Liebe B.,
Was bleibt nun noch übrig? Du hast in deinem letzten Brief drei Themen behandelt, und alle drei habe ich jetzt abgebrochen bzw. deinem Abbruchwunsch zugestimmt. Ich finde es schön, wenn Gespräche auch mal ins Stocken geraten, wenn Raum für neue Gedanken entsteht. Hier im Internet ist das natürlich etwas blöd, trotzdem möchte ich diese Lücke, diese Stille nicht gleich wieder füllen.
Ich habe dazu 2 Bilder.
Das Erste: Zwei Tänzerinnen, die ihre Bewegungen in der Bewegung selbst unablässig wechselseitig einander angleichen, was eine hohe Konzentration erfordert, weil keine der Beiden „führt“ und keine der Beiden „folgt“. Die Angleichung ist eins mit der Bewegung (diese Übung habe ich vor einigen Jahren im Rahmen eines Kurses mit tänzerischer Gymnastik kennengelernt). Dein Brief ist der Moment, in dem eine der Tänzerinnen abrupt stehenbleibt, die Bewegung einstellt und die andere Tänzerin ruhig und und ein wenig herausfordernd ansieht. Die Andere ist dermaßen überrascht und verblüfft über den unerwarteten Bewegungsstillstand, daß sie im plötzlichen Abbremsen ihres Bewegungsflusses fast über die eigenen Füße stolpert. Indem sie das bemerkt, lacht sie.
Das Zweite: Zwei Frauen, die in der Abenddämmerung auf einer Bank sitzen; die Bank steht auf einer Anhöhe, direkt davor verläuft ein sandiger schmaler Feldweg, und der Blick geht hinunter über eine sanfte weite Hügellandschaft, die geprägt ist von großflächigen Feldern und Wiesen. Dazwischen ragen Bäume kleiner Wäldchen heraus. Sehr fern kann man die Silhouetten winziger Dörfer sehen. Die beiden Frauen haben fortwährend geredet und geredet, hitzig, ruhig, in schnellen und langsamen Tempi – und auf einmal ist ein Satz gesagt, an den sich Schweigen anfügt. Es ist angenehm still und man hört nur noch das letzte Tageszwitschern einiger Vögel.
(Meine Bemühung, ein passendes Gedicht oder ein passendes Bild dazu zu finden, ist, so nehme ich an, gescheitert, weil ich das Bild so klar vor mir sehe, daß nichts ihm gleichkommen kann.)
Die zwei Bilder sind in zeitlich umgekehrter Abfolge aufgetaucht, vermutlich, weil es zur Überwindung des Überraschungsmomentes länger als einen Moment und vor allem der Ruhe bedurfte.
Neues ist mir nicht zugeflossen, was sicher auch daran liegt, daß ich auf eine bzw. zwei Deiner Abbruchstellen, trotz Abbruches, eingehen möchte, weil sie mir am Herzen liegen.
Zuerst ein Nachtrag zum „still face“-Experiment -
Nein, dieses Experiment kannte ich nicht, und es zu sehen ist mir durch Mark und Bein gegangen.[...]
Meinen Hinweis werde ich rechtfertigen, d.h. begründen. Mir war das Experiment im Zusammenhang mit der Bedeutung, die unsere Kindheitserlebnisse für das spätere Leben haben, eingefallen und neulich, als ich es nach langer Zeit wieder ansah, war ich, obwohl ich es kannte, überwältigt von der Macht, die das Verhalten der Mutter auf das Erleben des Kindes hat. Daran anschließend habe ich mir überlegt, daß Menschen sich untraumatisiert zu Personen mit einem reichen Gefühls- und Verhaltensrepertoire entwickeln, kann nur daran liegen, daß in einem normalen Kinderleben mit ganz normalen Eltern solche Situationen zwar gelegentlich vorkommen (die Eltern sind entnervt, mit ihren Problemen beschäftigt, schieben das Kind mehr oder weniger (un-)sanft zur Seite, beachten es nicht), daß sie durch etliche andere Erlebnisse allerdings ausgeglichen werden oder überhaupt der Lebensrahmen insgesamt liebevoll und zugewandt ist, sodaß diese unglücklichen Erlebnisse meistens nicht prägend werden. Das ist auch der Grund, aus dem ich das Experiment für ethisch vertretbar halte, denn es hat damals zur Zeit seiner Veröffentlichung eine Diskussion über seine Zulässigkeit ausgelöst. Und da ich es für ethisch vertretbar halte, konnte ich hier auch darauf hinweisen.
