Brief 52 | Alles ist gut

Liebe F.,

Volle Null

In der Vorstellung, bis zum Ende meines Lebens, vielleicht noch 20-30 Jahre alleine weiterleben zu müssen, entdecke ich nichts Schönes.

Genau das war mein Gedanke, als ich am ersten Todestag mit meinen Töchtern am Grab meines Mannes stand. Ich fühlte mich geradezu verdammt dazu, nun den – statistisch gesehen noch recht großen – Rest meines Lebens allein bleiben zu müssen. Meine jüngere Tochter muss das gespürt haben, denn sie sagte überraschenderweise: „Ich weiß, es ist dafür noch viel zu früh, aber wenn du doch wieder jemanden kennenlernen solltest, sollst du wissen, dass das für mich völlig in Ordnung ist.“ Und meine andere Tochter stimmte ihr zu.

Ja, es war noch viel zu früh für diesen Gedanken, und auch jetzt noch ist er für mich „wie aus einer mir fernen Welt“. Aber nicht, weil mir inzwischen das Alleinsein so gut gefällt. (Im Gegenteil, ich stecke schon seit mehreren Wochen in einer Tiefphase und habe bis jetzt noch keinen Weg herausgefunden. Wenn ich in meinen letzten Briefen trotzdem Optimismus verbreitet habe, so war das mehr eine Erinnerung an einen schon einmal erlebten Zustand als Beschreibung der aktuellen Wirklichkeit. Da ich diesen Zustand (also den positiven) aber schon mal so lange und so intensiv erlebt habe, habe ich die Hoffnung, dass er sich früher oder später wieder einstellen wird.) Es ist mehr das Gefühl, dass in meinem Leben (noch) kein Platz für einen anderen Menschen ist. Da ist zwar einerseits eine große Leerstelle, andererseits nimmt diese Leerstelle viel Raum ein, sie ist sozusagen „gefüllt“, so widersinnig das klingt. (Wer es kennt: In Picknick am Wegesrand der Gebrüder Strugatzki gibt es leere und volle Nullen. Dies wäre also eine volle Null.)

Dass du so entschieden und klar – inklusive Widerborstigkeit 😊 – deinen Wunsch nach einer neuen Beziehung formulieren kannst, kommt mir wie ein Aufklaren vor. Ich weiß natürlich überhaupt nicht, ob das auch deinem Empfinden entspricht, es ist also komplett meine Interpretation. Aber ich stelle mir vor, dass du einerseits durch den Kontrast zu mir besser erkennst, was du selbst denkst, fühlst, wünschst, und du andererseits, unabhängig von unserem Gespräch, einfach durch den Verlauf der Zeit, eine Entwicklung durchgemacht hast, die lange Zeit unbemerkt verlief, aber jetzt offen zutage tritt.

Nein, ich hatte vermutet, die Befürchtung, Du würdest das Grundvertrauen in Deine Kraft verlieren, es habe sich zwischenzeitlich in „Luft aufgelöst“.

Ja, manchmal, so wie gerade jetzt während dieser „dunklen“ Tage, habe ich auch die Befürchtung, dieses Grundvertrauen könne sich irgendwann einmal erschöpfen. Ist wirklich alles so positiv für mich oder ist das nicht eher ein Pfeifen im Walde, eine ziemlich anstrengende Veranstaltung also?

 

Relationen

Der „Stolz“, den Du zweimal anführst, zuerst in Verbindung mit Deinem „außergewöhnlichen Schicksal“, der interessiert mich. Du meinst nicht nur den relativ frühen Tod Deines Mannes, sondern auch die lange Ehezeit zuvor, die den zeitlich größten Teil Deiner bisherigen Lebenszeit ausgemacht hat? Wenn ich es näher bedenke, zielt meine Frage auf das „außergewöhnliche Schicksal“.[…]

*Beim abschließenden Lesen meines Briefes fällt mir jetzt ein, daß Du mit dem „außergewöhnlichen Schicksal“ wahrscheinlich an die „Allgemeinheit und Einzigartigkeit“ des Todes anknüpfst. Überall auf der Welt sterben zu jedem Moment Menschen und für diejenigen, denen der liebste Mensch stirbt, ist es, als stürze die Welt ein. „Außergewöhnlich“ wäre lediglich ein anderer Ausdruck für mein Schicksal? Dies in Anlehnung an mein ("herrliches") Leben.  

