Brief 89 | Ansichts-Sache

Liebe B.,

da ich mal wieder einen Sättigungspunkt erreicht habe, was den immer tiefer gehenden Blick in meine Seele anbelangt, ist mir der heutige Brief unter der Hand ins ziemlich Theoretische und damit Distanzierte gerutscht.

Deine akribische Betrachtung des Gespräches der Seele mit sich selbst, einen Teil der Entscheidungsfindungsprozesse betreffend, fand ich ja ausgezeichnet, und ich kann nachvollziehen, daß es Dir nun, nachdem Du die Lupe exzessiv gebraucht hast „genug damit ist“. Zumal meine Antwort(en) wenig bis gar nicht inspirierend, d.h. weiterführend waren, wie ich selbst bei nüchterner Einschätzung feststellte. Und da Du das „Distanzierte“ erwähnst, fallen mir die gegenläufigen Bewegungen ein, denen wir in der Beziehung zu anderen Menschen folgen (wir haben darüber einmal im Hinblick auf die Ehepartner gesprochen); genau s o folgen wir ihnen wohl auch in der Beziehung zu uns selbst. Aufeinanderzu und voneinanderweg. Annäherung und Entfernung. Im Schreiben wird man sich dessen nur eher gewahr als im weniger reflektierten täglichen „inneren“, d.h. dem unausgesprochenen Dialog.

Psychologie

Ich zitiere mich selbst, Deine erste kurze Antwort dazu, damit der Zusammenhang zum Folgenden erhalten bleibt.    

Ich bin nicht allein, weil das Schicksal in Gestalt einer Person ein Gegenüber ist. Auf diese Aspekte bin ich gekommen, als ich mir den Vorteil einer solchen Weltsicht überlegte. „Ich bin nicht allein“ scheint mir nach einigen Tagen des Überlegens der entscheidende Punkt. Besser noch mich abhängig und abgelehnt zu fühlen als alleine im Universum zu existieren. Das exakte Gegenbild zu Deinem starken Autonomiebestreben.     

So exakt, dass ich es kaum nachvollziehen kann.

Ich habe nun meinerseits mehrfach versucht, mir mein Leben in einem gleichgültigen, interesselosen Universum (der Aspekt des Alleinseins ist hierbei nachrangig, es geht mir an dieser Stelle um das Universum als Unbelebtes) vorzustellen und habe dabei etwas Aufschlussreiches entdeckt. Für einen Moment ging es gut und dann trat eine Stimme auf (ein Gedanke), die sagte, daß dies aber nicht „wahr sei“/“so ist es nicht“ und noch mehr, es war eine Verbotsstimme. „Du darfst so nicht denken“. An dieser Stelle liegt die Psychologisierung natürlich auf der Hand. Der urteilssprechende Vater, der auf verdammt oder geliebt tippt. Die Psychologisierung scheint mir auch deswegen richtig, weil es mir bei meinen Versuchen, Deine Weltsicht einzunehmen, gar keine Mühe machte, die Erde und die Milliarden auf ihr lebenden Menschen zu sehen, die ohne Bestimmung durch ein Schicksal nach Menschenart ihren Weg gehen. Es ist also eine Auffassung, die nur mich bzw. mein Leben betrifft, nicht das Universum und die Menschen generell. Das ist in Verstandeshinsicht selbstverständlich nichts als albern, denn wie und warum sollte ich im Unterschied zu allen anderen Menschen einem interessierten Schicksal ausgesetzt sein! Auf psychologisierendem Pfad zu gehen bin ich allerdings nicht bereit, weil es völlig gleichgültig ist, ob ich ohnmächtig in Hinsicht auf das Schicksal in Gestalt des Vaters oder des Zufalls bin, und ebenso ist es für meine (An?)-Klage egal, wohin sie sich wendet. Damit hat sich allerdings meine allgemeine Weltsicht auf eine subjektive Vatergeschichte verdichtet.

