Brief 58 | Das Gute

Liebe F.,

Selbstvorwürfe

Das imaginäre Außen ist die Projektion eines inneren Anteils, der mein Leiden –gleich, welches und woran - für nicht in Ordnung befindet, indem er es für übertrieben, der Situation nicht angemessen, für selber verschuldet o.ä. hält. Das erste Trauerjahr wieder einmal ausgenommen, hat dieser innere Kampf recht bald danach begonnen. Unter dieser Konstellation ist mein Leiden (ich belasse es in dieser pauschalen Form) lediglich Ausdruck meiner Unfähigkeit, mit dem Leben alleine zurechtzukommen.

Ah, mal eine Gemeinsamkeit: Wir machen uns beide Vorwürfe, nur in unterschiedliche Richtungen. Ich werfe mir manchmal vor (inzwischen nicht mehr so sehr wie am Anfang), dass ich zu gut allein zurechtkomme. Deshalb erleichtert es mich, wenn ich doch mal eine Phase des Leidens (um es auch bei diesem pauschalen Ausdruck zu belassen) habe, nach dem Motto „Aha, ich trauere also doch.“

Aber wie komme ich eigentlich darauf, dass das eine das andere ausschließt? Ich kann doch gut allein zurechtkommen – durchaus in dem Sinne, dass ich mich in meinem Leben relativ wohlfühle, also nicht wie bei dir, dass ich das Gefühl habe, mich nur so gerade über Wasser zu halten – und trotzdem trauern. „Und“ statt „ja, aber …“ – dieser Gedanke wird für mich immer wichtiger. Ich darf die radikale Akzeptanz auch gern auf mich selbst anwenden. :-) Oder wie du schreibst:

Es ist zwar nicht so, daß ich sofort von hier nach da wechseln kann, aber als einen leitenden Gedanken habe ich mir das „und“ bereits zu eigen gemacht. Das „und“ ist deswegen so hilfreich, weil es alle Dinge, die ich tue, alle Menschen, denen ich begegne, und damit auch mich in ihr eigenes Recht versetzt, d.h. sie erhalten ihren vollkommen eigenen Wert – ohne „wenn und aber“.

Noch eine Nachfrage zum Leiden: Verstehe ich das richtig, dass du nicht so sehr an der Trauer leidest – den Tod deines Mannes hast du mehr oder minder akzeptiert –, sondern hauptsächlich daran, dass du mit dem Alleinleben nicht zurechtkommst? Zwar beschreibst du es so immer wieder, aber ich möchte doch sichergehen, deshalb frage ich lieber nach. Das ist für mich insofern von Bedeutung, als du dann für mich ein Beispiel dafür wärest, dass, wie es in den Trauerratgebern immer wieder heißt, jede Form des Trauerns oder eben auch Nicht-Trauerns in Ordnung ist. Ich habe es in unserem E-Mail-Briefwechsel immer als sehr entlastend empfunden, wie gelassen du davon erzählen konntest, dass du manchmal tagelang kaum an deinen Mann denkst und dann wieder intensiver, oder dass du nur sehr unregelmäßig auf den Friedhof gehst. Das erschien mir zu Anfang geradezu phänomenal. Mir ist zwar klar, dass dafür auch der größere zeitliche Abstand zum Tod deines Mannes eine Rolle spielt; dennoch hat mir das sehr dabei geholfen, mein eigenes schnelles Akzeptieren zu akzeptieren.

 

Ebenfalls eine Nachbesserung :-)

Ich bin mein Leben durchgegangen auf der Suche nach Situationen, in die ich unfreiwillig hineingekommen bin. Das sind, wenn ich auf der Ebene der gravierenderen Ereignisse bleibe, hauptsächlich Arbeitsplatz- oder Wohnungs- bzw. Zimmerverluste gewesen. Und ja, ich kann mich nicht erinnern, jemals eines dieser Vorkommnisse unwertend erlebt zu haben. Die gleich-gültige Haltung ist mir tatsächlich völlig fremd.

