Liebe F.,
Die „falsche Lebensform“
Mit der „Maßlosigkeit“ meinte ich meine gegenwärtige Stimmung, in den vergangenen 6 Jahren ausschließlich das Negative zu sehen und das Negative darüberhinaus im finstersten (Farb)-Ton (schwarz) zu malen.
Aah, und jetzt passiert etwas Spannendes – in diesem Moment kommt mir ein Satz in den Sinn, der völlig neu für mich ist „ja, ich habe in den vergangenen Jahren viel gelitten“. Denn diese Formulierung bringt eine liebevolle Haltung mir selber gegenüber hervor. Die trotzig anklagende Haltung geht in eine zwar traurige, aber besänftigte Stimmung über, und der finsterste Ton wechselt in Abstufungen von „grau“. Das ist ein faszinierender Umschwung, das Erkennen während des Schreibens. Bei mir „scheint es immer wieder darauf hinauszulaufen“, die Schwachstelle der Selbstakzeptanz als Hindernis am Glück zu entdecken ... was mir manchmal erst über tagelange Umwege „glückt“.
[…]
Am Ende möchte ich mich für Deine Frage nach der „Maßlosigkeit“ bedanken. 🥰 Obwohl Du es natürlich nicht hast ahnen können, hat meine Antwort mir die „Augen geöffnet“.
Gern geschehen. :-)
So ganz verstehe ich es aber nicht, so sehr es mich auch freut, dass es zu diesem Umschwung gekommen ist. „Die Schwachstelle der Selbstakzeptanz“ betraf ja sonst, soweit ich das mitbekommen habe, meist Eigenschaften, die du an dir selbst als negativ bewertet hast. Dass du gelitten hast, kannst du aber doch unmöglich als eine negative Eigenschaft bewerten, oder?! Für mich sieht der „Umschwung“ eher nach einem Perspektivwechsel aus – du beschreibst es ja selbst: Du guckst nicht anklagend nach außen, sondern liebevoll auf dich selbst.
Mir ist aufgefallen, dass du schreibst, dass es sich hier um deine „gegenwärtige Stimmung“ handelt. Heißt das, du hast auch schon andere Phasen gehabt (neutralere, hellere …)? Wenn ja: Hast du die auch als solche wahrgenommen? Oder zeigen sie sich erst jetzt, durch den Kontrast mit dieser schwarzen Phase, als heller?
Der entscheidende Punkt bei meiner Antwort auf Deine Frage ist, so glaube ich, die Unfreiwilligkeit, d.h. ich lebe in einer Lebensform, die ich nicht gewählt habe. Ich, Friederike, lebe in der falschen, nicht zu mir passenden Lebensform. So empfinde ich es zumindest, wenn ich sage, ich hätte das Alleineleben nicht als mein Leben angenommen. Übrigens ist das auch die beste Erklärung, was ich mit der Nicht-Selbstverständlichkeit meines alltäglichen Lebens gemeint habe, wie ich jetzt feststelle.
Der Gedanke der Unfreiwilligkeit will mir jetzt, zumindest für mich, gar nicht mehr so wichtig erscheinen. Denn kommt nicht auch sonst vieles, was uns widerfährt, von außen, ohne unsere Zustimmung, ohne dass das gravierende Auswirkungen wie Ablehnung oder Leiden hat?
Aber deine starke Empfindung des Falschen ist etwas Anderes. Die „falsche Lebensform“ ist ja etwas sehr Grundsätzliches, sie beeinflusst ALLES. Und so kann ich auch nachvollziehen, was du über die Nicht-Selbstverständlichkeit schreibst. Wenn du deine jetzige Lebensform als grundsätzlich falsch empfindest, dann, so stelle ich es mir vor, hat das Auswirkungen auf alles, was dir an Gutem und Schlechtem widerfährt. Das Schlechte bestätigt dein Gefühl nur, und auf dem Guten liegt eine Art Schleier, sodass du es nicht vollständig genießen kannst. Sozusagen nie ein „Ja“, sondern immer ein „Ja, aber …“.
Hinnehmen
Das „Hinnehmen“ („auf das es immer wieder hinauszulaufen scheint“) möchte ich zu gerne aufgedröselt haben :-))). Weil ich Dich im mail-Brief schon dazu gefragt hatte, schreibe ich Dir an dieser Stelle nur meinen jüngsten Einfall, von dem ich selber ganz angetan bin, weil ich vermute, daß er einigermaßen ins Schwarze trifft. Heißt „hinnehmen“ für Dich, das Beste aus einer nicht freiwillig gewählten Situation zu machen? Du bist nun verwitwet und versuchst zielstrebig, diese neue Lebenssituation so zu gestalten, daß Du ein gutes Leben hast?
