Brief 57 | Demut

Liebe B.,

Nachbesserungen

So ganz verstehe ich es aber nicht, so sehr es mich auch freut, dass es zu diesem Umschwung gekommen ist. „Die Schwachstelle der Selbstakzeptanz“ betraf ja sonst, soweit ich das mitbekommen habe, meist Eigenschaften, die du an dir selbst als negativ bewertet hast. Dass du gelitten hast, kannst du aber doch unmöglich als eine negative Eigenschaft bewerten, oder?! Für mich sieht der „Umschwung“ eher nach einem Perspektivwechsel aus – du beschreibst es ja selbst: Du guckst nicht anklagend nach außen, sondern liebevoll auf dich selbst.

Gut, daß Du eingehakt hast, weil mir jetzt klar wird, was auch ich verschwommen fand, nämlich der Bezug des „Leidens“ zur Selbstakzeptanz. Das imaginäre Außen ist die Projektion eines inneren Anteils, der mein Leiden –gleich, welches und woran - für nicht in Ordnung befindet, indem er es für übertrieben, der Situation nicht angemessen, für selber verschuldet o.ä. hält. Das erste Trauerjahr wieder einmal ausgenommen, hat dieser innere Kampf recht bald danach begonnen. Unter dieser Konstellation ist mein Leiden (ich belasse es in dieser pauschalen Form) lediglich Ausdruck meiner Unfähigkeit, mit dem Leben alleine zurechtzukommen. Das heißt, der Umschwung betrifft die Haltung zu mir selber, weil der vorwurfsvolle Blick nach außen genaugenommen auch eine Haltung –in mir- zu mir selber ist. Die Leidensstimme wird abgewiesen, nicht ernst genommen, was zur Folge hat, daß sie umso lauter wird. Das ist schon manchmal recht nervig, weil ich nicht immer sofort durchschaue, daß ich diesem Muster gerade wieder einmal folge.      

Mir ist aufgefallen, dass du schreibst, dass es sich hier um deine „gegenwärtige Stimmung“ handelt. Heißt das, du hast auch schon andere Phasen gehabt (neutralere, hellere …)? Wenn ja: Hast du die auch als solche wahrgenommen? Oder zeigen sie sich erst jetzt, durch den Kontrast mit dieser schwarzen Phase, als heller?

Es hat eine kurze Zeit gegeben, in der ich mich anders gefühlt habe als in den Jahren zuvor. Ich habe eine Woche lang überlegt:-))), was denn den Unterschied genau ausmacht. Heute, kurz vor dem Beenden meines Briefes, habe ich „es“ gefunden – hoffe ich. Ich habe mich endlich wieder als eine liebende erwachsene Frau gefühlt. Ob das die „Lücke“ ist, über die wir anfangs gesprochen haben? Im Moment empfinde ich diese Lücke wie einen Krater, der in mich gerissen ist (das ist ein drastisches Bild, das ich nicht glätten möchte, weil es mich erleichtert, in derartiger Klarheit zu spüren, was mir fehlt). Im Lichte dieses Lebensgefühls sind mir sowohl die letzten Jahre insgesamt als auch das „Hier und Heute“ so erschienen, als würde ich mich mehr oder weniger immer nur über Wasser halten. Das schließt nicht aus, daß ich an einer Reihe von Tagen nicht auch glücklich gewesen wäre (im Gespräch mit Dir, oder wenn ich mich von anderen, mir wenig vertrauten Menschen anerkannt fühlte), aber in der gegenwärtigen Beurteilung scheint mir die weitaus größere Zahl der Tage von meinen Ängsten (Verlust, Verlassenheit, Ohnmacht) geprägt, und wie ich sie auf einem Level halten kann, daß es für mich erträglich ist.          

Aber deine starke Empfindung des Falschen ist etwas Anderes. Die „falsche Lebensform“ ist ja etwas sehr Grundsätzliches, sie beeinflusst ALLES. Und so kann ich auch nachvollziehen, was du über die Nicht-Selbstverständlichkeit schreibst. Wenn du deine jetzige Lebensform als grundsätzlich falsch empfindest, dann, so stelle ich es mir vor, hat das Auswirkungen auf alles, was dir an Gutem und Schlechtem widerfährt. Das Schlechte bestätigt dein Gefühl nur, und auf dem Guten liegt eine Art Schleier, sodass du es nicht vollständig genießen kannst. Sozusagen nie ein „Ja“, sondern immer ein „Ja, aber …“.

