Liebe F.,
Deine akribische Betrachtung des Gespräches der Seele mit sich selbst, einen Teil der Entscheidungsfindungsprozesse betreffend, fand ich ja ausgezeichnet, und ich kann nachvollziehen, daß es Dir nun, nachdem Du die Lupe exzessiv gebraucht hast „genug damit ist“. Zumal meine Antwort(en) wenig bis gar nicht inspirierend, d.h. weiterführend waren, wie ich selbst bei nüchterner Einschätzung feststellte.
Neinnein, das stimmt nicht. Ich hatte meine Antworten darauf ja schon zu Dreivierteln fertig, deine Antworten waren also durchaus „weiterführend“. Aber ich merkte, wie mir immer unwohler wurde, weil ich dir dabei immer tiefergehende Fragen stellte. Ich bin also nicht nur vor dem Blick in meine eigene Seele zurückgetreten, sondern auch von dem in deine. Nicht aus Desinteresse, sondern mehr aus einer Art von Diskretion und Rücksichtnahme heraus.
Fortsetzung der Psychologisierung
Ich habe nun meinerseits mehrfach versucht, mir mein Leben in einem gleichgültigen, interesselosen Universum (der Aspekt des Alleinseins ist hierbei nachrangig, es geht mir an dieser Stelle um das Universum als Unbelebtes) vorzustellen [...]
Kleiner Einschub: Unbelebt? Für mich ist eher alles in Bewegung, also lebendig. Selbst Sterne können sterben, leben also vorher in gewisser Weise.
[…] und habe dabei etwas Aufschlussreiches entdeckt. Für einen Moment ging es gut und dann trat eine Stimme auf (ein Gedanke), die sagte, daß dies aber nicht „wahr sei“/“so ist es nicht“ und noch mehr, es war eine Verbotsstimme. „Du darfst so nicht denken“. An dieser Stelle liegt die Psychologisierung natürlich auf der Hand. Der urteilssprechende Vater, der auf verdammt oder geliebt tippt.
Das liegt für mich keineswegs auf der Hand, oder vielleicht stehe ich auch einfach nur auf dem Schlauch und verstehe nicht. Welche Konsequenzen hätte die Vorstellung eines unbelebten Universums, dass man es mit einem Verbot belegen müsste und, noch stärker, mit Verdammung? – Ah ja, es liefe auf die Abschaffung, die Nichtexistenz dieses Vaters hinaus. Das kann ihm natürlich nicht gefallen. Das heißt, es geht dabei um ihn, nicht um dich? Nur scheint er sein Versprechen: „Wenn du weiter an mich glaubst, wirst du geliebt“ bei dir ja nicht zu halten, denn er taucht immer nur als Vernichter auf.
Die Psychologisierung scheint mir auch deswegen richtig, weil es mir bei meinen Versuchen, Deine Weltsicht einzunehmen, gar keine Mühe machte, die Erde und die Milliarden auf ihr lebenden Menschen zu sehen, die ohne Bestimmung durch ein Schicksal nach Menschenart ihren Weg gehen. Es ist also eine Auffassung, die nur mich bzw. mein Leben betrifft, nicht das Universum und die Menschen generell. Das ist in Verstandeshinsicht selbstverständlich nichts als albern, denn wie und warum sollte ich im Unterschied zu allen anderen Menschen einem interessierten Schicksal ausgesetzt sein! Auf psychologisierendem Pfad zu gehen bin ich allerdings nicht bereit, weil es völlig gleichgültig ist, ob ich ohnmächtig in Hinsicht auf das Schicksal in Gestalt des Vaters oder des Zufalls bin, und ebenso ist es für meine (An?)-Klage egal, wohin sie sich wendet. Damit hat sich allerdings meine allgemeine Weltsicht auf eine subjektive Vatergeschichte verdichtet.
