Brief 102 | Verschiedene Wege

Liebe F.,

Zeit I

Ich verstehe, was Du meinst und möchte dennoch auf das Wort „reduziert“ eingehen, weil ich es ganz gegenteilig als ein Erkennen und als eine Achtung meiner Person empfinde, wenn Du es meine „Liebessehnsucht“ nennst, von der nicht abzusehen ist. Das setzt allerdings voraus, daß ich selber mich darin als die Person, die ich bin und die ich sein will, erkenne. Da ist noch vieles andere in meinem Leben wichtig und auch meine Person ist noch reichhaltiger, vielleicht gehören diese beiden Aspekte zu Deiner Überlegung „wie leben wir trotzdem“?

Ich weiß nicht recht, ob ich das gemeint habe. Es ging mir um ein Thema, das wir ebenfalls schon mal behandelt haben, damals im Zusammenhang mit deinen häufigen kleinen oder manchmal auch größeren Ängsten und Befürchtungen. Ich kriege es nicht mehr ganz zusammen, will jetzt auch nicht danach suchen. Es ging in die Richtung, dass, während du dich in diversen Sorgen verstrickst, dein Leben einfach ganz normal und zwischenfalllos weiterläuft, was bei dir damals sowas wie ein Aha-Erlebnis ausgelöst hat.

Und so sehe ich es auch hier: Mein Leben findet nicht in einer ersehnten Zukunft statt, sondern jetzt. Es geht mir um so etwas wie Achtung vor dem jetzigen Moment, um es etwas pathetisch auszudrücken. Oder vielleicht zeigt sich hier auch einfach nur, dass ich anscheinend kein Talent für Vergangenheit oder Zukunft habe. Ich konnte weder in die Nostalgie meines Mannes eintauchen noch verspüre ich allzu große Befürchtungen, was die Zukunft angeht, ich mache mir also selten „Sorgen“, so wie du. (Manchmal denke ich, das liegt einfach nur an einem Mangel an Phantasie, verbunden mit meiner nun schon etwas überstrapazierten Passivität; ich bin zufrieden mit dem status quo und komme oft gar nicht auf den Gedanken, dass es auch anders sein könnte, egal ob zum Positiven oder Negativen.) Dazu passt dein Zitat im letzten Brief, wir sollten aufhören, uns wie ein Andenken zu behandeln (mehr dazu weiter unten), nur in die umgekehrte Richtung. Dieses Zitat blickt in die Vergangenheit, mir geht es bei meinem Gedanken um die Zukunft. Man könnte in Abwandlung des Zitates vielleicht sagen: Hört auf, euch wie ein unfertiges Projekt zu behandeln. Jetzt, in diesem Moment, bist du vollkommen.

 

Falsche Ideale

Was uns hier übrigens unterscheidet, ist die Zeit. Mir wird es in diesem Moment des Schreibens lediglich als ein Faktum bewusst, ohne daß ich irgendeiner Weise eine Bedeutung darin erkennen kann. Deine „Einsiedlersehnsucht“ begleitet Dein Leben und Deine Betrachtungen über Dein neues Leben von Beginn an, die Auseinandersetzung damit dauert an. Seit dem Tod Deines Mannes sind allerdings auch erst 3 Jahre vergangen. Meine „Liebessehnsucht“ ist neu und hat erst nach Ablauf von guten 6 Jahren begonnen. Was war eigentlich davor? Der Wunsch und das Ziel, mein Leben alleine „meistern“ zu können und das heißt, auch ohne (m-)einen Mann mir ein gutes Alleineleben gestalten zu können. Dieses Ziel ist in dem Moment verschwunden, in dem die Liebessehnsucht auftauchte, und dieses Verschwinden nehme ich als Erleichterung und Entlastung wahr. Ich komme mit dem Alleineleben sehr schlecht zurecht, na und, muß ich denn gut damit zurechtkommen?! Es ist kein Defizit meiner Person, wenn ich es nicht gut kann. Es ist keine Unfähigkeit, meine Seele und meinen Körper nicht selber, nur notdürftig, versorgen zu können. Ich kann’s nicht. Punkt. Das gehört zum Thema der „selbstbestimmten Frau“. Deswegen verschiebe ich Weiteres nach unten.

Ich bin beeindruckt! Einschließlich des „Weiteren unten“, das ich jetzt nicht zitiere, bis auf diesen einen Satz:

Ein selbstbestimmtes Nicht-zurechtkommen. Ja, ich bestimme, daß das meine Person ist.

Die große Transformation, die du dir erhofft hattest, stellt sich eben nicht ein. Schicksalsschläge verwandeln uns nicht in komplett andere Menschen (obwohl es solche Fälle ja geben soll, aber sie sind wohl eher die Ausnahme). Es ist vermutlich eher so oder zumindest bei mir ist es so, dass dieser Bruch in meinem Leben nicht zu einem Bruch in meiner Persönlichkeit geführt hat, sondern im Gegenteil das hervorgebracht oder verstärkt hat, was man meinen Kern nennen könnte, wenn mir dieses Wort nicht so widerstreben würde. Mir fällt der Satz ein: Werden, wer man ist. Genau das hat sich bei mir ereignet und ereignet sich noch. Und das finde ich viel spannender und auch beglückender als eine Transformation. Und wenn ich lese, mit welch großer Entschiedenheit du plötzlich dein Sosein erkennst und versuchst es zu akzeptieren, dann scheint das bei dir ja ähnlich abzulaufen. Du lässt ein falsches Ideal hinter dir, weil du erkannt hast, dass es deinem Wesen überhaupt nicht entspricht. Deshalb auch die Erleichterung und Entlastung?