Hm … das Hinnehmen noch weiter aufdröseln? Spontan fällt mir dazu gar nichts ein. Aber ich nehme an, du möchtest wissen, wie es sich „anfühlt“ oder auswirkt, weil du selbst damit Schwierigkeiten hast oder es nicht so richtig kennst?
Zunächst einmal: „Das Beste draus machen“ klingt für mich ein wenig falsch. Das Beste? Ich muss nicht das Beste haben. (Ja, ich weiß, der Satz ist nicht so gemeint, aber ich nehme ihn jetzt ganz wörtlich.) Was ich tue, ist eine oder sogar mehrere Stufen darunter. Ich frage nicht nach dem Besten. Sondern eher allgemeiner: „Was ist jetzt möglich?“
Mir kommt ein Bild in den Sinn: Ich bin gestrandet auf einer einsamen Insel. (Als Kind hat mich die Geschichte von Robinson Crusoe sehr fasziniert. :-)) Nach dem ersten Schock beginne ich mich umzugucken: „Okay, was gibt es hier?“ Und: „Was brauche ich jetzt eigentlich?“ Ein Abwägen und Auswählen der Möglichkeiten. Chancen entdecken. Überhaupt entdecken. Zwar immer mit der Hoffnung im Hinterkopf, gerettet zu werden (was auch immer das für mich – also in meinem richtigen Leben, nicht auf der imaginären Insel – bedeutet; aber es ist ja nur ein Bild). Aber ich kann meine Zeit nicht nur mit Warten verbringen, dann gehe ich zugrunde. Ich muss schon für mich sorgen.
Auch in der Zielstrebigkeit finde ich mich nicht so recht wieder. Es ist mehr ein Vor und Zurück, ein Hin und Her. Ein ständiger Wechsel zwischen Abwarten und Aktivwerden, zwischen dem Genügen am Status Quo und dem Gefühl, jetzt ist es Zeit für einen Schritt.
Wenn ich es recht bedenke, hat dieses Hinnehmen tatsächlich nicht viel damit zu tun, aus meiner Situation „das Beste zu machen“. Zwar versuche ich, wie du schreibst, meine Lebenssituation so zu gestalten, dass ich ein gutes Leben habe. Aber das ist ein ganz anderer Aspekt. Das Hinnehmen ist mehr ein allgemeines Gefühl. Vorherrschend dabei ist, dass ich nicht überlege, ob es gut oder schlecht ist. Es ist einfach, wie es ist. Es ist mein Leben.
Mir schwebt die ganze Zeit ein Wort im Hinterkopf, das ich so ungewöhnlich finde, dass ich es kaum aufschreiben mag. Aber es verschwindet nicht, also passt es wohl irgendwie: Demut. Ich neige mich in Demut vor meinem Schicksal. (Puh, welch Pathos …) So wie auf manchen Verkündigungen Maria sich demütig vor dem Engel verneigt, der ihr ihr unerhörtes Schicksal verkündet.
[Mehr ...]
(Auch von mir ein kleiner Exkurs, weil es eines meiner Lieblingsthemen ist: Ich kenne hauptsächlich drei Reaktionen Marias, die auf Verkündigungsbildern dargestellt werden: die demütig annehmende, die erschreckt abwehrende und die ruhig majestätische. So wie es auch für den Engel einige Stereotypen gibt: den energisch herbeiflatternden, den sanften, fast mitleidigen, der sich oft ebenfalls verneigt, den herrisch befehlenden … „Irgendwann“ würde ich gern mal herausfinden, ob diese Unterschiede sich verschiedenen Epochen zuordnen lassen. Ob also der Einbruch des Numinosen in ein bis dahin ganz unscheinbares Leben beispielsweise im Mittelalter generell anders aufgefasst wurde als z.B. in der Renaissance oder im Barock – von den Malstilen mal ganz abgesehen –, oder ob das individuell von Maler zu Maler verschieden ist.)

Fra Angelico (um 1395–1455): Verkündigung
Ach ja, die Bilder … die aus Farbe und die aus Wörtern – ich liebe sie!
Aber nun habe ich mich selbst vom Thema abgebracht und finde grad nicht mehr zurück. Also mache ich hier einfach Schluss für heute. :-)
B.
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