Brief 59 | Bescheidenheit 🧦

Liebe B.,

Der gute Zweifel

[...] Ich werfe mir manchmal vor (inzwischen nicht mehr so sehr wie am Anfang), dass ich zu gut allein zurechtkomme. Deshalb erleichtert es mich, wenn ich doch mal eine Phase des Leidens (um es auch bei diesem pauschalen Ausdruck zu belassen) habe, nach dem Motto „Aha, ich trauere also doch.“

Aber wie komme ich eigentlich darauf, dass das eine das andere ausschließt? Ich kann doch gut allein zurechtkommen – durchaus in dem Sinne, dass ich mich in meinem Leben relativ wohlfühle, also nicht wie bei dir, dass ich das Gefühl habe, mich nur so gerade über Wasser zu halten – und trotzdem trauern. „Und“ statt „ja, aber …“ – dieser Gedanke wird für mich immer wichtiger. Ich darf die radikale Akzeptanz auch gern auf mich selbst anwenden. :-)

Wenn ich jetzt, heute und daher aus der Distanz, mit meinen Augen auf Deine Selbstvorwürfe, die wir zu Anfang unter vielen Aspekten beleuchtet haben, zurückblicke, dann würde ich sie neu interpretieren. Ich verstehe Deine Plagerei um das „zu gut gehen“ als einen guten Selbst-Zweifel, eine Skepsis, die vordergründig zwar ein Selbstvorwurf war (ist), hinter dem aber die Frage gestanden hat, ob Du möglicherweise eine Tiefe von Leiderfahrung umschiffst, die Dich später einmal würde „einholen“ können oder die Du mit Deinem „Talent zum Glücklichsein“ im wörtlichen Sinne verpassen könntest zu machen. Aus dieser Sicht wäre der Selbstvorwurf eine Art prüfender Instanz, nicht um Dein Wohlergehen zu zerstören, sondern nur zur Kontrolle, ob die Trauerdimension nicht zu kurz kommen könnte.  

Noch eine Nachfrage zum Leiden: Verstehe ich das richtig, dass du nicht so sehr an der Trauer leidest – den Tod deines Mannes hast du mehr oder minder akzeptiert –, sondern hauptsächlich daran, dass du mit dem Alleinleben nicht zurechtkommst? Zwar beschreibst du es so immer wieder, aber ich möchte doch sichergehen, deshalb frage ich lieber nach. Das ist für mich insofern von Bedeutung, als du dann für mich ein Beispiel dafür wärest, dass, wie es in den Trauerratgebern immer wieder heißt, jede Form des Trauerns oder eben auch Nicht-Trauerns in Ordnung ist. Ich habe es in unserem E-Mail-Briefwechsel immer als sehr entlastend empfunden, wie gelassen du davon erzählen konntest, dass du manchmal tagelang kaum an deinen Mann denkst und dann wieder intensiver, oder dass du nur sehr unregelmäßig auf den Friedhof gehst. Das erschien mir zu Anfang geradezu phänomenal. Mir ist zwar klar, dass dafür auch der größere zeitliche Abstand zum Tod deines Mannes eine Rolle spielt; dennoch hat mir das sehr dabei geholfen, mein eigenes schnelles Akzeptieren zu akzeptieren.

Ja, das Wort „Leiden“ bezog sich auf mein Alleineleben. Mein Mann hat manchmal, noch vor der Krankheitsdiagnose, zu mir gesagt, „ich glaube, Du würdest ohne mich besser leben als mit mir“ (sinngemäß). Immer dann sagte er es, wenn ich meinte, ich könne ohne ihn nicht leben. Und in den vergangenen Monaten sage ich oft zu ihm „es ist nicht wahr, was du gesagt hast. Ich lebe nicht besser ohne dich. Du hättest mich nicht alleine lassen dürfen“. Das ist ohne Vorwurf an ihn gerichtet, denn er hat mich ja nicht freiwillig verlassen. Ich glaube, es ist einmal die Bitte an ihn darin, mir zu Hilfe zu kommen und zum anderen wohl auch ein später Liebesbeweis, denn wie hat er darauf „verfallen“ können, es würde mir ohne ihn besser gehen als mit ihm?!      

Verarbeitungsmuster

[...] Meine spontanen Reaktionen auf ungute Ereignisse, egal ob gravierend oder nebensächlich, sind natürlich auch meistens abwehrend. (Na ja, bei den nebensächlichen vielleicht nicht so oft, da ist mir tatsächlich vieles gleich-gültig.) In der Regel ärgere ich mich natürlich auch, bin enttäuscht oder traurig – ich bin doch kein Übermensch! :-) Aber es dauert meist nicht lange und es setzt eine automatische Relativierung ein. Ich trete sozusagen neben dieses Gefühl (meine Zuschauerrolle). Dadurch verschwindet es nicht gleich, aber es wird ziemlich schnell schwächer und verliert an Bedeutung. Gerade habe ich gelesen, dass man am stärksten das zuletzt Geschehene im Gedächtnis behält – wenn im Urlaub zwei Wochen lang die Sonne geschienen hat, aber die letzten zwei Tage verregnet waren, dann erzählt man zu Hause: „Na ja, das Wetter war nicht so toll.“ Ich habe zwar leichte Zweifel, ob das so stimmt, aber es würde erklären, warum ich das Selbstbild habe, dass negative Erlebnisse mich nicht allzu lange belasten – weil sie relativ schnell „neutralisiert“ werden.

