaugenommen passt Dein Ausdruck „abarbeiten“ nicht zu dem Sinn, der meiner Schnur“arbeit“ zugrundelag.
Aber nun fällt mir Dein Bild der zwei zu einer zusammengewachsenen Baumkronen ein. „Abarbeiten“ könnte bedeuten, Du möchtest die eigene Krone herauslösen aus den Zweigen und Ästen der zweiten, der im Laufe von 40 Jahren zusammengewachsenen Krone. Ist es das?
Selbst wenn meine Schnur und Dein „abarbeiten“ ganz Unterschiedliches sind und selbst wenn mein Bild der Krone nicht stimmt, dann besteht die, wie ich finde, bemerkenswerte Gemeinsamkeit aber darin, daß wir zurückgehen um vorwärtszukommen?! Ja, es scheint „absurd“, wie Du sagst, aber angesichts dieser Übereinstimmung in der Gegenläufigkeit der Bewegungen vermute ich, daß es nur vordergründig „absurd“ ist.
Mir ist jetzt eben erst, kurz vor dem Absenden meines Briefes aufgefallen, daß Du „abarbeiten“ mit einem „Gegeneinanderaufrechnen“ verknüpfst. Das hatte ich zuvor übersehen. Das wäre ja ein ganz anderer Aspekt. Es würde bedeuten, für 40 Jahre Zusammenleben mit Deinem Mann müsstest Du nicht 40, aber vielleicht ein, zwei, drei Jahre Leiden in die Waagschale werfen? Irgendwann müsste dann der Zeitpunkt gekommen sein, an dem Du intuitiv weißt, daß Du nun ausreichend gelitten hast –und dann erst trittst Du in Dein neues Leben des „Gleichmaßes“ ein?
Ich habe manchmal die Besorgnis, als seien meine Gefühle nicht heftig genug. Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Wenn ich zurückschaue, waren meine Gefühle in der ersten Phase nach dem Tod meines Mannes durchaus heftig, eigentlich ganz so, wie ich es erwartet hätte, wenn ich vorher darüber nachgedacht hätte. Aber ich habe ziemlich schnell in meinen Normalzustand zurückgefunden, und damit komme ich manchmal nicht zurecht.
Eigentlich ist es wirklich absurd. Manche Menschen leiden daran, dass ihre Gefühle zu überwältigend sind, und ich daran, dass sie nicht überwältigend genug sind … Es ist wohl noch ein weiter Weg, bis ich es lerne, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Meistens gelingt mir das ja eigentlich ganz gut, aber gerade in diesem schwierigen Konglomerat aus Trauer und Lebensmut und schlechtem Gewissen fällt es mir schwer.
Ausnahmsweise möchte ich doch einmal psychologisierend problematisieren, weil Du das „schlechte Gewissen“ seit Beginn unseres Gespräches immer wieder erwähnst. Schlechtestenfalls tippe ich daneben. Daß es sich um allgemeine gesellschaftliche Konventionen handelt, an denen Du Deine Trauer bemisst, glaube ich nicht (z.B. „das gehört sich nicht für eine Witwe“). Dazu bist Du zu unabhängig und reflektiert. Aber daß es sich um die Verinnerlichung einer fremden Überzeugung handelt, die nicht wirklich Deine ist, weil sie zu Deinem Wesen nicht passt, diese Vermutung, so empfinde ich es, liegt nahe.
Wer kommt infrage? In der Regel die Eltern. Und jetzt phantasiere ich wild vor mich hin: „du machst es dir zu leicht, aber so warst du ja schon immer; über alles hinweghuschen, auf die leichte Schulter nehmen, anderen Menschen fällt nicht alles so einfach zu; wie habe ich gelitten!“ Also irgendeine fremde Stimme, die Deine Art des Trauerns nicht in Ordnung findet und Dir Gefühle oder Verhaltensweisen abverlangt, die Deinem Wesen nicht entsprechen. Trifft mein Einfall auf irgendeinen Widerhall bei Dir?
