Brief 101 | "Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln"

Liebe B.,

Ich habe Deiner Betrachtung über den Weg, den wir gesprächsweise gemeinsam gegangen sind, den Vorzug gegeben, und damit mein Brief nicht zu umfangreich wird, musste ich Deine Überlegungen zum „Innen“ und „Außen“ unbeantwortet lassen.

Im Laufe der vergangenen Tage bin ich zurück auf Start gegangen und habe darüber nachgedacht, wie wir hier überhaupt angefangen haben. Kann sein, dass ich jetzt wichtige Themen unterschlage, aber für mich ist die große Linie, dass wir so etwas wie Standortbestimmungen versucht haben. Oder ich zumindest habe das versucht, weil ich damals, relativ kurz nach dem Tod meines Mannes, auf schwankendem Boden gestanden habe. Du warst da schon weiter, einfach durch die längere Zeit, die seit dem Tod deines Mannes vergangen war.

Dann sind unsere Gedankenwege synchron verlaufen, denn in derselben Woche sind mir viele Gedanken durch den Kopf gezogen, was alles sich zwischen uns und in unseren Leben ereignet hat, seit wir angefangen haben, die Briefe zu schreiben. Bei mir waren es allerdings nur lose, unverbundene und eher beiläufig auftauchende Momente unseres Gesprächs, sodaß ich in meiner Antwort auf Deinen Brief gerne Deinen Betrachtungen folgen möchte. Wenn wir in den letzten Jahren „Standortbestimmungen“ versucht haben, dann ist dies also der jüngste Versuch einer Standortbestimmung.

Über das „Weitersein“ haben wir anfangs öfter gesprochen, weil ich das zeitliche „Voraussein“ als einen Anspruch Deinerseits an mich verstanden hatte, ich „meistere“ mein Leben schon wieder, während Du Dich noch unsicher im neuen Leben herumgetastet hast. Irgendwann haben wir meinen Irrtum dann geklärt, ebenso wie wir erst nach einem länger andauernden Hin und Her klären konnten, daß Du unter dem „Bruch“, von dem Du häufig gesprochen hast, etwas ganz Anderes verstehst als ich geglaubt hatte. Das heißt, wir haben ähnlich dem Objektiv einer Kamera, das erst justiert werden muß, um die Verschwommenheit des Objektes in Schärfe zu verwandeln, unsere Sprache lernen müssen zu verstehen.                

Wegweiser

Wo stehe ich heute? Wo stehst du heute? Abgesehen von deiner Liebessehnsucht, abgesehen von meiner Einsiedlersehnsucht. Aber kann man davon absehen? Ich will jedenfalls weder dich noch mich auf diese Sehnsüchte reduzieren. Du hast noch keinen Mann gefunden, ich bin noch nicht ins Kloster eingetreten. Wie leben wir trotzdem?

Ich verstehe, was Du meinst und möchte dennoch auf das Wort „reduziert“ eingehen, weil ich es ganz gegenteilig als ein Erkennen und als eine Achtung meiner Person empfinde, wenn Du es meine „Liebessehnsucht“ nennst, von der nicht abzusehen ist. Das setzt allerdings voraus, daß ich selber mich darin als die Person, die ich bin und die ich sein will, erkenne. Da ist noch vieles andere in meinem Leben wichtig und auch meine Person ist noch reichhaltiger, vielleicht gehören diese beiden Aspekte zu Deiner Überlegung „wie leben wir trotzdem“?