Mir war neulich schon ein berufliches Ereignis eingefallen, von dem Du einmal erzählt hattest, es habe Dich zuerst sehr mitgenommen. An der Stelle hatte ich schon gezweifelt, ob Du tatsächlich auf alle Widerfahrnisse unwertend reagierst. Ich vermute jetzt, ergänzend zu dem, was Du oben schreibst, es ist Deine Fähigkeit, unangenehme Ereignisse schnell unter dem Aspekt betrachten zu können, welche positiven Möglichkeiten sie eröffnen, die ebenfalls zu Deinem Selbstbild beitragen. Das jüngste Beispiel dazu ist vielleicht die Äußerung aus einem Deiner letzten Briefe, Du seiest dankbar dafür, das Alleineleben kennenlernen zu dürfen. Ein unerwünschtes Ereignis erleidest Du zwar, und zugleich bist Du ohne langes Zögern bereit, die Aufmerksamkeit auf die darin enthaltene Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, zu lenken.

(Denn hier passierte mir beim Lesen, so wie dir neulich beim Schreiben, etwas ganz und gar Unerwartetes! Als ich diesen Satz las, habe ich im Geiste erschrocken die Hände gehoben und gerufen: „Oh nein, das will ich gar nicht!“ So viel zu meinem Wunschtraum vom Einsiedlerleben. :-))) Aber gleich im nächsten Moment kam das korrigierte Bild: eine Halbinsel! Denn diese spontane Reaktion hat mir deutlich gemacht, was ich wirklich will bzw. nicht will: Ich möchte gar nicht dauerhaft von allen Menschen abgeschnitten sein. Ich möchte erreichbar sein und auch selbst ohne Probleme hinausgehen können. Aber für die meiste Zeit brauche ich einen geschützten Rückzugsort, an dem ich in Frieden, Ruhe und unbehelligt leben kann.

Ja!)

Bescheidenheit

Da ich ein Faible für alles Kleine und Unscheinbare habe, lege ich schon deswegen keinen Wert auf das Beste. Gab es nicht mal eine Werbung, in der es hieß „Für mich nur das Beste“? Die hat mich immer abgestoßen. Das Gute tut es doch auch, ja eigentlich sogar das Minderwertige. Na ja, so ganz kann man das natürlich nicht verallgemeinern. Leben ist keine ästhetische Veranstaltung, bei der man sich am Wabi-Sabi erfreuen kann. Es gibt durchaus Situationen, in denen ich mir sage: „Ach nein, bevor ich hier einen unglücklichen Kompromiss eingehe, verzichte ich lieber ganz.“

Trotz Deines Selbst-Einwandes gegen das Leben als „ästhetische Veranstaltung“ möchte ich das Minderwertige aufgreifen, und würde das Minderwertige aber gerne durch das bescheidene Ziel oder die bescheidene Lösung ersetzen, weil mir der Ausdruck „minderwertig“ zu ab-wertend klingt. Mir fällt dazu ein Beispiel aus der allerersten Corona-Zeit ein (während des ersten Lockdowns), als ich von mir aus telefonisch Kontakt zu 2 Frauen aufgenommen habe, von denen ich eigentlich wusste, daß wir uns wenig zu erzählen haben. Entgegen meiner Scheu, überhaupt Kontakte von mir aus zu initiieren und entgegen meiner Neigung, nicht Vielversprechendes gar nicht erst zu probieren, habe ich mich damals dennoch zum Ergreifen dieser Möglichkeit entschieden, weil ich sicher war, daß mir die Kontakte aus den permanenten Grübeleien um die Situation heraushelfen. Worauf bezieht sich die Bescheidenheit, frage ich mich selbst gerade ... auf den erwarteten unverbindlichen Small-Talk der Gespräche. Da die Gespräche ihren Zweck erfüllten, mich aus der Verengung auf die ständigen Besorgnisse zu befreien, war die Wahl der bescheidenen Möglichkeit vom Ergebnis eine gute. Unter anderen Umständen würde ich die Wahl als einen "faulen Kompromiß" bezeichnen. Ach, man muß das in jeder Situation neu abwägen :-))).          

Fortsetzung „Demut“

Hingabe, Unterwerfung – hm ... dann bin ich vielleicht nicht demütig genug. Denn beides trifft auf mich nicht zu. Beide Haltungen haben eine Vorwärtsrichtung, die mir fehlt. Ich neige mich, zum Zeichen meines Einverständnisses, aber das war’s dann auch, ansonsten bleibe ich reserviert. Annahme wäre vielleicht der für mich passendere Ausdruck. Ich entscheide mich (ja, die Freiwilligkeit ist ein wichtiger Punkt!), dieses Schicksal wirklich anzunehmen, aber ich muss ihm nicht auch noch entgegenkommen. (Deine Verknüpfung der Demut mit dem Stolz finde ich sehr bestechend.)

Hmhmhm :-))) ... das bedeutet: Angesichts meiner Überschwe(ä)nglichkeit beim Lesen des Wortes „Demut“ enttäuscht mich Deine aufs „Neigen, zum Zeichen des Einverständnisses“ reduzierte nüchterne Version. Deine ansonstige „Reserviertheit“ – köstlich, sie entkleidet die „Demut“ von allem Pathos. Es ist ein bescheideneres Verständnis von „Demut“. Ich vermute, daß mein Überschwang von der religiösen Komponente herrührt, in deren Umfeld ich die Demut verorte. Das Einverständnis wird in den religiösen Bereich transzendiert ... aus pragmatischer Sicht „überhöht“. Bei mir bekommt das Schicksal den „touch“ einer persönlichen Gottheit, während es, das Schicksal, in Deinem Verständnis eine anonyme Macht? bleibt.

Liebe B., jetzt, kurz vor dem Absenden meines Briefes, bemerke ich erst, daß ich bereits das zweite Mal Dein Bild unkommentiert gelassen habe. Ich möchte nicht im Vorbeigehen darauf eingehen, außerdem ist mein Brief „voll“ – nur wenigstens entschuldigend anmerken möchte ich mein Versäumnis.      

F.

 

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