Liebe B.,
Der Weg
[...] Denn plötzlich ist mir klargeworden: Ich habe dieses Verlustgefühl so gut wie nie. Es ist, als hätte der Tod meines Mannes, nach der ersten Phase der fast mehr körperlichen als seelischen Reaktion, keinerlei Auswirkungen auf mein Leben, von gelegentlich mich überkommender Traurigkeit abgesehen. Und offenbar habe ich das Bedürfnis, wenigstens im Außen zu sehen, was ich im Innern nicht fühle (aber meine, dass ich es fühlen müsste?).
Mir ist ein sehr klares Bild vor die Augen gekommen, während ich über Deine Zeilen nachsann. Ich werde kein Foto oder Gemälde heraussuchen, sondern das Bild lediglich beschreiben, damit Du Dir Dein ganz eigenes Bild machen kannst. Ich sehe einen schmalen, geraden Feldweg, der von Wiesen und Feldern gesäumt wird, auf dem Du zusammen mit Deinem Mann, Hand in Hand, entlanggehst. Meine Perspektive ist etwas erhöht, und ich sehe Euch schräg von hinten. Wenn ich meine Augen kurz schließe und wieder öffne, dann ist Dein Mann aus dem Bild verschwunden, und Du gehst den Feldweg alleine weiter, bis dahin, wo er sich am Horizont verliert. Ich sehe nur das Äußere von Dir, nichts sonst, und nur Deine Gestalt ist, nach dem Verschwinden Deines Mannes, ein bißchen schmaler geworden. Mich berührt an dem Bild, Dich in der Einheit Deiner Person wahrnehmen zu können. 🦢 40 Jahre ist Dein Mann neben Dir gegangen, und nun gehst Du denselben Weg alleine weiter.
Der einzige Unterschied, der mir –außer Deiner Gestalt- weiter einfällt, den ich allerdings nicht sehe, sondern Deinen Erzählungen entnehme, ist die fehlende „Ganzheit“ in Deinem Erleben.
Ich habe mehrfach versucht, mich in das Bild einzusetzen, aber es geht nicht. Meine Vermutung ist, daß es deswegen nicht funktioniert, weil ich mir selber zu nahe bin, das heißt, ich kann mich nicht unter Abzug meiner Gefühle auf dem Weg sehen. Ob dies der wahre Grund ist, darüber bin ich mir allerdings unschlüssig. Ist aber an dieser Stelle auch nicht wichtig.
Jetzt stellt sich mir die Frage: Warum meine ich, dass ich etwas fühlen müsste, was ich ganz offensichtlich nicht fühle? Um einer Norm, einer Konvention zu entsprechen? Da habe ich jede Menge Trauerratgeber gelesen und fühlte mich jedesmal ganz besonders angesprochen von der Versicherung „Es gibt im Trauern kein Richtig oder Falsch“ – und dennoch meine ich, mein eigenes Verhalten sei irgendwie nicht richtig?
Dabei fällt mir ein, dass du vor einiger Zeit schriebst, dass das Wort Trauer für dich „leblos bleibt“ – vielleicht geht es mir ähnlich mit dem Begriff Verlust? Trauer kenne ich, das Verlustgefühl eher nicht. Dass es bei dir umgekehrt ist, „beruhigt“ mich, denn das zeigt mir, dass das Nichtvorhandensein des einen Gefühls – und sei es noch so weit verbreitet und als selbstverständlich erwartet – nicht bedeutet, dass ich überhaupt nichts oder nicht das Richtige fühle. Du hast allerdings Trauer durch Schmerz ersetzt – womit würde ich Verlust ersetzen, um doch ein ähnliches Gefühl bei mir zu finden? Spontan fällt mir nichts ein. Ein großes Bedauern eventuell, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nicht in eine andere Richtung geht.
Und welches Gefühl sollte, meinst Du, vorhanden sein? Könntest Du das Gefühl benennen? Oder muß es ein Verlust-Gefühl sein? In den obigen Abschnitten und im unten Folgenden erzählst Du dreimal von der Traurigkeit. Genügt die Traurigkeit nicht? Im Brief zuvor hattest Du von gelegentlich auftauchender Bitterkeit und Schwermut geschrieben. Genügt das nicht? Vielleicht genügen sie angesichts von 40 Jahren des gemeinsamen Weges nicht ...
... denn vielleicht ahne ich jetzt zumindest doch, was Du meinen könntest. Mir ist es, im Unterschied zu Dir, nach ungefähr anderthalb Jahren des Alleinseins sehr schlecht gegangen, während Du Dich einigermaßen ausgeglichen fühlst (Du widersprichst, falls ich die Situation falsch einschätze?!) Ich hätte zwar sagen können, daß, würde mein Mann leben, es mir nicht so gehen würde, aber im Grunde haben meine Gefühle für ihn, seine Person keine Rolle gespielt. Gekreist bin ich um mich. Wie soll ich es ausdrücken ... ein Verlust- und Schmerzgefühl hatte ich auch nicht. Die folgenden 2 Jahre bin ich damit beschäftigt gewesen, wie ich „erwachsen“ werden kann oder besser, wie ich den eigenen erwachsenen Teil aktivieren und zum Leben erwecken kann, damit ich alleine zurechtkomme. Ich war mit mir, aber nicht mit meinem Mann beschäftigt. Aufgrund Deiner Persönlichkeitsstruktur gelingt Dir das Alleineleben ohne fremde Hilfe (Therapieunterstützung) ganz gut, und daher bist Du nicht ununterbrochen mit Dir beschäftigt. Wenn ich versuche, mich in Deine Situation einzufühlen, dann wird mir ein diffuses Unbehagen nachvollziehbar, daß der Umstand des Todes, von dem Du?/ ich gemeint hatte, er müsse die Welt fühlbar zum Einsturz bringen, nicht mehr bewirkt, als daß Du denselben Weg ohne Deinen Mann weitergehst.