Und was heißt da eigentlich: „mich akzeptieren, wie ich bin“?, murmele ich weiter in meinem Selbstgespräch. Was sind Fehler, die es zu überwinden, was Eigenarten, die es zu akzeptieren gilt? „Mich akzeptieren, wie ich bin“ kann ja auch einfach heißen, mit den Schultern zu zucken und zu sagen „so bin ich eben“. Wer bin ich also und wer will ich sein …? Die typischen Fragen, die sich in einer Lebenskrise auftun und weswegen ich solche Zeiten bei allem Schmerz auch als beglückend und bereichernd empfinde.
An dieser Positivität, die Dir eigen ist, partizipiere ich z u gerne. Die Möglichkeiten, die in schwierigen Lebenssituationen liegen, wahrzunehmen (im Sinne von „erkennen“) und sich den „Störungen des Gleichgewichtes“ nicht entgegenzustemmen, so wie ich es eher tue, sondern mit den Bewegungen mitzufließen. Ich kucke es mir sozusagen ab, und vergegenwärtige mir diese Möglichkeit der Sichtweise immer dann, wenn ich meine strenge Ordnung „gefährdet“ sehe.
Hier schreibst du, dass du während dieser Zeit kein Verlust- und Schmerzgefühl hattest, im vorletzten Brief dagegen, dass dein Verlustgefühl sehr stark ist. Ist das also erst später gekommen?
Ja. Ich hatte zum Ausdruck bringen wollen, daß ich im 2./3. Jahr ausschließlich damit beschäftigt war, meine Seele zu retten oder profaner: Alleine leben zu lernen. Ich fühlte mich verlassen, alleine, hatte Angstzustände und habe mich aber in diesen Angstzuständen immer mehr unter die Glasglocke verkrochen, d.h. von anderen Menschen isoliert. Dadurch verstärkten sich die Angst und das Verlassenheitsgefühl aber nur noch. Dies überhaupt erst einmal herauszufinden und einzuüben, den Kreislauf zu unterbrechen, das war zentral für mein Leben vor allem im 2. Jahr. Emotional hat mein Mann keine Rolle gespielt. Ich bin zeitweise verzweifelt gewesen, weil ich mir nicht zu helfen wusste – und unter der Glasglocke war ich sogar von meinem Mann abgeschnitten.
Du schreibst am Ende deines vorigen Briefes zwar, dass die Phase, da du meintest, mir etwas vorauszuhaben, nun vorbei sei. Aber ich finde es immer noch spannend von dir zu hören, wie sich manches bei dir entwickelt und verändert hat. Mag sein, dass es bei mir nach fünf Jahren ganz anders sein wird, als es bei dir nach fünf Jahren war. Aber allein davon zu hören, dass sich im Laufe der Jahre die Dinge weiterentwickeln, verändern, ist für mich ungemein – ja, ich möchte fast sagen: beruhigend.
Ich hatte mich wohl missverständlich ausgedrückt. „Dir etwas voraushaben zu müssen“. Auf dem „müssen“ liegt die Betonung, weil diese Auffassung dem üblichen Muster folgte: „An mir, liebe B., kannst Du sehen, daß mann/frau auch als verwitweter Single glücklich und zufrieden leben kann und fast noch besser als während der Ehe“. Dies in zugespitzter Form war mein Anspruch, an dem ich mein tatsächliches Befinden gemessen habe, was selbstverständlich nur in einer geringschätzigen Geste enden konnte. Irgendwann vor einigen Wochen oder Monaten habe ich das erste Mal ins Kalkül gezogen, es könne sein, daß ich bis zum Ende meines Lebens unfroh lebe. Seither, seit dies so etwas wie eine Option geworden ist, eine Vorstellung, die ich nicht entsetzt ablehnen muß, sondern ein bisschen (nicht radikal) akzeptieren kann, bin ich sehr viel ruhiger geworden. Ich muß mich nicht entsprechend einem Ideal entwickeln. Falls ich zu den Witwen gehören sollte, die nach dem Tod ihres Mannes im Alleineleben nie wieder richtig froh werden, dann ist es eben so. Deswegen muß ich mich selber nicht abwerten, und deswegen muß ich Dir nun auch nichts mehr voraushaben. Dieser Anspruch hatte mich, mehr als mir bewusst war, belastet. Das merke ich an der befreienden Wirkung.
