Liebe F.,
da ich mal wieder einen Sättigungspunkt erreicht habe, was den immer tiefer gehenden Blick in meine Seele anbelangt, ist mir der heutige Brief unter der Hand ins ziemlich Theoretische und damit Distanzierte gerutscht. Ich beschränke mich dabei auf einen einzigen Abschnitt aus deinem Brief:
Da wir das Thema schon länger umkreisen und besonders im Hinblick auf den Begriff „Animismus“ wird mir zunehmend klar, daß meine Weltsicht, auf mich, meine Person bezogen, doch mehr eine anthropomorphistische ist. Bei Gegenständen habe ich nicht die Tendenz, sie zu „beseelen“, und dem Schicksal oder einer Außenwelt eine Seele zuzudenken, trifft nicht die entscheidende Komponente meines Gegenübers, weil die „Seele“ für mich zart und gut und eine Harmonie ist. Ein feind“seliger“ Widerstreit der Seelen ist daher ausgeschlossen. Es handelt sich doch in erster Linie um eine „Person“ nach Art der Menschen. Ich deale mit ihr. Soundsoviel Jahre oder Ereignisse des Unglücks, dafür stehen mir jetzt soundsoviele Jahre und Ereignisse Glück zu. Oder: ich zeige dir mein Leiden und du musst ein Einsehen mit mir haben. Ich bin nicht allein, weil das Schicksal in Gestalt einer Person ein Gegenüber ist. Auf diese Aspekte bin ich gekommen, als ich mir den Vorteil einer solchen Weltsicht überlegte. „Ich bin nicht allein“ scheint mir nach einigen Tagen des Überlegens der entscheidende Punkt. Besser noch mich abhängig und abgelehnt zu fühlen als alleine im Universum zu existieren. Das exakte Gegenbild zu Deinem starken Autonomiebestreben.
So exakt, dass ich es kaum nachvollziehen kann. Mal abgesehen davon, dass solche Deals auch bei Menschen nicht funktionieren, was für dich aber anscheinend auch gar nicht der entscheidende Punkt ist (der Deal muss nicht funktionieren, es muss nur jemand da sein, an den man sich mit ihm wenden kann) – ich bin doch nicht allein im Universum, auch ohne ein mich ganz persönlich meinendes Schicksal! Vielleicht bin ich in einem relativen Sinn, in meinem Alltagsleben, allein. Da hilft mir dann aber auch kein Schicksal heraus. Aber in einem absoluten Sinn bin ich es nicht. Ganz im Gegenteil. Da ich sozusagen unscharfe Ränder habe, bin ich mehr mit der Außenwelt verbunden, als es mir meist bewusst ist. Was meine ich damit? Ich stehe sowohl auf körperlicher als auch auf geistiger und seelischer Ebene in einem ständigen Austausch mit der Welt. Nichts geschieht, was nicht Einfluss auf mich hätte, und nichts tue ich, was nicht Einfluss auf die Welt hätte. Das fühlt man im Alltag meist nicht, weil man sich als abgeschlossenes Ich empfindet. Aber dieses Ich ist ein Konstrukt. Zwar ein notwendiges und nützliches und als Konstrukt wirklich existierendes Phänomen. Aber eben keine „Wesenheit“ oder wie man das nennen will, sondern etwas, was im Austausch mit der Welt entstanden ist und sich im Austausch weiterentwickelt. Dieses Ich gehört sozusagen der Welt, nicht mir. Seit ich mir das klargemacht habe, habe ich das starke (wenn auch im Alltag nicht immer bewusste) Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, eingebettet zu sein in das Universum, wenn man es so groß nehmen will. Das hat zur Folge, dass ich mich eher als etwas Durchlässiges empfinde, durch das das Leben mehr oder minder ungehindert hindurchfließen kann (nicht wir leben unser Leben, das Leben lebt uns – du erinnerst dich vielleicht an die kleine Diskussion im Philosophieforum?), und nicht als eine abgeschlossene Person. Und je mehr ich mich öffne, durchlässig werde, das Hindurchfließen des Lebens ermögliche, umso mehr tritt das Konstrukt des Ich in den Hintergrund, löst sich teilweise auf, wird unwichtig – „Ich“ bin unwichtig, in einem sehr positiven, befreienden Sinne.
Das ist nun ein sehr abstrakter Gedanke, der sich aber bei mir ganz allmählich zu einem Lebensgefühl entwickelt hat, wahrscheinlich, weil er auch aus einem diffusen Lebensgefühl erwachsen ist.
Auch das Schicksal, wie du es beschreibst, wäre nach meinem Verständnis ein Konstrukt – ein von mir selbst geschaffenes Konstrukt. Und so, wie du beim Thema Glück und Unglück dich nicht auf einen Kompromiss, auf Zwischentöne einlassen wolltest, so würde ich mich nicht darauf einlassen wollen, mir mein Leben von meinem eigenen Konstrukt erträglicher machen zu lassen. Das käme mir wie Selbstbetrug vor. Lieber Abhängigkeit und Ablehnung als Alleinsein? (Hört sich nach mancher Ehe an.) Selbst um den Preis des Unglücks wäre das für mich keine Option. Besser noch, die eigene Ohnmacht zu spüren (dieser Aspekt wäre für mich entscheidender als das Alleinsein, weil, wie gesagt, ich bin nicht allein), als mich von einem Konstrukt einlullen zu lassen, einem Konstrukt noch dazu, dass (wie von dir) als feindselig gedacht und empfunden wird. Die eigene Ohnmacht zu spüren ist ja nicht der Endpunkt, sondern der Ausgangspunkt, um davon aus- und wegzugehen, um die eigenen, seien es auch noch so geringen Kräfte zu mobilisieren (geistige wie praktische) und damit etwas zu bewirken.
Mit etwas Mühe kann ich aber den Trost nachempfinden, den eine solche anthropozentrische Sicht bietet, wenn auch eher in der Umkehrung, also wenn einem dieser Trost genommen wird – wie bei der sogenannten kosmologischen Kränkung, weil die Erde nicht im Mittelpunkt der Welt steht und die Menschheit ein Schauder überlief bei der Vorstellung, nur eine völlig unbedeutende Randerscheinung zu sein in einem kalten, unbeteiligten Universum.
So, da bin ich jetzt mit einem riesigen Satz vom Mikrologischen zum Kosmologischen gesprungen. Die kosmologische Dimension – das hatten wir ja schon mal (Brief 10–12). Und wieder bin ich von dem Wort Kosmos begeistert. Die wohlgefügte Ordnung, die schöne Harmonie, von der ich ein Teil bin. Inklusive aller Dissonanzen.
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare