Liebe F.,
ich brüte jetzt schon eine geraume Zeit über diesem Thema, aber irgendwie komme ich damit nicht zurecht … ich schreibe und verwerfe, schreibe und verwerfe …
Dein Problem ist also dieses,
warum, wenn wir uns alleine fühlen und andere Menschen brauchen, die Fremdwahrnehmung auf einmal Bedeutung gewinnt und auch, warum wir uns dann eher mit „negativem“ Blick („mitleidig“) angesehen fühlen.
Dazu hattest du in einem deiner Briefe zuvor aber schon geschrieben:
Ich gehe auf der Straße und denke mir, wie andere Menschen –mich ansehend- über mich urteilen. Bei genauerer Überlegung handelt es sich selbstverständlich um vermeintliche Urteile, da ich ja überhaupt nicht weiß, wie andere, mir fremde Menschen, über mich denken […]. In meiner Vorstellung lasse ich die Anderen also über mich denken, wie ich selber über mich denke.
Et voilà – nichts als Projektion! (Die natürlich oft genug das Richtige treffen kann, dass die Anderen also tatsächlich genau das über mich denken, was ich ihnen unterstelle.)
Das erklärt allerdings noch nicht den Umstand, warum wir in Situationen, in denen wir uns „unwohl“ fühlen (in welcher Hinsicht auch immer), stärker auf unsere Umgebung reagieren. Ich formuliere das absichtlich etwas neutraler, denn es fallen mir auch Beispiele ein, die nicht so direkt auf den Eigenwert gehen.
Mein Mann und ich waren keine besonders weltgewandten Leute. Wenn wir ein Restaurant betraten oder in ein neues Hotel kamen, fühlte ich mich oft erst einmal etwas unwohl, spürte die Blicke der Anderen. Da fühlte ich mich nicht allein, ich war ja zusammen mit meinem Mann, aber ich fühlte mich fremd und unsicher. Je vertrauter mir dagegen eine Umgebung oder Situation wird, umso weniger fühle ich mich beobachtet.
Ich glaube, das ist eine ganz normale Reaktion, die nicht nur unsichere und verhuschte Menschen haben, sondern vermutlich die meisten. In einer fremden Umgebung muss man sich erst einmal zurechtfinden, herausfinden, wie hier die Regeln sind, und das geschieht oft einfach durch Beobachtung. Und die spiegele ich vermutlich, das heißt, ich beobachte und fühle mich deswegen beobachtet. Das kann aber relativ neutral sein, ich fühle mich also nicht zwangsläufig in solchen Situationen negativ bewertet.
Ich glaube weiterhin, dass man den Zusammenhang von Lebensgefühl und „Fremdwahrnehmung“ nicht so trennen kann, wie du es tust, dass er also eher bei negativem Selbstgefühl wichtig wird. Die Blicke der Anderen vergesse ich nur, wenn ich mich selbst völlig vergesse, z. B. in alltäglichen Routinesituationen oder wenn ich intensiv mit etwas beschäftigt bin. In allen anderen Situationen bin ich mir mehr oder weniger bewusst, dass ich mich unter Leuten befinde, unabhängig davon, wie mein Selbstgefühl gerade ist, und sie spiegele und von ihnen gespiegelt werde – neutral, positiv oder negativ.
Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass der Blick der anderen für die Barnaby-Lady unerheblich ist. So weit ist sie noch längst nicht, das wäre psychologisch ein zu großer Sprung. Gestern war sie ja noch eine verhuschte, ängstliche Ehefrau. Heute wird sie vom Hochgefühl ihrer neuen Freiheit, ihres neuen Selbstbewusstseins getragen. Der Blick der anderen ist dafür wichtig! Sie braucht, so stelle ich es mir jedenfalls vor, diese Spiegelung – zur Selbstvergewisserung und Stärkung dieses noch völlig ungewohnten Lebensgefühls. Du hattest neulich schon beschrieben, was ich hier meine:
Ich vermute, bin mir aber nicht sicher, dass „wir“ –im generalisierten Sinne, nicht speziell Du oder ich- über die Zuschreibung vermittels der Blicke von Außen, klarer erkennen, wie wir selber uns sehen oder sehen möchten […]
Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich selbst sei auf diesem Kreuzfahrtschiff, so ist es bei mir vielleicht anders als bei dir. Bei mir würde das eine starke Gemengelage bilden aus Einsamkeitsgefühl, weil mein Mann nicht dabei ist (was für dich nicht der entscheidende Punkt war), und dem „objektiven“ Tatbestand, dass ich hier allein auftrete und mich deshalb unsicher fühle. Ich denke darüber jetzt schon seit zwei Tagen nach, aber es gelingt mir nicht, das weiter zu differenzieren.
Es ist bei mir auf jeden Fall nicht so, dass das gesteigerte Gefühl für den Blick der anderen davon ausgelöst wird, dass ich andere Menschen brauche. Ah, jetzt habe ich vielleicht endlich den Punkt erwischt, weswegen ich mit diesem Thema so überhaupt nicht klarkomme! Vielleicht guckst du die Leute an (und hast deshalb das Gefühl, sie würden zurückgucken), weil du etwas von ihnen willst (im weitesten Sinne)? Während ich versuche, in und mit mir selbst ins Reine zu kommen.
Dabei belasse ich es für heute, sonst beende ich diesen Brief nie.
B.
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