Liebe B., 🌸
Leere und Fülle
[...] Die Leere, die ich meine, wird nicht symbolisiert, sondern ist tatsächlich vorhanden. So wie bei japanischer Tuschmalerei vielleicht, bei der der größte Teil des Papiers frei bleibt. Aber da fehlt nicht etwa etwas, es ist nicht unvollendet, sondern im Gegenteil, diese freie Fläche hat sowohl ästhetische als auch inhaltliche Bedeutung. Die Andeutung der Landschaft auf dem nebenstehenden Bild ist schön, aber auch die große leere Fläche darüber (die mehr ist als der Himmel) ist schön. Wenn man das Bild in der Mitte durchschneiden würde, hätte man zum einen eine zwar ganz nette, aber nicht besonders herausragende Landschaft (in der auch hier schon die freien Flächen Bedeutung haben) und zum anderen eine nichtssagende leere Fläche. Aber in ihrer Gesamtheit, in ihrer wechselseitigen Bezogenheit entsteht die Vollkommenheit von Fülle und Leere. Und so empfinde ich das Fehlen, das Nichtmehrdasein meines Mannes und unseres gemeinsamen Lebens nicht nur als Verlust, sondern auch als eine starke Kraft. Da ist ja nicht nur Trauer um das Verlorene, sondern auch Wissen um das Gewesene. Diese leere Fläche, die es jetzt in meinem Leben gibt, ist ja gefüllt – nicht mit der Erinnerung, das zwar auch, aber das meine ich hier nicht; sondern ich selbst bin erfüllt, geprägt durch dieses gemeinsame Leben. Das ist also nicht etwas Vergangenes, sondern sehr Gegenwärtiges.
Anhand der Zeichnung wird mir nun auch die Formulierung aus Deinem letzten Brief einsichtig, die Leere nähme „viel Raum ein“. Auf Deine bisherige Lebenszeit bezogen, hast Du ja Dreiviertel der Zeit mit Deinem Mann zusammengelebt. Das ganze, das vollständige Bild bist Du jetzt. Aber Du, Deine Person, das Ganze bist mehr als die Summe der Teile. Der Ausdruck „Prägung“ gefällt mir ausnehmend gut (nur als ein Nebengedanke: man muß die Größe der leeren Fläche, so verstehe ich das Konzept von „Leere und Fülle“, nicht notwendig auf die Zeit beziehen, denn geprägt sein kann man auch zum Beispiel durch Ereignisse, die auf die Lebenszeit bezogen von kurzer Dauer sind).
Das ist der Punkt, um den es mir geht: Ich habe zwar etwas verloren, aber positiv gewendet bedeutet das auch: ich habe etwas gehabt.[...]
Ich bin mir zwar nicht sicher, aber falls ich die Aufeinanderbezogenheit von Leere und Fülle richtig verstanden habe, dann müsste dies bedeuten, daß jeder Eindruck, den wir haben, in dem Moment, da er verschwindet, „Leere“ und zugleich „Fülle“ wird. Es wäre eine unablässige Bewegung, die Leere und Fülle entstehen lässt. Eine Gleichzeitigkeit des „Verschwindens“ oder „Verlierens“ und „Hervorbringens. Hm, „verlieren“ stimmt nicht so recht, weil „verloren“ eigentlich nichts geht. Lediglich die Formen wechseln. Du hattest aber auch nur von „Ähnlichkeit“ geschrieben (was ich nicht zitiert habe) und außerdem bin ich ahnungslos, was die chinesische? -soweit ich mich informiert habe- Philosophie betrifft.