Teil und Ganzes  

[...] – ich bin doch nicht allein im Universum, auch ohne ein mich ganz persönlich meinendes Schicksal! Vielleicht bin ich in einem relativen Sinn, in meinem Alltagsleben, allein. Da hilft mir dann aber auch kein Schicksal heraus. Aber in einem absoluten Sinn bin ich es nicht. Ganz im Gegenteil. Da ich sozusagen unscharfe Ränder habe, bin ich mehr mit der Außenwelt verbunden, als es mir meist bewusst ist. Was meine ich damit? Ich stehe sowohl auf körperlicher als auch auf geistiger und seelischer Ebene in einem ständigen Austausch mit der Welt. Nichts geschieht, was nicht Einfluss auf mich hätte, und nichts tue ich, was nicht Einfluss auf die Welt hätte. Das fühlt man im Alltag meist nicht, weil man sich als abgeschlossenes Ich empfindet. Aber dieses Ich ist ein Konstrukt. Zwar ein notwendiges und nützliches und als Konstrukt wirklich existierendes Phänomen. Aber eben keine „Wesenheit“ oder wie man das nennen will, sondern etwas, was im Austausch mit der Welt entstanden ist und sich im Austausch weiterentwickelt.

Wenn Du schreibst, das „Ich“ sei ein „wirklich existierendes Phänomen“ und wir empfänden im Alltag meist nicht unsere Eingebundenheit in die Welt, dann nimmst Du mir damit 2 Einwände, mit denen ich Dir hatte antworten wollen, aus der Hand. Dennoch möchte ich das „Ich“ stärken bezüglich seines Vorranges. Gäbe es das „Ich“ nicht, Du wüsstest von der Welt einerseits und den „Ichs“ andererseits nicht einmal; Du kannst zwar feststellen und wissen, daß alle Menschen mit dem Tod und mit der Trauer konfrontiert werden, und zugleich gewinnen diese beiden Tatsachen Bedeutung überhaupt nur in Bezug auf Dich. Wärest Du als „Ich“ nicht potentiell betroffen vom Tod oder von der Trauer, so wären diese Tatsachen für Dich bedeutungs-los. Nur in Hinsicht auf Dich, also das „Ich“, haben sie überhaupt Bedeutung. Worauf will ich hinaus? Was nützt es mir zu wissen, daß nichts Meines ist –weder die Sprache noch die Gedanken- und daß ich mit allem verbunden bin, wenn doch zugleich jeder Gedanke und jedes Gefühl überhaupt nur in die Welt kommt durch mein Bewusstsein, also mein „Ich“. Es ist ganz und gar unmöglich für uns, von unserem „Ich“ abzusehen, weil nichts mehr bliebe von uns, nur eine stoffliche Hülle.

Dieses Ich gehört sozusagen der Welt, nicht mir. Seit ich mir das klargemacht habe, habe ich das starke (wenn auch im Alltag nicht immer bewusste) Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, eingebettet zu sein in das Universum, wenn man es so groß nehmen will. Das hat zur Folge, dass ich mich eher als etwas Durchlässiges empfinde, durch das das Leben mehr oder minder ungehindert hindurchfließen kann (nicht wir leben unser Leben, das Leben lebt uns – du erinnerst dich vielleicht an die kleine Diskussion im Philosophieforum?), und nicht als eine abgeschlossene Person. Und je mehr ich mich öffne, durchlässig werde, das Hindurchfließen des Lebens ermögliche, umso mehr tritt das Konstrukt des Ich in den Hintergrund, löst sich teilweise auf, wird unwichtig – „Ich“ bin unwichtig, in einem sehr positiven, befreienden Sinne.

Das ist nun ein sehr abstrakter Gedanke, der sich aber bei mir ganz allmählich zu einem Lebensgefühl entwickelt hat, wahrscheinlich, weil er auch aus einem diffusen Lebensgefühl erwachsen ist.

