Liebe B.,
ich möchte, um mir eine Übersicht zu verschaffen, den Bogen zu unserem Ausgangspunkt zurückschlagen. Ausgegangen sind wir von Deiner Vorstellung von Dir in der Zukunft, in der Du das Bild einer unabhängigen, selbstbestimmten Frau, die ihre Freiheit des Alleinelebens in vollen Zügen genießt, entwickelt hattest. Dieses Bild hatte ich begeistert aufgegriffen, weil es auch meiner Vorstellung davon, wie ich mir mein zukünftiges Leben idealerweise ausmale, entspricht. Der erste Schritt auf dem Weg zur Realisierung des gegenwärtig nur Imaginierten, scheint mir in einer Positionsbestimmung zu liegen.
[...] Vielleicht guckst du die Leute an (und hast deshalb das Gefühl, sie würden zurückgucken), weil du etwas von ihnen willst (im weitesten Sinne)? Während ich versuche, in und mit mir selbst ins Reine zu kommen.
Wenn ich Deine Formulierung aufgreife, dann ist es, wie ich finde, eine knappe und präzise Umschreibung dessen, was Du in der gegenwärtigen Phase Deines Lebens, für eine vordringliche Aufgabe ansiehst? Das Fragezeichen steht hauptsächlich für das von mir gewählte Wort „Aufgabe“. Deine Formulierung gefällt mir deswegen so gut, weil sie nicht nur einerseits –bildlich- präzise ist, sondern andererseits völlig offen läßt, was Du Dir genauer und konkret auch darunter vorstellst.
Ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Tod des Ehepartners die Grundfesten erschüttert, sodaß man „alles“ neu ordnen muß, und wenn Dir derzeit danach ist, etwas über „in und mit mir ins Reine kommen“ zu erzählen, dann höre ich gerne zu.
Wenn ich auf meine letzten beiden Briefe zurückblicke, dann steht für mich wohl die Beziehung zu anderen Menschen zu klären im Vordergrund. Ich brauche andere Menschen, wenn ich das Bild der selbstbestimmten Frau, die ihr Leben genießt, verwirklichen möchte, und wie schwer es mir fällt, dies mir selbst gegenüber zuzugeben, habe ich erst an Deiner Antwort gemerkt. Es war mir nicht möglich, dies in einem schlichten Satz direkt zu schreiben. Andererseits scheinen andere Menschen das große Hindernis bei der Realisierung einer erweiterten Vorstellung meiner Lebensmöglichkeiten. Ich möchte anderen Menschen aus einer „Position der Stärke“ wie Du es einmal genannt hattest, begegnen (weil es sich „gut anfühlt“) und gewinne diese Stärke aber nicht aus mir alleine heraus (autark), sondern nur auch im Kontakt mit anderen Menschen. Dies möchte ich als vorläufiges Ergebnis zu meiner Situationsbestimmung festhalten. „Bestimmung“ hört sich sehr bestimmt an – tatsächlich bin ich einigermaßen verwirrt. Aber das macht nichts.
[...]je vertrauter mir dagegen eine Umgebung oder Situation wird, umso weniger fühle ich mich beobachtet.
Ich glaube, das ist eine ganz normale Reaktion, die nicht nur unsichere und verhuschte Menschen haben, sondern die meisten. In einer fremden Umgebung muss man sich erst einmal zurechtfinden, herausfinden, wie hier die Regeln sind, und das geschieht oft einfach durch Beobachtung. Und die spiegele ich vermutlich, das heißt, ich beobachte und fühle mich deswegen beobachtet. Das kann aber relativ neutral sein, ich fühle mich also nicht zwangsläufig in solchen Situationen negativ bewertet.
Das klingt so angenehm selbstverständlich. Warum möchte ich meine Unsicherheit eigentlich verbergen? Warum will ich nicht, dass sie für andere Menschen sichtbar ist? Es ist ja auch für mich keineswegs in jeder Situation so, aber Situationen zu meiden, um mich nicht womöglich unwohl, weil unsicher und somit negativ bewertet zu fühlen, kommt mir in diesem Moment vor, als würde ich mir Lebensmöglichkeiten wegnehmen. Verstehe ich Dich richtig? Du bist einigermaßen entspannt, was die sichtbare Unsicherheit angeht?
Ich glaube weiterhin, dass man den Zusammenhang von Lebensgefühl und Fremdwahrnehmung nicht so trennen kann, wie du es tust, dass er also eher bei negativem Selbstgefühl wichtig wird. Die Blicke der Anderen vergesse ich nur in alltäglichen Routinesituationen, wenn ich mich selbst völlig vergesse oder wenn ich intensiv mit etwas beschäftigt bin. In allen anderen Situationen bin ich mir mehr oder weniger bewusst, dass ich mich unter Leuten befinde, unabhängig davon, wie mein Selbstgefühl gerade ist, und sie spiegele und von ihnen gespiegelt werde – neutral, positiv oder negativ.
Im letzten Brief hattest Du Deine obige Feststellung als Frage an mich formuliert. Beantwortet hatte ich sie deswegen nicht, weil ich sie nicht verstand. Nun aber komme ich nicht umhin, meine „Doofheit“ einzuräumen. Es ist, als hätte ich ein Brett vorm Kopf; ich verstehe nicht, was Du meinst, worauf Du hinauswillst, selbst unter Einbeziehung Deiner daran anschließenden Erläuterung. Kannst Du bitte einfach noch mal direkt sagen, wovon Du meinst, es „ginge“ so nicht, wie ich es „tue“?!
F.
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