Hier muss nun ich nachbessern! :-) Meine spontanen Reaktionen auf ungute Ereignisse, egal ob gravierend oder nebensächlich, sind natürlich auch meistens abwehrend. (Na ja, bei den nebensächlichen vielleicht nicht so oft, da ist mir tatsächlich vieles gleich-gültig.) In der Regel ärgere ich mich natürlich auch, bin enttäuscht oder traurig – ich bin doch kein Übermensch! :-) Aber es dauert meist nicht lange und es setzt eine automatische Relativierung ein. Ich trete sozusagen neben dieses Gefühl (meine Zuschauerrolle). Dadurch verschwindet es nicht gleich, aber es wird ziemlich schnell schwächer und verliert an Bedeutung. Gerade habe ich gelesen, dass man am stärksten das zuletzt Geschehene im Gedächtnis behält – wenn im Urlaub zwei Wochen lang die Sonne geschienen hat, aber die letzten zwei Tage verregnet waren, dann erzählt man zu Hause: „Na ja, das Wetter war nicht so toll.“ Ich habe zwar leichte Zweifel, ob das so stimmt, aber es würde erklären, warum ich das Selbstbild habe, dass negative Erlebnisse mich nicht allzu lange belasten – weil sie relativ schnell „neutralisiert“ werden.

Und noch eine Nachbesserung:

Eine sehr schöne, wärmende Vorstellung, die mich gerade befällt, ist die, daß Du im „richtigen Leben“ auf der „imaginären Insel“ bleiben möchtest. 🌍

Denn hier passierte mir beim Lesen, so wie dir neulich beim Schreiben, etwas ganz und gar Unerwartetes! Als ich diesen Satz las, habe ich im Geiste erschrocken die Hände gehoben und gerufen: „Oh nein, das will ich gar nicht!“ So viel zu meinem Wunschtraum vom Einsiedlerleben. :-))) Aber gleich im nächsten Moment kam das korrigierte Bild: eine Halbinsel! Denn diese spontane Reaktion hat mir deutlich gemacht, was ich wirklich will bzw. nicht will: Ich möchte gar nicht dauerhaft von allen Menschen abgeschnitten sein. Ich möchte erreichbar sein und auch selbst ohne Probleme hinausgehen können. Aber für die meiste Zeit brauche ich einen geschützten Rückzugsort, an dem ich in Frieden, Ruhe und unbehelligt leben kann.

 

Das Beste und das Gute

Das Beste anstreben oder haben wollen ist ein hoher Anspruch, der, wie mir Deine Antwort zeigt, nur einengt, denn wenn es das Beste sein soll, dann geraten alle anderen Möglichkeiten dabei aus dem Blick. „Was ist jetzt möglich“ hingegen lässt einen weiten Spielraum. Dazu passt auch ein anderer Leitgedanke, den Du einmal erwähnt hattest „wenn dies nicht geht, dann geht etwas anderes“. Wenn „das Beste nicht geht“, was bleibt dann?! „Das Beste“ war zwar wohlüberlegt, und wie ich feststelle, eignet es sich wenig für eine Handlungsstrategie, weil man sich damit lediglich der Vielfalt der Möglichkeiten beraubt.

Weil es so schön dazu passt, hier ein Gedanke, den ich gerade gelesen habe (Christian Firus, „Was wir gewinnen, wenn wir verzichten“): Entscheidungen eröffnen Zukunft! Entscheidungen zu treffen heißt ja immer, eine Möglichkeit von vielen zu verwirklichen, damit aber auch alle anderen Möglichkeiten (zumindest für den Moment) fallen zu lassen. Wenn man sich dazu nicht durchringen kann, weil man die vielen Möglichkeiten nicht aufgeben will, unter denen sich ja vielleicht noch Besseres befindet oder gar das Beste, dann handelt man gar nicht. Die Suche nach dem Besten lähmt also eher, statt uns wirklich das Beste erreichen zu lassen.