Wieso ohnmächtig? Mir „fällt“ etwas „zu“, ja, darauf habe ich keinen Einfluss – das wäre meine Formulierung dafür. Ohnmächtig, das klingt so entsetzlich ausgeliefert, schutzlos, hilflos, starr vor Angst, handlungsunfähig – eine Bedeutungswolke der Vernichtung, die du so oft nennst, und zwar dauerhaft, prinzipiell. Während mein „keinen Einfluss haben“ eher etwas Partielles ist. Auf das, was mir da zufällt, habe ich keinen Einfluss; aber wie ich im Anschluss darauf reagiere, was ich daraus mache, wie ich vielleicht auch verändere, was mir da zugefallen ist – all diese Möglichkeiten stehen mir doch trotzdem offen. Gewiss, immer in den Grenzen, die das Zugefallene mir setzt. Aber ich habe doch trotzdem Spielräume, die ich nutzen kann. Es ist – ich kann dieses Wort gar nicht oft genug sagen – ein Wechselspiel zwischen mir und dem Zugefallenen, der Welt, dem Schicksal oder was auch immer. Selbst bei Unabänderlichem habe ich immer noch die Wahl, ob ich z.B. innerlich dagegen anwüten will oder versuche, das Beste draus zu machen, oder mich davon ab- und anderem zuwende (wenn das möglich ist – das muss man von Fall zu Fall sehen).
Ach je – ich hätte nie gedacht, dass sich unser Weltverhältnis so grundlegend unterscheidet, wie es sich bei immer tieferem Hinabsteigen in die Urgründe allmählich herauskristallisiert ...
Dekonstruktionen
Eine allgemeine Vorbemerkung zu diesem Abschnitt: Ich war hellauf begeistert, als ich deine sorgfältige Dekonstruktion meiner Konstruktionen las! Ich war doch tatsächlich auf bestem Wege, meine Sicht der Dinge für „richtig“ zu halten, und habe dabei fast außer Acht gelassen, dass auch sie ein subjektives Konstrukt ist. Danke dafür!
a) Konstrukt Ich
Ich habe das „Ich“ rational zu stärken und in Gegensatz zum Wissen zu bringen versucht. Gegen ein „Lebensgefühl, in dem „Ich“ und „Welt“ wechselseitig miteinander verbunden sind, man könnte vielleicht sogar „harmonieren“ sagen, läuft natürlich jede ratio ins Leere. Einem Lebensgefühl kann man nicht widersprechen. An unsere kleine Diskussion erinnere ich mich sehr gut, denn heute wie damals ist mir nicht nachvollziehbar, wie das „Ich“ im Sinne von Wunsch und Wille an Gewicht verlieren kann zugunsten eines allgemeinen Verbundenheitsgefühls (mir fällt auf, das ich im ersten Abschnitt den Aspekt des „Ich“ als des „Bewusstseins von mir“ beschrieben habe und hier den Aspekt des Wünschens und Wollens meine). „Ich“ tritt in den Hintergrund, wie Du sagst. Tut es das, weil Du Deine Wünsche und Dein Wollen minimiert hast oder tut es das, weil beides hinreichend zufriedengestellt ist? Der Ausgangspunkt bei Dir ist zwar die Aussage „ich bin nicht allein im Universum“, ein Lebensgefühl muß sich, so denke ich zumindest, aber auch im Konkreten zeigen und mit „konkret“ meine ich den Alltag, in dem wir handeln, wollen und wünschen.
Ich grübele seit Tagen über eine Antwort, über Beispiele aus dem Alltag, ohne dass mir welche einfielen, die über allgemeine Betrachtungen hinausgingen, mithin gerade nicht konkret sind. Also habe ich angefangen darüber zu grübeln, warum ich mich mit einer Antwort so schwertue. Zunächst einmal muss ich mich nach genauerem Nachdenken etwas korrigieren: Für mich liegt der Schwerpunkt dieses Lebensgefühls nicht so sehr darauf, dass ich mich nicht allein im Universum fühle, sondern darauf, dass mein Ich irgendwie durchlässig ist, wenn auch in wechselndem Maße, also mal mehr, mal weniger. Ich rede aber keineswegs von einer Abschaffung des Ichs, nur von einer Minderung seiner Dominanz. Und ich denke, das läuft meist unbewusst ab, deshalb kriege ich es so schwer zu fassen.
Das war nicht immer so. Aufgrund meiner Schüchternheit stand die Ich-Beobachtung früher sehr im Vordergrund – wie nehmen andere mich wahr? Aber irgendwann muss ich dazu übergegangen sein, diese Ich-Beobachtung ein Stück weit sein zu lassen. „Ich“ wurde mir zunehmend unwichtiger. Ich kann dafür gar keinen konkreten Zeitpunkt angeben, aber das habe ich jetzt wohl zu einem Gutteil verinnerlicht. Es gibt allerdings auch immer wieder Momente, in denen dieses dominante Ich wieder durchschlägt und mir irgendetwas unangenehm ist o.ä. und ich ganz von diesem unangenehmen Ichsein beherrscht werde. Dann hat diese Ichauflösung sozusagen nicht gegriffen. Aber dann kann ich sie nachträglich intellektuell nachvollziehen. Dann sage ich mir: Hat das wirklich Bedeutung? Für wen? Aber oft läuft das unterschwellig ab.
