Brief 54 | Stimmen

Liebe F.,

Leere und Fülle

Liebe B., würdest Du mir ein bisschen mehr über die „gefüllte Leerstelle“ erzählen? Konkretisiert Du sie an einem Beispiel? (ich kenne weder ein Buch von den Strugatzkis noch eine Verfilmung; den Namen habe ich eben googeln müssen). Ich lese „die Leerstelle, die einen großen Raum einnimmt“ und bin von diesem Gedanken unmittelbar, ohne jede Überlegung, fasziniert. Vermutlich rühren mein „Anspringen“ und meine Wißbegier daher, daß ich die Ahnung habe, wenn ich den Gedanken verstünde, wäre mir dies eine Hilfe – mich und meine gegenwärtige Situation besser zu verstehen. Ich schreibe Dir die beiden Ideen, die ich dazu habe, obwohl ich glaube, daß sie nur annähernd erfassen, was Dir vorschwebt. Eine allgemeine Formulierung wäre die „Präsenz der Abwesenheit“, die sich konkretisiert zum Beispiel in dem Bild des Frühstückstisches zeigt, auf den ein zweiter Teller und eine zweite Tasse gestellt werden, die ungenutzt bleiben ... und auch nie mehr genutzt sein werden.  

„Präsenz der Abwesenheit“ trifft es sehr gut, das Beispiel dagegen ist mir zu konkret. Die Leere, die ich meine, wird nicht symbolisiert, sondern ist tatsächlich vorhanden. So wie bei japanischer Tuschmalerei vielleicht, bei der der größte Teil des Papiers frei bleibt. Aber da fehlt nicht etwa etwas, es ist nicht unvollendet, sondern im Gegenteil, diese freie Fläche hat sowohl ästhetische als auch inhaltliche Bedeutung. Die Andeutung der Landschaft auf dem nebenstehenden Bild ist schön, aber auch die große leere Fläche darüber (die mehr ist als der Himmel) ist schön. Wenn man das Bild in der Mitte durchschneiden würde, hätte man zum einen eine zwar ganz nette, aber nicht besonders herausragende Landschaft (in der auch hier schon die freien Flächen Bedeutung haben) und zum anderen eine nichtssagende leere Fläche. Aber in ihrer Gesamtheit, in ihrer wechselseitigen Bezogenheit entsteht die Vollkommenheit von Fülle und Leere. Und so empfinde ich das Fehlen, das Nichtmehrdasein meines Mannes und unseres gemeinsamen Lebens nicht nur als Verlust, sondern auch als eine starke Kraft. Da ist ja nicht nur Trauer um das Verlorene, sondern auch Wissen um das Gewesene. Diese leere Fläche, die es jetzt in meinem Leben gibt, ist ja gefüllt – nicht mit der Erinnerung, das zwar auch, aber das meine ich hier nicht; sondern ich selbst bin erfüllt, geprägt durch dieses gemeinsame Leben. Das ist also nicht etwas Vergangenes, sondern sehr Gegenwärtiges.

Du kommst, wenn ich das richtig verstehe, gegen Ende deines letzten Briefes an einen ähnlichen Punkt: Im Vergleich mit Menschen, die keine langjährige Zweierbeziehung kennengelernt haben, wird dir bewusst,

daß ich mein bisheriges Leben und das Gute, das mir widerfahren ist, nicht achtlos zertrampeln sollte.

Das ist der Punkt, um den es mir geht: Ich habe zwar etwas verloren, aber positiv gewendet bedeutet das auch: ich habe etwas gehabt. Dass nichts ewig währt … nun ja … das ist ein anderes Thema.

 

Fühlen und Denken

„Alles ist gut“ verfehlt bei mir seine Wirkung nie. Die drei Worte heilen meine unfrohe Seele -mein Gott, welch ein Pathos!- Meine ganze Verwirrung, die Traurigkeit, die Unzufriedenheit, die Maßlosigkeit, das Nicht-Wissen, sie sind hineingenommen und werden befriedet.