Da ich ein Faible für alles Kleine und Unscheinbare habe, lege ich schon deswegen keinen Wert auf das Beste. Gab es nicht mal eine Werbung, in der es hieß „Für mich nur das Beste“? Die hat mich immer abgestoßen. Das Gute tut es doch auch, ja eigentlich sogar das Minderwertige. Na ja, so ganz kann man das natürlich nicht verallgemeinern. Leben ist keine ästhetische Veranstaltung, bei der man sich am Wabi-Sabi erfreuen kann. Es gibt durchaus Situationen, in denen ich mir sage: „Ach nein, bevor ich hier einen unglücklichen Kompromiss eingehe, verzichte ich lieber ganz.“

Abgesehen davon verabscheue ich jede Form des Rankings. Zwar werden einem unentwegt irgendwelche Ranglisten vorgesetzt, von den tollsten Filmen aller Zeiten bis zu Norddeutschlands besten Treckern. Aber ich mag so was nicht. Eine Bewertung, was das Beste, das Zweitbeste, Drittbeste etc. ist, ist immer subjektiv, momentgebunden, willkürlich, ungerecht und was weiß ich noch alles. Ich will nicht dauernd vergleichen.

 

Stolz und Demut

Die demütige Haltung ist schon sehr erhaben! Und der entscheidende Punkt, glaube ich, ist die Freiwilligkeit. „Ich beuge mich freiwillig“ und das heißt aus wirklich vollkommen freiem Willen (nicht aus Not oder Berechnung). Es ist Stolz und Hingabe zugleich. „Hingabe“ gefällt mir noch nicht so richtig, vielleicht ist „Unterwerfung“ besser?

Hingabe, Unterwerfung – hm ... dann bin ich vielleicht nicht demütig genug. Denn beides trifft auf mich nicht zu. Beide Haltungen haben eine Vorwärtsrichtung, die mir fehlt. Ich neige mich, zum Zeichen meines Einverständnisses, aber das war’s dann auch, ansonsten bleibe ich reserviert. Annahme wäre vielleicht der für mich passendere Ausdruck. Ich entscheide mich (ja, die Freiwilligkeit ist ein wichtiger Punkt!), dieses Schicksal wirklich anzunehmen, aber ich muss ihm nicht auch noch entgegenkommen. (Deine Verknüpfung der Demut mit dem Stolz finde ich sehr bestechend.)

Auch hierzu gibt es das passende Bild. :-)

[Mehr ...]

Filippo Lippi (1406-1469): Verkündigung

Alte Pinakothek München (Quelle: Wikipedia)

 

Nachtrag zum Hinnehmen

Gestern beim Abwaschen dachte ich plötzlich (nicht zum ersten Mal): „Nun bin ich hier allein in dieser Wohnung, gehe friedlich meinen Alltagsbeschäftigungen nach, während du tot bist.“ Und wie schon oft hatte ich dabei das Gefühl, nichts zu begreifen.

Was heißt das: Mein Mann ist tot? Auch jetzt stocke ich hier wieder. Es fällt mir einfach nichts dazu ein. Es ist, als wüsste ich nicht, was das bedeutet. Bei anderen Menschen geht mir das nicht so. Ja gut, jemand ist tot, d.h. er ist unwiderruflich nicht mehr da, sein Leben ist beendet etc. Oberflächlich betrachtet gilt das natürlich auch für meinen Mann. Aber dass er, der doch immer da war, der lebendig war, das jetzt nicht mehr sein soll, dass er einfach – – –weg ist, für immer … nein, wenn ich versuche darüber nachzudenken, wird es weiß in meinem Kopf. Nichts. Leere.

So ist dies eine weitere Bedeutung des Hinnehmens: Ich verstehe es nicht, ich kann es nur als Tatsache hinnehmen. Sozusagen mit einem verständnislosen, leicht erstaunten Kopfschütteln.

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.