Weiter zur Innen- und Außenwelt
Das wäre dann etwas Ähnliches wie mein „Bilddenken“? Ich verinnerliche damit zwar kein Objekt, aber ich vergegenständliche mir ein ansonsten unsprachliches, deshalb oft eher diffuses Gefühl oder Verhalten. (Mein Pendelbild zum Beispiel.)
Ja, so interpretiere ich zumindest die Objektbeziehungstheorie, um sie akzeptieren zu können. „Objekte“ als Symbole. Aber etwas anderes ist mir wichtiger, weil ich an dieser Theorie nicht hänge. Aus meiner Sicht ist es eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen der Innenwelt (eines Individuums) und der Außenwelt (hier beschränkt auf die menschliche Außenwelt) zu konzipieren. Es ist ein Modell. Man „konstruiert“ die Psyche als eine Instanz, die einen bestimmten Bereich abdeckt, und erklärt im Rahmen dieser Konzeption das Zusammenspiel zwischen innen und außen. Eine andere Möglichkeit ist zum Beispiel Dein Modell, das ich aus Deinem Brief 94 nochmal in voller Länge zitiere (Du entwickelst darin einen Gedanken, den ich nicht zerschneiden möchte):
Ich stellte mir eine anarchische Kommune vor, die zwar im Innern ganz gut funktioniert, aber im Außen auf gänzlich andere Strukturen trifft und auf lange oder vermutlich eher kürzere Sicht daran scheitert. Deshalb meine Hoffnung, dass die Welt vielleicht doch auch zumindest teilweise anarchisch aufgebaut ist, hier also nicht zwei völlig unvereinbare Strukturen aufeinanderprallen. Vermutlich trifft mal wieder beides zu (sowohl als auch! :-)): Es gibt anarchische und hierarchische Strukturen. Aber vielleicht ist es besser ausgedrückt, wenn man von horizontal und vertikal spricht. Einfach zwei verschiedene Richtungen, die beide ihre Berechtigung haben. Es kommt dann mehr auf das Wie an. Also, um mögliche negative Aspekte zu nennen: Wie regellos wirkt sich eine horizontale Struktur hier gerade aus? Wie repressiv wirkt sich eine vertikale Struktur hier gerade aus? („Hier gerade“ ist mir dabei wichtig, denn das ist nichts Statisches, sondern veränderlich.) Positive Aspekte könnten sein: Wieviel Neues entsteht gerade aus der horizontalen Offenheit? Wieviel Stabilität bietet gerade die vertikale Struktur?
Es geht ebenfalls um eine Erklärung der Beziehung zwischen Innenwelt und Außenwelt (bei Dir zur gesamten Außenwelt), die Du in einem komplett anderen, einem geometrisch-abstrakten Modell zu erfassen versuchst, in dem das Konstrukt „Psyche“ überhaupt nicht vorkommt. Stattdessen arbeitest Du mit linear verlaufenden, einander entgegengesetzten Strukturen, an deren Begegnungspunkten so etwas wie „Kraftfelder“ (behelfsmäßig, weil mir kein besserer Begriff einfallen will) entstehen. Mir ist der Gesichtspunkt wichtig, daß es sich um Modelle handelt, um Konstruktionen. Das ist auch der Grund, aus dem ich mir erlaube, das „innere Objekt“ meiner Vorstellung anzupassen, ohne mich weiter darum zu kümmern, ob S. Freud oder M. Klein meiner Auslegung zugestimmt hätten.
Zum Schluß möchte ich Deinen Brief und die Beziehung zwischen der Innen- und Außenwelt über den Begriff der tabula rasa (einer unbeschriebenen Wachstafel) zusammenfügen. Die „Väter“ der lat. Kirche haben sich die Seele wie eine tabula rasa gedacht, die mit den Erkenntnissen, die die Sinne (hauptsächlich die Augen) ihr von der Außenwelt zutragen, be-schrieben wird. Dein Brief löscht die Beschreibung der Wachstafel zum größten Teil, sodaß sie leer für eine neue Beschriftung wird -und dennoch, wie man an meiner Antwort merkt, sind genügend Spuren geblieben. Ein Tabula rasa machen im umgangssprachlichen Sinne wars –das finde ich schön- nicht.
Du bist dran!
F.
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