[...] Das schließt nicht aus, dass mich nicht manchmal eine große Traurigkeit überkommt. Aber die ist, soweit ich mich erinnere, nie mit einem Gefühl der Abwehr verbunden. Es ist „in der Ordnung der Dinge“, wie du mal so schön geschrieben hast, dass er gestorben ist, es ist nur eben sehr, sehr traurig.
Weißt Du, was mir hier plötzlich, wahrscheinlich wegen des Einverständnisses, das in der „Ordnung der Dinge“ liegt, durch den Kopf geht – empfindest Du manchmal auch Dankbarkeit? Wenn ich es richtig erinnere, dann war ich im ersten Jahr gelegentlich nahezu glücklich, weil ich eine große Dankbarkeit für das gemeinsame Leben, das ich habe erfahren dürfen, fühlte. Danach ist dieses Dankbarkeitsempfinden, ich erinnere es jedenfalls so, nicht wieder gekommen.
Glasglocke
Dazu fällt mir der Satz eines Journalisten ein (Hanns-Joachim Friedrichs), der – wohl als eine Art Berufs-Credo – gesagt haben soll: „Dabeisein, aber nicht dazugehören.“ Im Zusammenhang mit Journalismus ist wohl gemeint, dass man Distanz wahren sollte zu dem, worüber man berichtet, vor allem zu Personen, um möglichst objektiv und unkorrumpiert bleiben zu können. Aber ich habe mir diesen Satz gleich zu eigen gemacht, weil er meinem eigenen Lebensgefühl so gut entspricht. Ab und zu bin ich ja ganz gern unter Menschen, aber es wird mir immer schnell zu nah, zu viel. Die Glasglocke bietet mir Schutz, sie lässt mich gleichzeitig anwesend und distanziert sein, ohne dass die anderen sich vor den Kopf gestoßen fühlen oder ich dumm auffalle.
Nur kurz zur Bestätigung, daß ich jetzt erst das Bild richtig verstehe. Die Glasglocke ist eine unsichtbare schützende Hülle, die Dir den Blick auf die Welt und die anderen Menschen erlaubt, und Du selber bleibst ebenfalls sichtbar, aber nichts und niemand kommt Dir zu nahe bzw. Du behältst die Kontrolle über die Abstände, die Du jeweils benötigst. ✨
Geben und Nehmen
Außerdem ist es ja auch so, dass ich von dir „profitiere“ – so hat unser Briefwechsel ja mal begonnen. Ich hatte Hilfe gesucht im Umgang mit der Trauer, und du konntest und kannst sie mir geben, mit deiner längeren Erfahrung mit diesem Thema und deiner Bereitschaft, nun schon über viele Monate dich damit und mit mir auseinanderzusetzen.
Es ist ein schönes Geben und Nehmen. Danke dafür.[...]
Ja! Und ich finde diese unterschiedliche Konstellation auf einmal sehr reizvoll. Du hast Dich ein gutes halbes Jahr nach dem Tod Deines Mannes aktiv, d.h. im Gespräch, mit Deiner Situation auseinandersetzen wollen, und ich habe mich erst, knapp 5 Jahre nach dem Tod meines Mannes gerne darauf eingelassen. Was für ein Unterschied der „Naturen“ :-)))! Mir ist es wie ein Geschenk zugefallen und jetzt, rückblickend würde ich sagen, daß ich vorher aber auch niemals mit einem Menschen über den Tod meines Mannes und mein Witwendasein hatte sprechen wollen. Den Wechsel von der Aufmerksamkeit auf mein gegenwärtiges Leben zur Aufmerksamkeit auf meinem Mann und unsere Beziehung, den habe ich tatsächlich erst mit dem Beginn unseres Gespräches vollzogen. An das, was ich oben schrieb anknüpfend: Nachdem ich gelernt hatte, alleine zurechtzukommen, konnte ich mich meinem Mann wieder zuwenden.
Die Phase, in der ich meinte, Dir etwas voraushaben zu müssen, ist vorüber. In dem Bild, das ich anfangs beschrieb, sehe ich –ja, nun kann ich mich plötzlich auch sehen!!!- Dich und mich den Weg alleine ohne die Gefährten weitergehen, und wir tauschen uns darüber aus, was uns auf dem Weg begegnet. Es entfällt jeder Anspruch, die eine (ich) müsse „weiter“ als die andere (Du) sein. Wir gehen 👟 die Wege unterschiedlich, jede auf ihre Weise.
F.
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