
Liebe F.,
ich habe mit meiner Beschreibung, dass du auf die anderen blickst, ich aber auf mich selbst, zwar einen Gegensatz aufgemacht, der aber bei genauerer Betrachtung gar keiner ist, wie ich merkte, als ich von dir las:
Wenn ich auf meine letzten beiden Briefe zurückblicke, dann steht für mich wohl die Beziehung zu anderen Menschen zu klären im Vordergrund. Ich brauche andere Menschen, wenn ich das Bild der selbstbestimmten Frau, die ihr Leben genießt, verwirklichen möchte, und wie schwer es mir fällt, dies mir selbst gegenüber zuzugeben, habe ich erst an Deiner Antwort gemerkt. Es war mir nicht möglich, dies in einem schlichten Satz direkt zu schreiben. Andererseits scheinen andere Menschen das große Hindernis bei der Realisierung einer erweiterten Vorstellung meiner Lebensmöglichkeiten. Ich möchte anderen Menschen aus einer „Position der Stärke“ wie Du es einmal genannt hattest, begegnen (weil es sich „gut anfühlt“) und gewinne diese Stärke aber nicht aus mir alleine heraus (autark), sondern nur auch im Kontakt mit anderen Menschen.
Vielmehr haben wir es hier wohl eher mit einer dialektischen Bewegung zu tun, bei der man keines der Momente isoliert sehen kann. Wenn ich versuche, mit mir selbst ins Reine zu kommen, so geschieht das natürlich u. a. auch, wie bei dir, über eine Klärung meiner Beziehungen zu anderen Menschen. Der Unterschied zwischen uns beiden liegt also eher in der Gewichtung des einen oder des anderen Momentes oder der Richtung, aus der wir kommen. Aber wir versuchen wohl beide, unsere Position innerhalb unserer Umwelt neu zu bestimmen.
Das wohlgeordnete Gefüge der letzten Jahrzehnte hat sich durch den Tod unserer Männer verändert – ich versuche, ein Bild dafür zu finden, aber das ist gar nicht so einfach. Gerade schwebte mir vor, wie sich verschiedene Himmelskörper durch wechselseitige Anziehungs- und Abstoßungskräfte zu einem stabilen System zusammengefunden haben, worin mein Mann und ich zwei Sterne waren, die auf einer gemeinsamen Bahn dahinzogen und sich dabei gleichzeitig umeinander drehten. Nun ist mein Partnerstern verschwunden, und das Kräfteverhältnis ist dadurch aus dem Gleichgewicht geraten. Das hat Auswirkungen auf das gesamte System, aber natürlich besonders auf mich, die ihm am nächsten war. Ich taumele, komme anderen, früher weiter entfernt liegenden Sternen plötzlich nahe, befinde mich dann wieder in einer unendlichen Leere … Dann wird das Taumeln allmählich schwächer, die ungewohnten Verschiebungen und Wirbel beruhigen sich, die Abstände werden neu austariert, bis das System wieder stabil ist. Aber in Wirklichkeit war es nie durcheinandergeraten. Es befindet sich immer in Bewegung, es bildet immer Gleichgewichte und verliert sie wieder, bildet neue und verliert sie wieder …
So, jetzt hat sich mal wieder ein Bild verselbstständigt und mich davongetragen. 😊 Was ich eigentlich hatte sagen wollen: Ich kann mich auch nicht isoliert sehen, auch wenn ich das oft gern täte. Aber die Einwirkung der anderen auf mich ist eher indirekter Art. Um einen Antwortversuch auf deine Frage zu geben, was es bedeuten könnte, „in und mit mir selbst ins Reine zu kommen“ und gleichzeitig im Bild zu bleiben, so könnte man sagen: Ich versuche, meine eigene Bahn zu stabilisieren – und dann wird man sehen, welche neuen Anziehungs- und Abstoßungskräfte auf mich einwirken, die dann wiederum Auswirkungen auf meine Bahn haben. – Das ist jetzt sehr abstrakt, aber im Moment kann ich das nicht konkretisieren. Es entspricht halt eher meinem Naturell, vieles mit mir selbst abzumachen. Dabei fühle ich mich am wohlsten.
Du hingegen hast anscheinend eine größere Offenheit als ich, wenn du sagst, dass du die anderen brauchst, um selbst stärker zu werden. Beide Positionen haben Vor- und Nachteile.
Unsicherheit
Das klingt so angenehm selbstverständlich. Warum möchte ich meine Unsicherheit eigentlich verbergen? Warum will ich nicht, dass sie für andere Menschen sichtbar ist? Es ist ja auch für mich keineswegs in jeder Situation so, aber Situationen zu meiden, um mich nicht womöglich unwohl, weil unsicher und somit negativ bewertet zu fühlen, kommt mir in diesem Moment vor, als würde ich mir Lebensmöglichkeiten wegnehmen. Verstehe ich Dich richtig? Du bist einigermaßen entspannt, was die sichtbare Unsicherheit angeht?
