Liebe F.,
Nein, tabula rasa zu machen war nicht meine Absicht gewesen, nur ein Innehalten. Insofern ist es schön, dass du aus diesem „Brief ohne Inhalt“ doch Funken schlagen konntest.
Auf einen Brief ohne Inhalt folgt nun von mir ein Brief ohne Zitate . :-)
Innen und Außen?
Ich bin etwas überrascht, dass du mein „Modell“ als Beziehung zwischen Innen- und Außenwelt verstehst, denn daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich habe es zwar eingeleitet mit dem Vergleich von anarchischen Strukturen im Innern einer Gemeinschaft und nicht-anarchischen Strukturen in ihrer Umgebung, insofern haben wir hier ein Innen und ein Außen. Aber ich finde die Begriffe Innen und Außen an sich schwierig, egal in welchem Zusammenhang, auch im Kontext von Psyche und Umwelt. Wo will man da die Grenzen ziehen? Gut, es ist ein Konstrukt, wie du sagst, ein Modell. Aber für mein Empfinden ist diese Unterteilung kein besonders glücklicher Ansatz für ein Modell. Es findet so viel in einem Zwischenbereich statt oder im Austausch oder als Wechselspiel – Atmen, Sinneseindrücke, Gedanken, Handlungen … eigentlich mein gesamtes Leben.
Natürlich kann man zu Erklärungszwecken gedanklich Grenzen ziehen, z.B. ist meine Haut eine Grenze zwischen meinem Körperinnern und der Außenwelt. Aber ist sie das wirklich? In einer Hinsicht ja (sie ist eine Hülle, die dafür sorgt, dass ich nicht zerfalle oder zerfließe), in anderer Hinsicht aber nicht (wenn es z.B. um krankmachende Umwelteinflüsse geht, dann ist sie es oftmals gerade nicht, sondern sie lässt Schadstoffe durch nach innen; oder wenn ich schwitze, dann lässt sie Flüssigkeit und Duftstoffe durch nach außen). Und was wird da überhaupt umhüllt? Mein Inneres ist ja gar kein homogenes „Ich“, sondern ein Biotop mit Millionen Lebewesen – Bakterien, Pilzen, Viren … ich finde diese Vorstellung faszinierend, dass ich gar nichts Festumrissenes, Einheitliches bin, in dem es nur „mich“ gibt, sondern eine ganze bevölkerte Welt, in der so viele Lebewesen ihr eigenes kleines Leben führen, ihren ganz eigenen Beschäftigungen nachgehen!
Innen und Außen sind also für mich eher Begriffe für Funktionen, die man in bestimmten Zusammenhängen beschreiben will, denen aber keine tatsächlichen Räume entsprechen. – Aber wie dem auch sei, ich verwende Innen und Außen ja selbst oft genug; nur wenn ich genauer darüber nachdenke, löst sich das für mich auf. Das ist aber bei so gut wie jedem Thema so.
Standortbestimmung
Im Laufe der vergangenen Tage bin ich zurück auf Start gegangen und habe darüber nachgedacht, wie wir hier überhaupt angefangen haben. Kann sein, dass ich jetzt wichtige Themen unterschlage, aber für mich ist die große Linie, dass wir so etwas wie Standortbestimmungen versucht haben. Oder ich zumindest habe das versucht, weil ich damals, relativ kurz nach dem Tod meines Mannes, auf schwankendem Boden gestanden habe. Du warst da schon weiter, einfach durch die längere Zeit, die seit dem Tod deines Mannes vergangen war.
Wo stehe ich heute? Wo stehst du heute? Abgesehen von deiner Liebessehnsucht, abgesehen von meiner Einsiedlersehnsucht. Aber kann man davon absehen? Ich will jedenfalls weder dich noch mich auf diese Sehnsüchte reduzieren. Du hast noch keinen Mann gefunden, ich bin noch nicht ins Kloster eingetreten. Wie leben wir trotzdem?
Denn wir leben ja. Wobei ich mit Leben nicht die äußeren Umstände meine, sondern innere [! jaja, es lebe die Inkonsequenz :-)]. Wir leben ja nicht trotz dieser Sehnsüchte, sondern mit ihnen, sie sind kein Fremdkörper, sondern ein Teil von uns, ein sehr wichtiger sogar. (Wobei deine wohl drängender sind als meine, aber ich will sie jetzt einfach mal gleichsetzen.) Aber hier unterscheiden wir uns vielleicht (mal wieder): Ich möchte meine Sehnsucht gar nicht loswerden, sie nicht erfüllen. Sie ist für mich viel wichtiger als ständiger Anlass, mir darüber klar zu werden, wie es mir gerade jetzt geht, nicht, wie es mir irgendwann vielleicht gehen könnte. Gerade weil ich sie nicht erfülle, obwohl sie mir so wichtig ist (und eine Erfüllung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, das hängt ja ganz von mir selbst ab, im Gegensatz zu deinem Fall), dient sie mir sehr viel mehr dazu, immer wieder darüber nachzudenken und darauf aufmerksam zu sein, ob mein Hier und Jetzt so ist, dass es mir guttut, oder ob ich da eventuell etwas ändern müsste.
Dir war damals, als wir anfingen zu schreiben, das Ideal der glücklichen, selbstbestimmten Frau, das du nach dem Tod deines Mannes hattest, schon abhanden gekommen. Und wie sieht das bei mir inzwischen aus? Es ist irgendwie unwichtiger geworden. Teilweise habe ich es verwirklicht, teilweise spielen inzwischen andere Sachen eine Rolle.
In meiner letzten E-Mail hatte ich über das Gefühl der Selbstverständlichkeit geschrieben, das man hat, wenn alles „so ist, wie es sein soll“. Ich zitiere der Einfachheit halber mich selbst:
Auf dem Weg zum Supermarkt sah ich ein älteres Paar quer über die Straße gehen, die Frau vorweg, der Mann hinterdrein. Und ich hatte plötzlich den Gedanken, dass sich diese Frau ganz selbstverständlich in der Welt bewegt, und das tut sie, weil sie nicht allein ist. Ich tue das oft nicht. Ich habe oft (nicht immer) das Gefühl im Hinterkopf: „Ich bin hier jetzt allein, früher war das anders.“ Das ist gar nicht mal von einem schmerzhaften oder bedauernden Gefühl begleitet, manchmal genieße ich das sogar; aber ich bin mir dieser Tatsache, dass ich nun allein bin, sehr oft bewusst.
Dieses Gefühl des Alleinseins hat viele Facetten, die ich jetzt gar nicht erst versuchen will alle zu beschreiben. Es ist auf jeden Fall zu einem Lebensgefühl geworden, das zu einem (bis jetzt) dauerhaften intensiveren Er-Leben führt (wie ich das schon für die Pubertät beschrieben habe). Und – und damit schließt sich ein weiterer Kreis –: Paradoxerweise ist mein Mann in diesem Alleinsein auf eine sehr unspektakuläre, selbstverständliche, unauffällige Weise mit eingeschlossen (die „gefüllten Leere“ oder die "Präsenz der Abwesenheit"), was ich als sehr wohltuend empfinde. Ich kann ihn vergessen, weil er da ist.
B.
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