Das freut mich! Und ja, mir geht es ähnlich. Ich fühle mich dann wie ein Kind, das in den Arm genommen wird und seinen ganzen Kummer erleichtert einem Erwachsenen überlassen kann, in dem unbedingten Vertrauen, dass dieser allmächtig ist und alles wieder gut und heil machen wird. (Falls ich nicht gerade in einer bockigen Stimmung bin und denke: „So ein Quatsch! Nichts ist gut.“ Oder: „Nie ist alles gut.“)

Verwundert haben mich die Worte „Maßlosigkeit“ und „Nicht-Wissen“. Kannst du die noch näher erläutern? Besonders die Maßlosigkeit?

 

Über einen Satz aus deinem Brief zuvor habe ich zwischenzeitlich länger nachgedacht:

Insgesamt, so würde ich es ausdrücken, habe ich das Alleineleben nicht „angenommen“ als mein Leben.

Was genau heißt „nicht angenommen“? Praktisch, also im Lebensvollzug, führst du dieses Leben allein ja schon längst, und das seit vielen Jahren. Es wurde dir anfangs zwar aufgezwungen, aber da du dich weder umgebracht hast noch, soweit ich weiß, aktiv nach einem neuen Partner gesucht hast, hast du das Alleinleben in diesem praktischen Sinne also angenommen. Das kann also nur bedeuten, dass du es „theoretisch“, also gedanklich-emotional ablehnst. Das heißt, du lebst ein Leben, aber sagst dir die ganze Zeit: „Ich will das gar nicht!“?

Wie ist das bei mir? Ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Leben wirklich bejahe. Aber ich wehre mich auch nicht dagegen. Ich nehme es hin. Darauf läuft es bei mir anscheinend immer wieder hinaus. Es ist in der Ordnung der Dinge, dass Menschen sterben, dass das Leben nicht nach meinen Wünschen verläuft, dass es holpert, dass es manchmal traurig und manchmal schön ist, manchmal schwer und manchmal leicht … Warum sollte ausgerechnet ich aus der Zeit fallen?

Inwieweit helfen solche Gedanken? Mir kommt die „giftige Stimme“ aus deiner letzten E-Mail in den Sinn:

Und eine giftige Stimme in mir setzt noch drauf „nichts weiter als Schönrederei“.

Du hattest mal sinngemäß geschrieben, die Veränderung der Gefühle müsse über die Veränderung der Gedanken laufen, und ich weiß noch, dass ich mich damals flüchtig darüber gewundert hatte. Doch nun mache ich genau das, und es fühlt sich für mich richtig an. Ja, es ist Rationalisieren. Ja, es ist in gewisser Weise der Versuch, sich selbst etwas schönzureden. Aber zumindest bei mir ist es so, dass das tatsächlich hilft. Diese Gedanken fühlen sich für mich richtig an. Denken und Fühlen gehören zusammen und wirken wechselseitig aufeinander ein. Na ja, eigentlich banal.

Damit will ich aber nicht dem zwanghaften Positivdenken das Wort reden. Es wird nicht alles leichter dadurch, dass man sich das einredet. Aber es wird auch nichts besser dadurch, dass man in seinen Gefühlen versinkt. Mit Fühlen allein kommt man nicht aus den Gefühlen heraus. So wie man durch Denken allein nichts an seinem Handeln verändert. Erst wenn man das Gedachte sich auch gefühlsmäßig zu eigen macht, findet eine Veränderung statt. Und so, wie ich manchmal spüre: Ja genau, das fühlt sich jetzt richtig an, so weiß ich auch bei manchen Gedankengängen intuitiv: Ja genau, dieser Gedanke fühlt sich richtig an. Er ist stimmig.

Stimmigkeit ist hierfür ein sehr schöner Ausdruck, weil er beides vereint, Verstand und Gefühl, Körper und Geist. Darin enthalten sind sowohl das Stimmen im Sinne von Richtigsein als auch das Musikalische, das Zusammenstimmen von Tönen. 🎵

B.

Sesshu Toyo (1420–1506): Landschaft

The Cleveland Museum of Art

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