Die Trauerratgeber befassen sich ja meistens nur mit dem ersten Jahr, wo man ja wohl auch am meisten Hilfe braucht, weil alles so unbegreiflich neu und beängstigend ist. Aber davon, wie es dann weitergeht, erfährt man in der Regel so gut wie nichts. Tod und Trauer sind kein Gesprächsthema. Auch ich werde von fast niemandem mehr darauf angesprochen (bis auf einige wenige Kolleginnen, die in größeren Abständen fragen, wie es mir geht), so wie auch ich nie jemanden dazu befragt habe. Ich weiß einfach nichts von den vielen verschiedenen und sich verändernden Gesichtern der Trauer, und ich vermute, dass das nicht nur mir so geht. Das ist für mich auch einer der Gründe, nicht nur in unseren E-Mails darüber zu schreiben, sondern auch hier in diesem öffentlichen Blog.
Ja, nun gehe ich diesen Weg allein weiter. Und immer, wenn ich mich darüber wundere, wie relativ leicht mir das fällt, denke ich an die Millionen anderen Witwen und Witwer, die das ebenfalls schaffen, und komme mir nicht mehr ganz so seltsam vor.
Die Trauerbegleiterin von „Charon“ erzählte mir, es gäbe nicht wenige Menschen, die erst 2, 3 oder sogar 4 Jahre nach dem Tod eines/einer nahen Angehörigen in die Beratung kämen, und einer der Gründe dafür, den Du auch erwähnst, sei der Umstand, daß im ersten Jahr das soziale Umfeld, wie man sagt, den Ausnahmezustand anerkennt und berücksichtigt. Spätestens nach einem Jahr jedoch frage niemand mehr und die Bereitschaft, sich die Geschichte vom Sterben, dem Tod und der Trauer anzuhören, ließe deutlich nach. Das „normale“ Leben geht weiter. Die Trauernden fühlen sich später also von den Arbeitskolleginnen, der Familie, dem Freundeskreis alleinegelassen und suchen andere Möglichkeiten zum Aussprechen oder anders gesagt, die fehlende Möglichkeit, über die Schwierigkeiten mit der neuen Situation zu reden, könne die aktive Auseinandersetzung –in den Folgejahren- mit dem Verlust eines Menschen verhindern und führe dann manchmal zu depressiven Zuständen oder zu einer Form verfestigten Leidens. Insofern ist es wirklich ein Defizit, daß das „Trauer“-Buch mit dem ersten Jahr geschlossen wird.
Rückblickend finde ich immer noch, daß das erste Jahr am leichtesten war. Allerdings bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob es nicht eine Romantisierungstendenz ist, die mich dies so sehen lässt ... ich überlege, jetzt weiß ich die zutreffende Formulierung: Das erste Jahr ist auf eine ganz eigene Art anders schwierig als die folgenden Jahre. Das ist so wundervoll schwammig ausgedrückt, daß es „nichts sagt“.
An dieser Stelle wollte ich über die Zeit bis in die Gegenwart resümierend etwas schreiben, aber man kann eine solche Zusammenschau über den Kopf nicht erzwingen. Man muß, wie Du es zum Ende Deines letzten Briefes nanntest, auf die „rechte Zeit“ warten. Nachdem ich einige Stunden gebrütet habe, lege ich mein Vorhaben also für heute zur Seite, für heute - und gebe an Dich weiter, liebe B.
F.
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