Liebe B.,
I.
Kennst du den Film „Die Truman-Show“? [...] Ein Mann wird schon als Kind in eine Reality-Werbe-Show gesteckt und wächst in den Kulissen eines riesigen, von Wasser umgebenen Filmstudios auf, ohne das über viele Jahre zu wissen. Er geht zur Schule, macht eine Ausbildung, verliebt sich, heiratet etc., alles live übertragen im Fernsehen. Es gibt Aktivisten, die sich ins Studio schmuggeln, weil sie ihn „befreien“ wollen, aber die werden regelmäßig vom Sicherheitsdienst abgefangen. Erst ganz allmählich dämmert Truman die Wahrheit, und im Showdown fiebern Millionen an den Bildschirmen mit, ob er es wohl schafft, mit einem Boot an den Rand dieses „Universums“ zu gelangen und durch eine Tür zu entkommen. Der Film ist an sich schon toll, aber absolut genial finde ich die Schlusssequenz: Diese Leute vor den Bildschirmen, für die Truman seit Jahren zu ihrem Leben gehört hat, die keine Folge verpasst haben, die gerade noch mitgefiebert, mitgelitten, sich mitgefreut haben – deren einzige Reaktion nach Abschluss dieser dramatischen letzten Folge ist: „Und was gibt es auf den anderen Sendern?“, und sie drücken auf die Fernbedienung.
So ähnlich komme ich mir manchmal vor. Ich schalte um von einem Leben mit meinem Mann zu einem Leben ohne meinen Mann. Mehr nicht. Alles andere bleibt gleich.
Den Zugang zur Ähnlichkeit mit meiner Erfahrung bekomme ich über die Figur des Truman selbst. So wie ihm irgendwann „dämmert“, daß es eine andere Realität gibt, die die wirkliche Realität ist, genau so habe ich ungefähr 2 Jahre lang regelmäßig und öfter gedacht, irgendwann würde ich schon begreifen, daß mein Mann gestorben ist. Das bedeutet ja nichts Anderes als anzunehmen, die neue Realität als die Wirkliche zu erleben läge noch in der Zukunft, das Erwachen stünde noch aus. Truman will der als falsch erkannten Realität räumlich entkommen, während ich erwartet hatte, den Sprung in einer Art von Erkenntnis, dem Begreifen zu tun. Der Augenblick des Begreifens hat sich tatsächlich niemals ereignet, stattdessen ist der Gedanke irgendwann, ohne daß ich es gemerkt habe, einfach verschwunden. Falls es sich bei Dir und mir um dieselbe Erfahrung handelt, wovon ich mir allerdings nicht sicher bin, dann legst Du all Deine Aufmerksamkeit auf das Erstaunen, nahezu in derselben Wirklichkeit, trotz der veränderten Realität, weiterzuleben wie vor dem Tod Deines Mannes. Dieser Aspekt scheint mir aber lediglich die Kehrseite meines Gedankens zu sein, das in der Zukunft liegende Begreifen würde den Wechsel bringen. Das heißt, ich muß mich ebenso wie Du eine längere Zeit gewundert haben, daß alles so weitergeht wie vorher, denn nur vor diesem Hintergrund kann ich auf die Idee gekommen sein zu erwarten, der Eintritt in die neue wirkliche Realität sei noch nicht vollzogen.
Ich wüsste gerne, unabhängig davon, ob wir von derselben Erfahrung sprechen, mit welchem Gefühl oder mit welchem Gedanken Du die Feststellung verbindest, daß eigentlich „alles gleich“ bleibt? Ich meine, ein ungläubiges Erstaunen oder sogar eine Art von Enttäuschung herauszuhören ... ?
II.
Die innere Stimme ist meine eigene, und das schlechte Gewissen habe ich meinem Mann gegenüber.
[Der folgende, von mir gekürzte Abschnitt, ist aus Deinem Brief 34]: In den ersten Monaten nach dem Tod meines Mannes war ich manchmal geradezu euphorisch vor Dankbarkeit.
Hattest Du in diesen Momenten oder Phasen von Dankbarkeit ein schlechtes Gewissen Deinem Mann gegenüber? Ich kann Dir nicht sagen, wie ich darauf komme, aber ich vermute, daß Du kein schlechtes Gewissen hattest.