Ist es nicht seltsam, nicht zu wissen, wer man ist? Es gibt bestimmt Leute, die überhaupt nicht nachvollziehen können, worüber ich hier spreche. Die sind einfach, wie sie sind, ohne groß darüber nachzudenken. Oder aber sie haben keinerlei Zweifel darüber, wie und wer sie sind, sie wissen es sehr genau. Ich hatte diese Selbstgewissheit nie, und nach dem Tod meines Mannes ist die Verunsicherung ganz massiv geworden. Inzwischen neige ich zu der Ansicht, dass es gerade diese Un-Gewissheit ist, die einen Teil meines Wesens ausmacht. Und dieses Anerkennen ist auch für mich eine Erleichterung, im ganz wörtlichen Sinne. Es fühlt sich nicht wie ein Mangel an, sondern sehr leicht, schwebend. Ich muss mich gar nicht festlegen, ich muss kein festumrissener Charakter sein. Bei mir könnte man es vielleicht das Ideal des Stoikers nennen, das ich nun hinter mir lasse, weil ich erkannt habe, dass es das für mich falsche Ideal ist. Kein Wunder, dass das Zitat Montaignes von den buntscheckigen Fetzen es mir angetan hat! Nicht dass das nun mein neues Ideal wäre. Aber es ist ein Gegenentwurf, es zeigt mir, dass man auch anders sein kann. Und das wiederum bestärkt mich in der Ansicht, dass es gar nicht so wichtig ist, auf eine bestimmte Weise zu sein (wobei diese Bestimmung ja oft von außen kommt – im Gegensatz zur von dir betonten Selbstbestimmung), sondern mittlerweile kommt es mir mehr darauf an zu erkunden, wer ich alles bin und sein kann.

 

Zeit II

In der vergangenen Woche las ich eine Äußerung, die Anthony Hopkins zugeschrieben wird:    

Keiner von uns kommt lebend hier raus. Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.

Mir geht es um den Satz „Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln“, und ich beziehe diesen Satz ausschließlich auf mich. Ich nehme ihn persönlich. Was ist gemeint? Mir selber ein Monument setzen, indem ich alle Ereignisse meines Lebens zusammentrage, sortiere, abwäge nach Leistung, Glücksgewinn, Entwicklungsprozeß? Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der Systematisierung. Aufschreiben, mich erinnern, in Gegenständen versammeln, anderen Menschen erzählen? Ich schrieb es Dir bereits, Du bist der einzige Mensch, dem ich überhaupt noch von mir, aus meinem Leben erzähle. Ich habe einfach kein Bedürfnis, noch Anderen anderes über mich zu erzählen. Das Bedürfnis ist weg. Wenn ich sterbe, nehme ich dieses Gedenken nicht mit (vermute ich) und niemand sonst gedenkt meiner. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese veränderte neue Situation unter die „Gefüllte Leere“ fassen kann. In dem, was ich jetzt bin, ist ja alles eingeschlossen, was war. „Ich kann es vergessen, weil es da ist“ trifft es genau, nur das „Wohltuende“ empfinde ich nicht dabei. Hat es mit unseren unterschiedlichen Situationen zu tun, denn ich habe mich von meiner Vergangenheit nicht wider Willen verabschieden und anschließend anders weiterleben müssen. Obwohl ich länger versucht habe, meinem Empfinden nachzuspüren, habe ich es nicht gefunden. Das macht nichts.  

Ja, man nimmt sich immer mit. Und das in mehrfacher Hinsicht: Es geht nichts verloren; aber man kann sich auch von nichts trennen, was einem unliebsam ist. Und schließlich nimmt man sich mit in den Tod, und alles ist weg. Das kann man bedauern. Aber für mich hatte dieser Gedanke immer etwas Tröstliches. Er überkam mich immer, wenn etwas unangenehm war. Ich brauchte keine Angst zu haben – meine Zeit ist begrenzt, das Unglück oder was auch immer dauert nicht ewig. Mittlerweile hat sich das etwas gewandelt. Nun führt dieser Gedanke oft dazu, dass er mir nicht die Begrenzung meiner Zeit deutlich macht, sondern mich sozusagen in den Moment wirft. Irgendwann ist alles weg – was ist dann überhaupt noch wichtig? Da ist keine Vergangenheit mehr und keine Zukunft. Das Einzige, was ich habe, ist dieser jetzige Moment, deshalb liegt in ihm die ganze Fülle des Lebens, eine unendliche Kostbarkeit. Auch wenn das jetzt furchtbar pathetisch klingt, ist es eigentlich eine Binsenweisheit, die diverse Philosophen und Religionen schon seit Jahrtausenden verbreiten. Aber das wirklich selbst zu fühlen, das ist schon ein ganz eigener Zustand ...

So, ich hoffe, durch mein penetrantes Glücksgefasel habe ich dich einmal mehr in deinem Anderssein, deinem Sosein, wie du bist, bestärkt. :-) Wir gehen verschiedene Wege, aber wir gehen sie schon eine ganze Weile gemeinsam. Das ist schön.

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.