"Position der Stärke"

Veröffentlicht am 29. Mai 2021 um 15:20

[Zu Brief | 9: Positionsbestimmung]

Ich lasse es in Anführungsstrichen, weil es sich so gewaltig anhört. So isoliert genommen, bin ich von dieser Position weit entfernt. Aber heute ist mir ein kleines, alltägliches Beispiel eingefallen, das illustrieren könnte, was mir vorschwebt.

Als wir alle relativ neu in der Bibliothek zusammengewürfelt wurden, kam ich mit einer sehr zurückhaltenden Kollegin ins Gespräch und sagte u. a.: „Ich gehöre auch zu denen, die sich lieber im Hintergrund halten.“ Und sie antwortete, ganz erfreut, eine Wesensgenossin gefunden zu haben: „Ach, würdest du auch am liebsten mit dem Hintergrund verschmelzen, sodass dich niemand sieht?!“ Und ich lachte und meinte: „Naja, so nun auch wieder nicht.“

Ich löse das Beispiel jetzt von dieser Kollegin, weil ich ihr nichts ungerechtfertigt überstülpen möchte. Aber für mich kann ich sagen, dass ich mich nicht im Hintergrund halte, weil ich aus Ängstlichkeit und Unsicherheit nicht gesehen werden möchte. Durch meine Schüchternheit bin ich oft genug ängstlich und unsicher, aber das spielt hierfür nicht die Hauptrolle. Ich halte mich meistens im Hintergrund, weil es mir kein Bedürfnis ist gesehen zu werden. Wenn ich gefragt werde, kann ich gern meinen Beitrag leisten; aber wenn andere sich hervortun, trete ich zurück. Das gilt für kleine Alltagsgespräche übers Wetter bis hin zu beruflichen Lagebesprechungen. Bekomme ich Beachtung, ist es gut, bekomme ich sie nicht, ist es auch gut. Es ist mir nicht so wichtig.

Diesen Zustand empfinde ich – ganz individuell für mich – als Stärke, weil sie mich unabhängig von den anderen macht. Stärke in diesem Zusammenhang wäre für mich also nicht die Fähigkeit, leicht und sicher Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen zu können, sondern dies nicht zu müssen, nicht darauf angewiesen zu sein. Nicht aus Unfähigkeit, sondern weil ich es nicht brauche. Ich kann am Rande oder im Hintergrund bleiben und fühle mich wohl dabei. Es ist keine Stärke, die nach außen wirkt, sondern die mich von innen stützt.

B.

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