Brief 2 | Nach der Ehe

Liebe F.,

ich will zuerst deine Frage nach der „geschiedenen Frau“ beantworten, denn es kam auch mir ein wenig seltsam vor, sie als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu nehmen. Ausgelöst wurde das durch deinen Satz einige Briefe zuvor von den zwei Frauen (also wir beide), die ihr Leben „nach der Ehe“ neu bedenken.

Dieses „nach der Ehe“ gab mir zunächst einen Stich, denn anscheinend hatte ich mich irgendwie immer noch als verheiratet angesehen, auch wenn mein Mann nun tot ist. Verwitwet bin ich zwar auch und akzeptiere diese Zuschreibung auch problemlos, aber das ist eine mehr äußerliche Kategorie, eine fürs Formularausfüllen.

Gleichzeitig empfinde ich mich nun aber auch als Single. Deshalb fiel mir als Vergleich die geschiedene Frau ein, weil auch sie ein Single ist, der nun „nach der Ehe“ lebt. Junge Menschen, die Singles sind, eignen sich für meine Situation nicht als Vorbild, weil sie in der Regel danach streben, dieses Singledasein baldmöglichst zu beenden, also einen Partner zu finden. Die geschiedene Frau dagegen (zumindest in meiner idealisierten Version – und ja, da ist sie es, die sich trennt; das ist einerseits statistisch die häufigere Variante, außerdem in meiner Familiengeschichte die Regel, deshalb kommt mir das als erstes in den Sinn) ist froh, endlich ALLEIN zu sein (meine Visualisierung: sie kommt nach Hause, lässt sich erleichtert aufs Sofa fallen und denkt: „Ach, herrlich, dies ist jetzt mein Leben!“). Zwar wird auch sie einiges zu verarbeiten haben – Trauer um die gescheiterte Ehe, Zorn über erlittene Verletzungen und Kränkungen etc. –, aber ihre Grundstimmung stelle ich mir positiv, optimistisch, gelöst vor. Diese Vorstellung, dass es möglich ist, allein und glücklich zu sein, schwebt mir als Leit-Bild vor.

Meine Einschätzung war nun, dass es für eine Witwe schwerer ist, dieses Lebensgefühl zu entwickeln, weil der Verlust oder die Lücke alles dominiert. Ich finde es deshalb sehr überraschend, dass bei dir bei der Betrachtung des Ehelebens nicht der Verlust im Vordergrund steht, sondern der Schatz, den man darin hat. Eine Wendung um 180 Grad, auf die ich von selbst nicht gekommen wäre. Aber wenn man es so sieht wie du, dann wäre es auf einmal viel leichter! – Aber ist es das wirklich? Liegt es nur an dir, deiner anderen Grundstimmung, die auch schon während der Ehe vorherrschte, dass es dir bisher nicht gelungen ist, oder liegt es in der Sache selbst? Ich fühle mich sehr oft glücklich und zufrieden, auch jetzt, weil es halt zu meiner Grunddisposition gehört, aber dieses Gefühl „Ach herrlich …!“ – nein, das will sich nicht einstellen. Und das wundert mich auch kein bisschen, denn das Leben ist nun einmal nicht herrlich, wenn einem der Mann gestorben ist.

Trotzdem möchte ich dieses Leitbild beibehalten, auch wenn es vielleicht ein etwas zu hoch gestecktes Ziel ist. Aber dahinter steht die Vorstellung, mein Leben ganz und gar zu akzeptieren, so, wie es ist. Nicht zähneknirschend, weil es sich nun einmal nicht ändern lässt, sondern bejahend, weil ich es annehme.

 

Das zufriedene Lebensgefühl, die „ruhende Ganzheit“ habe ich während meiner Ehe auch nicht gekannt, zumindest nicht als Grundton meines Wirklichkeitserlebens. Das ist zwar kein Grund, für die Zukunft nicht dennoch dieses Ziel vor Augen zu haben, aber ich glaube, daß einer Veränderung des Lebensgefühls die geänderte Selbstbeschreibung oder das geänderte Selbst-Bild vorangehen müssen, weil sich Lebensgefühl, Gefühle generell, am ehesten durch gedankliche Bewertungen verändern lassen.

Das ist ermutigend, denn es bedeutet, dass wir nicht auf einen „Umschwung“ des Lebensgefühls warten müssen, sondern ihn (bis zu einem gewissen Grad) aktiv herbeiführen können. Mit diesem positiven Ausblick will ich für heute enden.

B.

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