Zum „außergewöhnlichen Schicksal“: Da ist zum ersten der mehr vordergründige Aspekt, dass es in meinem Umfeld tatsächlich außergewöhnlich ist; ich kenne kaum jemanden, der den Partner oder die Partnerin verloren hat. Da du dein früheres Verhalten anderen Verwitweten gegenüber beschreiben kannst, ist das bei dir anders?

Zum zweiten habe ich – und hier triffst du es mit dem zweiten zitierten Absatz ziemlich genau –, wenn ich doch einmal von einem Todesfall in meinem näheren Umfeld erfahren habe, das immer als etwas … (jetzt musste ich länger nachdenken, um ein passendes Wort zu finden) … als etwas bestürzend Einzigartiges, Ultimatives empfunden, unabhängig von den jeweiligen weiteren Umständen. Und in gewisser Weise bewunderte ich die Menschen, die so etwas erlebten und durchlebten, einfach für die Tatsache, dass sie dieses Unbegreifliche durchstanden, wie gut oder wie schlecht auch immer. Sie waren für mich wie entrückt in eine Sphäre, zu der ich keinen Zugang hatte und in der sich allerlei Geheimnisvolles ereignete.

Nun war ich also selbst in diese Sphäre gekommen, und auch wenn sich darin gar nichts so sehr Geheimnisvolles abspielt, so empfinde ich sie doch als etwas Herausgehobenes. Das Leben darin ist auch jetzt noch, nach zwei Jahren, nicht normal, nicht alltäglich für mich. Ich empfinde das Leben darin und ich empfinde auch mich selbst dabei als etwas Besonderes. Vielleicht kommt daher der etwas morbide Stolz?

Der doppelte Ehering ist das unauffällige, aber doch sichtbare Zeichen für mein Leben in dieser besonderen Sphäre. (Ich merke, wie die Erinnerung an den Strugatzki-Roman mich weiterträgt. Die erwähnten leeren und vollen Nullen werden in der „Zone“ gefunden, einem Gebiet mit Überbleibseln von Außerirdischen, voller Geheimnisse, Gefahren und Verheißungen.) Ich habe den Ring aber auch zu Lebzeiten meines Mannes schon gern getragen, er ist das Symbol unserer Verbundenheit, unserer sehr langen Verbundenheit. Er sagte „Ich werde geliebt“, und nun sagt der doppelte Ring „Ich bin geliebt worden“. Der Stolz darauf hat nun aber gar nichts Morbides, das ist in der Kombination „Stolz und Freude und Liebe“ ein klares, einfaches Gefühl.

Um den Faden wieder aufzunehmen, den ich verloren habe – ist es ein Schicksalsschlag, d.h. „außergewöhnlich“*, wenn die Ehepartner mit Ende 60 sterben und die Witwen Anfang 60 sind? Oder ist es nicht schon eher „normal“? Ich bin so unentschieden, weiß nicht wieso und auch nicht, warum ich die Frage für mich gerne geklärt hätte. Der Tod mit 67 Jahren (mein Alter jetzt) ist nicht „unnormal“ und zugleich viel zu früh, zu früh …

Kann man diese Frage überhaupt “klären“? Muss man sie klären? Ich tendiere in letzter Zeit ja dazu, Gegensätze einfach stehen zu lassen.

Zumal wenn es um etwas so Relatives wie Zeit geht, ist es ja besonders schwierig, eine eindeutige Bestimmung zu treffen. Mit 67 Jahren (dein Mann) oder mit 68 (meiner) zu sterben ist bei uns, mit unserer durchschnittlichen Lebenserwartung recht früh. Und mit Anfang 60 Witwe zu werden finde ich definitiv zu früh. Ich fange bei solchen Gedankengängen immer schnell mit dem Vergleichen an – aber in welche Richtung soll ich vergleichen? Da sind auf der einen Seite die Paare, die sehr viel länger zusammen alt werden, und auf der anderen Seite diejenigen, die ihren Partner schon sehr viel früher verlieren. Was hilft mir ein solcher Vergleich? Gar nichts. Er wirft mich nur auf meine eigene Situation zurück, die nun einmal so ist, wie sie ist. Ich bin dann irgendwann auf den Gedanken gekommen, dass wir trotz dieses relativ frühen Todes eine sehr lange Zeit zusammen gewesen sind, über 40 Jahre. Und dieses Verhältnis von relativ frühem Tod zu langem Zusammensein ist für mich viel entscheidender als der Vergleich mit anderen Paaren.

Nachtrag: Heute las ich das Wort „Kinderhospiz“. Das macht alle meine Überlegungen hinfällig. Mein Mann wurde 68 Jahre alt, wir waren mehr als 40 Jahre zusammen. Alles ist gut.

B.

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