Ja, warum möchte man seine Unsicherheit verbergen? Das ist eine gute Frage! 😊 Das ist sogar die entscheidende Frage, würde ich sagen. Und nein, ich bin oft keineswegs entspannt, wenn ich mich unsicher fühle. Aber ich habe im Laufe der Jahre wenigstens gelernt, es hinterher aufzulösen. Ein Perspektivwechsel hilft mir dabei oft. Nehmen wir wieder das Hotelbeispiel. Was denkt der Mann an der Rezeption, wenn ich das Hotel betrete und mich erst einmal etwas hilflos umsehe, weil ich mich nicht gleich zurechtfinde? Denkt er: „Mein Gott, was ist das denn für ein Hascherl, die war ja wohl noch nie in einem Hotel!“ Oder denkt er (wenn er überhaupt darüber nachdenkt bei Hunderten von Gästen am Tag): „Aha, ein neuer Gast, die muss sich erst einmal orientieren, so geht das allen.“ Vermutlich letzteres. Das heißt, was für mich unangenehm ist, ist für ihn völlig normal.
Was mir außerdem hilft: Ich habe gelernt zu fragen. Das hat mich anfangs ziemliche Überwindung gekostet, aber es hilft ungemein, weil es die Phase der Unsicherheit abkürzt. Ein Beispiel von meinem Arbeitsplatz, das ich immer wieder beobachte: Ich sitze in der Bibliothek an der Information. Direkt neben mir an der Wand hängt der große Lageplan. Es gibt nun zwei Gruppen von Lesern: Die einen (oft Männer) stellen sich vor den Plan, gucken ihn lange an, gucken sich um, um sich zu orientieren, wo sie sich befinden, gucken wieder auf den Plan, sind unsicher, vermeiden aber jeden Blickkontakt mit mir und gehen dann irgendwann einfach los, wobei man an ihrem zögernden Schritt merkt, dass sie sich keineswegs sicher sind, wo es langgeht. Die andere Gruppe (oft Frauen) guckt kurz auf den Plan, findet ihn zu kompliziert, kommt zu mir und fragt mich: „Wo finde ich die Sprachführer?“ Beide sind unsicher, was ich ganz normal finde, wenn man neu bei uns ist, aber sie gehen unterschiedlich damit um.
Lebensgefühl
Kannst Du bitte einfach noch mal direkt sagen, wovon Du meinst, es „ginge“ so nicht, wie ich es „tue“?!
Dass du nicht verstehst, was ich meine, könnte statt an deiner „Doofheit“ auch gut daran liegen, dass ich seit einigen Briefen ein Missverständnis weiterschleppe. Ausgegangen war ich von deiner Feststellung, dass für die Barnaby-Frau nicht das Lebensgefühl, sondern die Wahrnehmung und Beurteilung durch die Anderen entscheidend war.
Einen Brief weiter schreibst du dann:
Dieses Beispiel habe ich, wie ich meine, nun verstanden. Der Blick anderer, die „Fremdwahrnehmung“, wie Du es nennst, ist für die Frau unerheblich, eine Randerscheinung, die lediglich als Verstärker ihres Lebensgefühls dient.
Hier drehst du es nun um, nun ist die Beurteilung durch die anderen unerheblich, stattdessen steht das Lebensgefühl im Vordergrund.
Ich meine aber, dass man die beiden Aspekte nicht wirklich voneinander lösen kann. Ob und wie wir uns von anderen beurteilt fühlen, hängt immer auch vom Selbstgefühl ab. Der Einfluss des eigenen Lebensgefühls ist in „positiven“ Situationen genauso hoch wie in negativen. Wir fühlen uns nicht gut, weil wir gut beurteilt werden, sondern wir fühlen uns gut beurteilt, weil wir uns selbst gut fühlen. Und entsprechend in negativen Situationen. Es handelt sich zu einem großen Anteil um Projektionen – ich interpretiere die Blicke der Anderen, und das tue ich entsprechend meiner jeweiligen Verfassung.
Du schreibst aber auch:
Das Auffällige ist nun aber, dass in dieser Situation, in der Du von Deiner gegenwärtigen Befindlichkeit ausgehst, die Fremdwahrnehmung einen anderen, einen höheren Stellenwert einnimmt als beim positiven Beispiel der Frau auf dem Schiff. Was ist der Unterschied?
Und das habe ich unter den Tisch fallen lassen. Der Stellenwert des eigenen Lebensgefühls ist zwar (etwas schematisch gedacht) anteilsmäßig immer gleich hoch (wird von uns aber in der Regel überhaupt nicht mitbedacht), aber ob wir uns positiv oder negativ bewertet fühlen, macht natürlich einen erheblichen Unterschied für die jeweilige Situation. Und da du auf diesen Aspekt hinaus wolltest, sind meine vorherigen Überlegungen eher nebensächlich.
Na ja – einfach und direkt ist was anderes … Ich nehme an, meine Umständlichkeit hat auch etwas damit zu tun, dass es für mich selbst auch noch nicht ganz klar ist. Das Thema ist halt komplex 🙃
B.
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