Ich habe das „Ich“ rational zu stärken und in Gegensatz zum Wissen zu bringen versucht. Gegen ein „Lebensgefühl, in dem „Ich“ und „Welt“ wechselseitig miteinander verbunden sind, man könnte vielleicht sogar „harmonieren“ sagen, läuft natürlich jede ratio ins Leere. Einem Lebensgefühl kann man nicht widersprechen. An unsere kleine Diskussion erinnere ich mich sehr gut, denn heute wie damals ist mir nicht nachvollziehbar, wie das „Ich“ im Sinne von Wunsch und Wille an Gewicht verlieren kann zugunsten eines allgemeinen Verbundenheitsgefühls (mir fällt auf, das ich im ersten Abschnitt den Aspekt des „Ich“ als des „Bewusstseins von mir“ beschrieben habe und hier den Aspekt des Wünschens und Wollens meine). „Ich“ tritt in den Hintergrund, wie Du sagst. Tut es das, weil Du Deine Wünsche und Dein Wollen minimiert hast oder tut es das, weil beides hinreichend zufriedengestellt ist? Der Ausgangspunkt bei Dir ist zwar die Aussage „ich bin nicht allein im Universum“, ein Lebensgefühl muß sich, so denke ich zumindest, aber auch im Konkreten zeigen und mit „konkret“ meine ich den Alltag, in dem wir handeln, wollen und wünschen.                

Auch das Schicksal, wie du es beschreibst, wäre nach meinem Verständnis ein Konstrukt – ein von mir selbst geschaffenes Konstrukt. Und so, wie du beim Thema Glück und Unglück dich nicht auf einen Kompromiss, auf Zwischentöne einlassen wolltest, so würde ich mich nicht darauf einlassen wollen, mir mein Leben von meinem eigenen Konstrukt erträglicher machen zu lassen. Das käme mir wie Selbstbetrug vor.[...]

Ja, auch „das Schicksal“ ist ein von Menschen geschaffenes Konstrukt. In dem Moment, in dem wir von „Schicksal“ sprechen, bedienen wir uns einer Konstruktion –und, wie ich denke, unabhängig davon, wie wir „Schicksal“ näherhin beschreiben oder welche Gestalt wir ihm geben. „Schicksal“ scheint mir mit „Ich“ engstens verknüpft, denn nur wenn man sagt „das Leben lebt uns“ wäre „Schicksal“ entbehrlich. Dann müsste man allerdings eine sehr andere Sprache (Terminologie) nehmen, in der die Person entsubjektiviert ist ... aber das wird mir jetzt zu schwierig.

Ansichts-Sache?  

So, da bin ich jetzt mit einem riesigen Satz vom Mikrologischen zum Kosmologischen gesprungen. Die kosmologische Dimension – das hatten wir ja schon mal (Brief 10–12). Und wieder bin ich von dem Wort Kosmos begeistert. Die wohlgefügte Ordnung, die schöne Harmonie, von der ich ein Teil bin. Inklusive aller Dissonanzen.

Ist das nicht Ansichtssache? Von einem Konstrukt würde ich in diesem Fall nicht sprechen, aber ob der Kosmos in schöner Harmonie geordnet ist einschließlich der Dissonanzen? Ich zitiere den letzten Abschnitt aus „Sinn-Bilder“ :  

[...] Da ich aber nie vergessen kann, dass ich es bin, die diese Muster bildet, und dass ich auch ganz andere Muster in die Vielfalt der Welt hineinlesen könnte, so wie ja auch andere Menschen ganz andere Muster sehen als ich, ist das für mich nicht mehr als ein hübsches Bild, dem ich nicht allzu viel Bedeutung beimesse.

Wenn wir in den Kosmos die schöne Ordnung oder die schreckliche Ungeordnetheit hineinsehen, dann schließe ich daraus, daß in erster Linie das „Ich“ es ist, das bestimmt, wie der Kosmos gesehen wird.

Das ist nun ein sehr abstrakter Gedanke, der sich aber bei mir ganz allmählich zu einem Lebensgefühl entwickelt hat, wahrscheinlich, weil er auch aus einem diffusen Lebensgefühl erwachsen ist.

Aus einem Dir eigenen Lebensgefühl heraus sieht Du in den Kosmos die Verbundenheit von allem mit allem hinein, woraus dann wieder in einer Schleife eine Bestärkung Deines Lebensgefühl folgt. Was aus meiner Sicht, so wie ich Dich verstehe, bedeutet, daß Dein „Ich“ sich den Kosmos schafft, wie es ihn braucht. Mein Lebensgefühl ist immer eher geprägt gewesen von einem Verlassen- und Ausgesetztsein und infolgedessen fühle ich mich im Universum verloren, betrachte es mehr wie ein nicht bergendes Ganzes.        

F.

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