Mir ist dazu ein Gedanke wieder eingefallen, den du vor einiger Zeit gebracht hattest (eine Rückkehr an denselben Punkt, nur einige Spiralumdrehungen weiter): Den Schatz der 40 Jahre, den Schatz der Liebe mitnehmen (im Unterschied zur geschiedenen Frau (es ist erstaunlich, wie wir wie in Spiralen immer wieder dieselben Schlüsselthemen streifen)) – mit Glück und Dankbarkeit weiterleben statt mit Bitternis oder dem Gefühl des Scheiterns.
Dazu möchte ich Dir zuerst etwas erzählen. Mein ehemaliger Wohnungsnachbar, ein älterer Herr, der inzwischen verstorben ist, hat seine Frau bis zu ihrem Tod (sie starb an einem Gehirntumor) gepflegt. Einmal bin ich in ihrer Wohnung gewesen und war überwältigt von der Liebe, die beide verströmten. Ein Ehepaar, dessen Liebe stärker ist als die Krankheit („Liebe ist stärker als der Tod“). Eine Liebe, die mich als Fremde nicht aus- sondern einschloß, wie ich es damals empfand. Nachdem seine Frau gestorben war, pusselte Herr K. ebenso wie vor ihrem Tod im Garten oder im Treppenhaus herum, zu Weihnachten verschenkte er an alle Nachbarn selbstgedrehte Bienenwachskerzen, und wenn ich ihm im Treppenhaus oder auf der Straße begegnete, hatte ich immer Eindruck, er sei erfüllt von Liebe – und ja, er sei glücklich. Die Geschichte liegt schon 30 Jahre zurück, aber ich weiß, daß ich sie bereits damals genau s o wahrgenommen habe wie ich sie Dir heute erzähle. Er war ein Vorbild für mich, wie man nach dem Tod des Ehemannes bzw. der Ehefrau glücklich weiterlebt ... weil man die Liebe mitnimmt.
Ja, das schwebt mir vor. Aber ich kann daraus noch keine stimmige Geschichte für mich machen. Es fühlt sich noch nicht „richtig“ an für mich. – Und dieses „noch“, geht mir gerade auf, bedeutet, dass ich mich noch mittendrin in diesem Prozess befinde und eben nicht einfach mal so umgeschaltet habe.
„Umgeschaltet“ haben bedeutet also, mit „Glück und Dankbarkeit“ ohne Deinen Mann weiterleben? Wobei das „ohne“ fast aufgehoben ist, denn aus dem Gedanken des „Schatzes“ der Liebe, den man mitnimmt, erwächst in der Imagination oder Vorstellung ja ein Lebensgefühl, in dem das, was man empfangen hat, gegenwärtig ist. Und empfangen hat man die gegenseitige Liebe.
„Das schwebt mir vor“, sagst Du, und für mich ist es ja auch ein bisher nicht verwirklichtes Ziel. Ich glaube nicht, daß es nur ein Ideal ist, wenn mir die Liebe wie der Schlüssel für ein Leben in „Dankbarkeit und Glück“ vorkommt. Es scheint mir mehr eine Intuition, die meiner Erfahrung entspringt, denn meine Erfahrung folgt sicher nicht der Weisheit, die Liebe wäre das Heilmittel für alles. Eine (Allerwelts-) Weisheit ist dies wohl eher geworden, weil viele Menschen es so erfahren haben.
Das Lebensgefühl des „Hier und Jetzt“ ist vom Wissen um den „Schatz“ allerdings nicht geprägt (Dich schließe ich ein und zitiere dazu noch einmal aus Deinem Brief 34: Und erst jetzt, wo du es sagst, wird mir bewusst, dass sich dieses Gefühl [Dankbarkeit] auch bei mir inzwischen verflüchtigt hat).
Es ist ein Prozeß, wie Du sagst, der sich wohl aber nicht automatisch, wie von alleine, im Unterschied zum Verblassen des Schmerzes, vollzieht ... vermute ich.
III.
[...] Es ist mehr ein Symmetriegedanke, als ob etwas, was in über 40 Jahren gewachsen ist, auch viele Jahre brauchen müsste, um sich wieder zurückzubilden.