Nun doch ein kleines Beispiel: Heute Morgen beim Frühstück überkam mich plötzlich ein Gefühl des Traurigseins darüber, dass ich hier so allein saß, ohne meinen Mann. Und fast gleichzeitig tauchte ein Gefühl auf, das ich jetzt schon gar nicht mehr richtig zu fassen kriege, so flüchtig war es: „Es ist alles in Ordnung so, wie es ist – deine Traurigkeit, die Wärme, der wohlschmeckende Tee …“ und mein Ich war augenblicklich befriedet und trat zurück in den Hintergrund. Ich weiß nicht, ob man das nachvollziehen kann, ich kann es nicht besser beschreiben.
Noch kurz hierzu:
„Ich“ tritt in den Hintergrund, wie Du sagst. Tut es das, weil Du Deine Wünsche und Dein Wollen minimiert hast oder tut es das, weil beides hinreichend zufriedengestellt ist?
Ich denke nicht, dass ich meine Wünsche im Laufe der Jahre minimiert habe, sondern ich war eigentlich schon immer recht bedürfnislos (ich erinnere mich, dass meine Mutter sich mal darüber wunderte, dass ich als Teenager so selten Geld für neue Kleidung haben wollte). Und hinreichend zufriedengestellt? Ja sicher, im Übermaß!
b) Konstrukt Kosmos
Auch hier zunächst einmal eine Richtigstellung oder Präzisierung: Ob ich den Kosmos tatsächlich als ein harmonisches, wohlgeordnetes Ganzes verstehe, weiß ich gar nicht mal. Ich denke, dass die Faszination für diese Vorstellung bei mir u.a. auch daher rührt, dass ich sie eben nicht so ganz teilen kann oder sie ein Ideal und insofern unerreichbar ist. Aber was muss das für eine Gesellschaft gewesen sein, die ein solches Lebensgefühl entwickelt hat, dass sie für das Weltganze den Begriff „Kosmos“ geprägt hat!
Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung:
Aus einem Dir eigenen Lebensgefühl heraus sieht Du in den Kosmos die Verbundenheit von allem mit allem hinein, woraus dann wieder in einer Schleife eine Bestärkung Deines Lebensgefühl folgt. Was aus meiner Sicht, so wie ich Dich verstehe, bedeutet, daß Dein „Ich“ sich den Kosmos schafft, wie es ihn braucht. Mein Lebensgefühl ist immer eher geprägt gewesen von einem Verlassen- und Ausgesetztsein und infolgedessen fühle ich mich im Universum verloren, betrachte es mehr wie ein nicht bergendes Ganzes.
Wie es ihn braucht? Also aus einem Empfinden des Mangels heraus? Das würde ja heißen, auch ich fühle mich verloren, deshalb schaffe ich mir als Gegengewicht einen harmonischen Kosmos …? Aber wieso schafft sich dein Ich dann nicht auch den Kosmos, den es braucht? Oder andersherum: Wieso brauchst du einen übermächtigen, mit Verdammnis drohenden Vater? – Das sind jetzt eher rhetorische Fragen, auf die ich keine Antworten erwarte und auch selbst keine geben kann.
Noch stärker als oben überkommt mich hier ein Gefühl fast der Erschütterung, wenn ich versuche, mich in dein Lebensgefühl hineinzuversetzen, das ja, wenn ich das richtig verstehe, nicht nur ein momentanes, wenn auch öfter auftauchendes Empfinden der Verlassenheit ist, das ja vielleicht jeder und jede mal hat, sondern so etwas wie das grundlegende Hintergrundrauschen deiner Existenz bildet.
Wie schließe ich nun? Wir hatten lange kein Bild. Es soll weder Trost noch Aufforderung noch sonst irgendetwas sein, einfach nur – ein Bild.
B.

Sebastian Stoskopff (1597–1657): Stillleben mit Gläsern in einem Korb, 1644
Musée de l'Œuvre Notre-Dame, Strassburg
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