Was uns hier übrigens unterscheidet, ist die Zeit. Mir wird es in diesem Moment des Schreibens lediglich als ein Faktum bewusst, ohne daß ich irgendeiner Weise eine Bedeutung darin erkennen kann. Deine „Einsiedlersehnsucht“ begleitet Dein Leben und Deine Betrachtungen über Dein neues Leben von Beginn an, die Auseinandersetzung damit dauert an. Seit dem Tod Deines Mannes sind allerdings auch erst 3 Jahre vergangen. Meine „Liebessehnsucht“ ist neu und hat erst nach Ablauf von guten 6 Jahren begonnen. Was war eigentlich davor? Der Wunsch und das Ziel, mein Leben alleine „meistern“ zu können und das heißt, auch ohne (m-)einen Mann mir ein gutes Alleineleben gestalten zu können. Dieses Ziel ist in dem Moment verschwunden, in dem die Liebessehnsucht auftauchte, und dieses Verschwinden nehme ich als Erleichterung und Entlastung wahr. Ich komme mit dem Alleineleben sehr schlecht zurecht, na und, muß ich denn gut damit zurechtkommen?! Es ist kein Defizit meiner Person, wenn ich es nicht gut kann. Es ist keine Unfähigkeit, meine Seele und meinen Körper nicht selber, nur notdürftig, versorgen zu können. Ich kann’s nicht. Punkt. Das gehört zum Thema der „selbstbestimmten Frau“. Deswegen verschiebe ich Weiteres nach unten.          

Denn wir leben ja. Wobei ich mit Leben nicht die äußeren Umstände meine, sondern innere [! jaja, es lebe die Inkonsequenz :-)]. Wir leben ja nicht trotz dieser Sehnsüchte, sondern mit ihnen, sie sind kein Fremdkörper, sondern ein Teil von uns, ein sehr wichtiger sogar. (Wobei deine wohl drängender sind als meine, aber ich will sie jetzt einfach mal gleichsetzen.) Aber hier unterscheiden wir uns vielleicht (mal wieder): Ich möchte meine Sehnsucht gar nicht loswerden, sie nicht erfüllen. Sie ist für mich viel wichtiger als ständiger Anlass, mir darüber klar zu werden, wie es mir gerade jetzt geht, nicht, wie es mir irgendwann vielleicht gehen könnte. Gerade weil ich sie nicht erfülle, obwohl sie mir so wichtig ist (und eine Erfüllung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, das hängt ja ganz von mir selbst ab, im Gegensatz zu deinem Fall), dient sie mir sehr viel mehr dazu, immer wieder darüber nachzudenken und darauf aufmerksam zu sein, ob mein Hier und Jetzt so ist, dass es mir guttut, oder ob ich da eventuell etwas ändern müsste.

Deine Einsiedlersehnsucht ist wohl vergleichbar dem Bild der „selbstbestimmten“ und „glücklichen“ Frau? Die Sehnsucht ist die Orientierungslinie, an der Du die Gegenwartssituation messen kannst. Und vielleicht ist nicht unwichtig für diese Funktion, die die Sehnsucht für Dich hat, daß Du jederzeit frei bist, das Ziel Deiner Sehnsucht aus eigener Kraft umsetzen zu können. Übrigens ist für mich die Sehnsucht auch in den vergangenen Jahrzehnten, also für eine lange Zeit meines Lebens, ein Wegweiser gewesen, um zu erkennen, was nicht so ist, wie ich es mir wünsche. Und ganz wichtig, zumindest für mich, war an der Sehnsucht oft, daß ich sie als „Erfüllung“ selbst des Ersehnten wahrgenommen habe. Noch präziser gesagt: Die Sehnsucht selbst war die Erfüllung. Das hat sich inzwischen geändert. Ich nehme die Sehnsucht als Fremdkörper, wie Du es nennst, wahr, einen Schmerz, der mich nicht immer in gleicher Stärke, und auch nicht ununterbrochen, aber doch jeden Tag und fühlbar quält. S o geht es mir. Es ist nichts Schönes mehr an ihr, schön ist nur das, auf dessen Erfüllung sie sich richtet, immerhin.            

Dir war damals, als wir anfingen zu schreiben, das Ideal der glücklichen, selbstbestimmten Frau, das du nach dem Tod deines Mannes hattest, schon abhanden gekommen. Und wie sieht das bei mir inzwischen aus? Es ist irgendwie unwichtiger geworden. Teilweise habe ich es verwirklicht, teilweise spielen inzwischen andere Sachen eine Rolle.