Dabei verkenne ich aber wohl das Wesen solcher Lebensumbrüche, zumal den endgültigen Bruch durch den Tod. Da ist nichts mit Symmetrie. Und ich komme wieder auf mein Kreisen um den Lebensabschnittsgedanken, der den Kontrast zu diesem Gedanken der Symmetrie bildet, und dessen Bedeutung für mich ich mit jeder Spiralumdrehung besser verstehe.
Wenn ich mir mein Gesicht in der Mitte, über der Nasenwurzel, in zwei Hälften geteilt vorstelle, dann sehen beide Hälften sehr unterschiedlich aus. Symmetrisch wären sie, wenn sie einander glichen, d.h. wenn sie gleichförmig wären. Der Kontrast dazu ist der Lebensabschnittsgedanke, weil das Bild von Abschnitten das extrem Ungleichförmige zeigt. Meinst Du es ungefähr so?
Zum „Zurückbilden“ fällt mir eines meiner Vorhaben ein, das in die Tat umzusetzen ich seit langem vor mir herschiebe. Die Jahre meiner Ehe möchte ich chronologisch erinnernd durchgehen und dadurch lebendig werden lassen. Entweder vom Ende her bis zum Anfang oder vom Anfang bis zum Tod. Ein „zurückbilden“ in einem anderen Sinn also als Du es meinst. Die Erinnerung in Bildern, inneren Bildern, nicht Fotos (ah ja, die Fotos anzusehen ist ebenso ein bisher nicht realisierter Plan). Ich überlege mir in diesem Moment, warum ich es tun möchte, denn natürlich erinnere ich mich beiläufig dauernd an einzelne Situationen, nur eben gänzlich ungeordnet. Ich bin sicher, es hat mit dem Wunsch zu tun, die Dankbarkeit und das Glück in mein Leben zu holen.
IV.
Ach was (im Loriotschen Tonfall). Bitte entschuldige diese flapsige Reaktion, aber ich bin ganz perplex über diesen Selbstanspruch, der sich da, offenbar ausgelöst durch unseren Briefwechsel, bei dir gebildet hat. Jetzt verstehe ich auch dein Erstaunen, als ich schrieb, dass du mir vor allem Zeit voraushabest, nämlich die fünf Jahre, die du länger Witwe bist als ich. Weitere Vorstellungen hatte ich gar nicht. Es war für mich völlig offen, was in dieser Zeit geschehen ist.
Jaja, da hatte ich –wieder einmal- einen Problemluftballon in mir aufgepustet, in den Dein lakonisch trivialisierendes „Ach was“ hineinsticht und die Luft entweichen läßt. „Sowas aber auch!“ :-))) Es war gar nichts, während ich ein „Dramolett“ (ein hübsches Wort) veranstaltet habe.
Dass ein Mensch nach dem Tod des langjährigen geliebten Partners ein weniger glückliches Leben weiterlebt, empfinde ich als eine völlig normale, ja eigentlich zu erwartende „Variante“. Die Frage war und ist für mich deshalb eher, wie man damit umgeht, nicht, wie man das vermeidet.
Ich sitze auf meinem Stuhl und lache herzlich, weil ich Deinen Einfall, meinen hehren Anspruch in eine Vermeidungsstrategie umzukehren bestechend finde. Nein, das Lachen rührt mehr von meiner Überraschung her, die Dinge quasi auf den Kopf gestellt zu sehen. Warte ... wenn ich genau lese, dann schreibst Du gar nicht, mein Anspruch diene oder habe der Vermeidung gedient. Das ist fast schade, weil die Pointe nun fehlt, andererseits macht es den Sachverhalt unkompliziert. Deine nüchterne Betrachtungsweise gibt mir die Erlaubnis, weniger glücklich weiter zu leben und dies für normal zu halten.
Um diesen Punkt ins richtige Licht zu rücken, muß ich aber doch ergänzen, daß ich mich unabhängig von Dir und unserem Gespräch mit dem Anspruch auf ein „besser leben“ nach dem Tod meines Mannes herumgequält habe. Du bist also in jeder Hinsicht „entlastet“.
F.
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