Ich muß mich korrigieren, denn es stimmt nicht, daß ich meine jetzige Lebensform als grundsätzlich falsch empfinde und alles nicht zu mir paßt. Das ist Unsinn. Ich bin weder ein Gruppen- noch ein Familienmensch, sondern lebe gerne für mich alleine vor mich hin. Richtig müsste ich daher sagen, ich möchte nicht ohne eine Liebesbeziehung leben. Das empfinde ich inzwischen als grundsätzlich falsch und das beeinflusst tatsächlich meine Haltung, die eine des „ja, aber“ ist. Nun hattest Du in Deinem mail-Brief den Vorschlag gemacht, die einschränkende Formel durch ein „und“ zu ersetzen, eine Idee, die mir auf Anhieb weiterführend vorkam. Es ist zwar nicht so, daß ich sofort von hier nach da wechseln kann, aber als einen leitenden Gedanken habe ich mir das „und“ bereits zu eigen gemacht. Das „und“ ist deswegen so hilfreich, weil es alle Dinge, die ich tue, alle Menschen, denen ich begegne, und damit auch mich in ihr eigenes Recht versetzt, d.h. sie erhalten ihren vollkommen eigenen Wert – ohne „wenn und aber“.              

Nicht-Bewertung

Hm … das Hinnehmen noch weiter aufdröseln? Spontan fällt mir dazu gar nichts ein. Aber ich nehme an, du möchtest wissen, wie es sich „anfühlt“ oder auswirkt, weil du selbst damit Schwierigkeiten hast oder es nicht so richtig kennst?

Du hattest Dein „Hinnehmen“ an unterschiedlichen Stellen (in Deinen e-mails und hier) in verschiedenen Negativformen umschrieben, die ich aus dem Gedächtnis wiedergebe: „ich wehre mich nicht“, „ich bejahe nicht wirklich“, „es ist kein depressives Erdulden“, es ist ein „passives Hinnehmen“ (positiv), und mir waren Deine Umschreibungen noch nicht präzise genug, oder richtiger: was „hinnehmen“ im positiven Sinne bedeutet; sicher auch deswegen, weil mir „hinnehmen“ nur in der Form des depressiven „Ertragens“ vertraut ist.      

[...] Das Hinnehmen ist mehr ein allgemeines Gefühl. Vorherrschend dabei ist, dass ich nicht überlege, ob es gut oder schlecht ist. Es ist einfach, wie es ist. Es ist mein Leben.

Ich bin mein Leben durchgegangen auf der Suche nach Situationen, in die ich unfreiwillig hineingekommen bin. Das sind, wenn ich auf der Ebene der gravierenderen Ereignisse bleibe, hauptsächlich Arbeitsplatz- oder Wohnungs- bzw. Zimmerverluste gewesen. Und ja, ich kann mich nicht erinnern, jemals eines dieser Vorkommnisse unwertend erlebt zu haben. Die gleich-gültige Haltung ist mir tatsächlich völlig fremd. Immer haben die jeweiligen Ereignisse unter der Überschrift „gut“/“schlecht“ oder „angenehm“/“unangenehm“ gestanden. Wobei ich sie in den meisten Fällen, weil ungewählt, als „unangenehm“ empfunden und als „schlecht“ bewertet habe. Daß eine spätere Sicht auf die Dinge nahezu immer zum gegenteiligen Ergebnis führte, steht auf einem anderen Blatt.      

Zunächst einmal: „Das Beste draus machen“ klingt für mich ein wenig falsch. Das Beste? Ich muss nicht das Beste haben. (Ja, ich weiß, der Satz ist nicht so gemeint, aber ich nehme ihn jetzt ganz wörtlich.) Was ich tue, ist eine oder sogar mehrere Stufen darunter. Ich frage nicht nach dem Besten. Sondern eher allgemeiner: „Was ist jetzt möglich?“

Ich hatte länger überlegt und diese Formulierung dann gewählt, weil ich das Beste (wörtlich) meinte. Wegen der Anführungsstriche, die die Redewendung markiert, war das missverständlich. Das Beste anstreben oder haben wollen ist ein hoher Anspruch, der, wie mir Deine Antwort zeigt, nur einengt, denn wenn es das Beste sein soll, dann geraten alle anderen Möglichkeiten dabei aus dem Blick. „Was ist jetzt möglich“ hingegen lässt einen weiten Spielraum. Dazu passt auch ein anderer Leitgedanke, den Du einmal erwähnt hattest „wenn dies nicht geht, dann geht etwas anderes“. Wenn „das Beste nicht geht“, was bleibt dann?! „Das Beste“ war zwar wohlüberlegt, und wie ich feststelle, eignet es sich wenig für eine Handlungsstrategie, weil man sich damit lediglich der Vielfalt der Möglichkeiten beraubt.