Ja, das ist richtig, und ich habe es, als Du es erwähntest, begeistert aufgegriffen. Du hast mich damals wieder daran erinnert, es hat mich belebt, aus einer unreflektierten Starre geholt. Nun stelle ich mir Deine Frage. Habe ich es verwirklicht? Es ist auf eine völlig andere Weise als jemals gedacht und nur zu einem kleinen Teil meine Realität geworden. Und dies allerdings, da bin ich mir sicher, so gut wie ausschließlich als Folge unseres unermüdlichen Gesprächs. Paradox, wenn ich sage, ich komme nicht zurecht in einem Leben ohne einen Mann (ich bleibe bei der allgemeinen Formulierung von oben), dann sage ich dies mit einer aufrechten inneren Haltung, das bin ich, das „du solltest anders sein“ ist weg. Und so geht es mit etlichen gedanklichen und emotionalen Kleinigkeiten, die sich in meinem Leben täglich ereignen. Paradox deswegen, weil „selbstbestimmt“ und „nicht zurechtkommen“ nicht zueinander zu passen scheinen. Ein selbstbestimmtes Nicht-zurechtkommen. Ja, ich bestimme, daß das meine Person ist.            

Dieses Gefühl des Alleinseins hat viele Facetten, die ich jetzt gar nicht erst versuchen will alle zu beschreiben. Es ist auf jeden Fall zu einem Lebensgefühl geworden, das zu einem (bis jetzt) dauerhaften intensiveren Er-Leben führt (wie ich das schon für die Pubertät beschrieben habe). Und – und damit schließt sich ein weiterer Kreis –: Paradoxerweise ist mein Mann in diesem Alleinsein auf eine sehr unspektakuläre, selbstverständliche, unauffällige Weise mit eingeschlossen (die „gefüllten Leere“ oder die "Präsenz der Abwesenheit"), was ich als sehr wohltuend empfinde. Ich kann ihn vergessen, weil er da ist.

Nun möchte ich aus meinem Brief 91 einen Satz zitieren, zu dem ich selber damals nichts weiter Erläuterndes habe sagen können,

Man sieht sich mit zunehmendem Alter (das scheint mir der Grund für die Veränderung bei mir) zunehmend in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden.

Kurze Zeit später, in einem e-mail-Brief fiel mir dazu eine Situation ein, in der ich bemerkte, daß ich über mein bisheriges Leben keine Auskunft mehr (im Unterschied zu früher) geben wollte. In der vergangenen Woche las ich eine Äußerung, die Anthony Hopkins zugeschrieben wird:    

Keiner von uns kommt lebend hier raus. Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.

Mir geht es um den Satz „Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln“, und ich beziehe diesen Satz ausschließlich auf mich. Ich nehme ihn persönlich. Was ist gemeint? Mir selber ein Monument setzen, indem ich alle Ereignisse meines Lebens zusammentrage, sortiere, abwäge nach Leistung, Glücksgewinn, Entwicklungsprozeß? Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der Systematisierung. Aufschreiben, mich erinnern, in Gegenständen versammeln, anderen Menschen erzählen? Ich schrieb es Dir bereits, Du bist der einzige Mensch, dem ich überhaupt noch von mir, aus meinem Leben erzähle. Ich habe einfach kein Bedürfnis, noch Anderen anderes über mich zu erzählen. Das Bedürfnis ist weg. Wenn ich sterbe, nehme ich dieses Gedenken nicht mit (vermute ich) und niemand sonst gedenkt meiner. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese veränderte neue Situation unter die „Gefüllte Leere“ fassen kann. In dem, was ich jetzt bin, ist ja alles eingeschlossen, was war. „Ich kann es vergessen, weil es da ist“ trifft es genau, nur das „Wohltuende“ empfinde ich nicht dabei. Hat es mit unseren unterschiedlichen Situationen zu tun, denn ich habe mich von meiner Vergangenheit nicht wider Willen verabschieden und anschließend anders weiterleben müssen. Obwohl ich länger versucht habe, meinem Empfinden nachzuspüren, habe ich es nicht gefunden. Das macht nichts.  

F.

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