Mir kommt ein Bild in den Sinn: Ich bin gestrandet auf einer einsamen Insel. (Als Kind hat mich die Geschichte von Robinson Crusoe sehr fasziniert. :-)) Nach dem ersten Schock beginne ich mich umzugucken: „Okay, was gibt es hier?“ Und: „Was brauche ich jetzt eigentlich?“ Ein Abwägen und Auswählen der Möglichkeiten. Chancen entdecken. Überhaupt entdecken. Zwar immer mit der Hoffnung im Hinterkopf, gerettet zu werden (was auch immer das für mich – also in meinem richtigen Leben, nicht auf der imaginären Insel – bedeutet; aber es ist ja nur ein Bild). Aber ich kann meine Zeit nicht nur mit Warten verbringen, dann gehe ich zugrunde. Ich muss schon für mich sorgen.

Eine sehr schöne, wärmende Vorstellung, die mich gerade befällt, ist die, daß Du im „richtigen Leben“ auf der „imaginären Insel“ bleiben möchtest. 🌍

Demut

Mir schwebt die ganze Zeit ein Wort im Hinterkopf, das ich so ungewöhnlich finde, dass ich es kaum aufschreiben mag. Aber es verschwindet nicht, also passt es wohl irgendwie: Demut. Ich neige mich in Demut vor meinem Schicksal. (Puh, welch Pathos …) So wie auf manchen Verkündigungen Maria sich demütig vor dem Engel verneigt, der ihr ihr unerhörtes Schicksal verkündet.

Mit dem Wort „Demut“ kann ich sehr viel anfangen. Es ist die Anerkennung, daß es Größeres gibt als die eigene Person, oder noch mehr ist es die Hingabe? an etwas, das größer ist als die eigene Person (was die Anerkennung des die eigene Person Umfassenden voraussetzt). Man empfängt das vom Schicksal Zugedachte und nimmt es an. Die demütige Haltung ist schon sehr erhaben! Und der entscheidende Punkt, glaube ich, ist die Freiwilligkeit. „Ich beuge mich freiwillig“ und das heißt aus wirklich vollkommen freiem Willen (nicht aus Not oder Berechnung). Es ist Stolz und Hingabe zugleich. „Hingabe“ gefällt mir noch nicht so richtig, vielleicht ist „Unterwerfung“ besser?

Übrigens knüpft, finde ich, die „Demut“ an den Stolz auf Dein Schicksal an, von dem Du neulich (in Brief 50) geschrieben hattest: Dass ich mein Witwendasein nicht „zur Schau stellen“ möchte, hat auch damit etwas zu tun, dass mir mein eigenartiges Gefühl des Stolzes („Seht her, mir ist ein außergewöhnliches Schicksal widerfahren!“) inzwischen etwas peinlich ist. Ich weiß nicht, ob Du damit einverstanden bist, aber ich verstehe Dich so, daß die Peinlichkeit sich auf die öffentliche Demonstration bezieht, nicht dagegen auf Deine Empfindung des Stolzes. Jetzt kommt der Aspekt der freiwilligen Unterwerfung hinzu, weil die Demut beides beinhaltet.

Ich habe einige Male in meinem Leben kleine, eher unscheinbare Situationen erlebt, in denen ich Demut spürte und ja, ich empfand es als ein „großes“ Gefühl, so als ob ich mich im Einverständnis oder im Einklang mit dem Weltganzen befände (jedenfalls im Einklang mit etwas, das größer ist als meine Person). Ich bin zwar fernab von Demut gegenüber meinem Schicksal, aber ich erinnere mich gut, daß ich als junge Frau öfter die Ereignisse, die mir widerfuhren, in dieser Haltung entgegengenommen habe. Das heißt, ich kann sowohl die gedankliche als auch die emotionale Bedeutung -ich glaube, die Bedeutung umfaßt sogar die existentielle Dimension- sehr gut nachvollziehen. Ich finde wirklich schön, daß Du –entgegen Deiner Hemmung- die Demut erwähnt hast.      

F.

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