Trost
[...] Ich fühle mich dann wie ein Kind, das in den Arm genommen wird und seinen ganzen Kummer erleichtert einem Erwachsenen überlassen kann, in dem unbedingten Vertrauen, dass dieser allmächtig ist und alles wieder gut und heil machen wird. (Falls ich nicht gerade in einer bockigen Stimmung bin und denke: „So ein Quatsch! Nichts ist gut.“ Oder: „Nie ist alles gut.“)
Im Unterschied zu Dir wirkt die heilende Kraft des „Alles ist gut“ bei mir sogar dann, wenn ich in einer, wie Du es nennst, „bockigen“ Stimmung bin. Auch die Bockigkeit wird in die liebenden Arme genommen. Was mir aber jetzt erst deutlich wird: Wenn alles gut ist, braucht es die drei Worte nicht. Hineingesprochen werden sie in Situationen und Verfassungen, in denen gerade nicht alles als gut empfunden wird. Man sagt sie also im Wissen darum, daß das Gegenteil der Fall ist. Wegen dieses inneren Widerspruches empfinde ich die Formel auch nicht als billigen Trost, d.h. als einen Trost, der die Realitäten negiert, beschönigt oder bagatellisiert.
Unfreiwilligkeit
Verwundert haben mich die Worte „Maßlosigkeit“ und „Nicht-Wissen“. Kannst du die noch näher erläutern? Besonders die Maßlosigkeit?
Mit der „Maßlosigkeit“ meinte ich meine gegenwärtige Stimmung, in den vergangenen 6 Jahren ausschließlich das Negative zu sehen und das Negative darüberhinaus im finstersten (Farb)-Ton (schwarz) zu malen.
Aah, und jetzt passiert etwas Spannendes – in diesem Moment kommt mir ein Satz in den Sinn, der völlig neu für mich ist „ja, ich habe in den vergangenen Jahren viel gelitten“. Denn diese Formulierung bringt eine liebevolle Haltung mir selber gegenüber hervor. Die trotzig anklagende Haltung geht in eine zwar traurige, aber besänftigte Stimmung über, und der finsterste Ton wechselt in Abstufungen von „grau“. Das ist ein faszinierender Umschwung, das Erkennen während des Schreibens. Bei mir „scheint es immer wieder darauf hinauszulaufen“, die Schwachstelle der Selbstakzeptanz als Hindernis am Glück zu entdecken ... was mir manchmal erst über tagelange Umwege „glückt“.
Was genau heißt „nicht angenommen“? Praktisch, also im Lebensvollzug, führst du dieses Leben allein ja schon längst, und das seit vielen Jahren. Es wurde dir anfangs zwar aufgezwungen, aber da du dich weder umgebracht hast noch, soweit ich weiß, aktiv nach einem neuen Partner gesucht hast, hast du das Alleinleben in diesem praktischen Sinne also angenommen. Das kann also nur bedeuten, dass du es „theoretisch“, also gedanklich-emotional ablehnst. Das heißt, du lebst ein Leben, aber sagst dir die ganze Zeit: „Ich will das gar nicht!“?
Alles Folgende, einschließlich Deiner weiteren Überlegungen, überkreuzt sich mit meinem letzten e-mail-Brief.
Da ich nun einmal zum Weiterleben „verdammt“ (mit Blick auf Dein „verdammt zu“) bin, mußte und muß ich ja auf irgendeine Weise mit meinem Weiterleben zurechtkommen und zwar so, daß es erträglich ist. Der Gedanke, nicht alleine weiterleben zu wollen, ist mir bis vor wenigen Monaten überhaupt nie in den Sinn gekommen. Es gab für mich keine Alternative zum Alleineleben oder anders gesagt, eine neue Liebesbeziehung war außerhalb meines Vorstellungshorizontes (aber das sagte ich wohl schon). Nunja, das antwortet die störrische Eselin.
Der entscheidende Punkt bei meiner Antwort auf Deine Frage ist, so glaube ich, die Unfreiwilligkeit, d.h. ich lebe in einer Lebensform, die ich nicht gewählt habe. Ich, Friederike, lebe in der falschen, nicht zu mir passenden Lebensform. So empfinde ich es zumindest, wenn ich sage, ich hätte das Alleineleben nicht als mein Leben angenommen. Übrigens ist das auch die beste Erklärung, was ich mit der Nicht-Selbstverständlichkeit meines alltäglichen Lebens gemeint habe, wie ich jetzt feststelle.
Wie ist das bei mir? Ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Leben wirklich bejahe. Aber ich wehre mich auch nicht dagegen. Ich nehme es hin. Darauf läuft es bei mir anscheinend immer wieder hinaus. Es ist in der Ordnung der Dinge, dass Menschen sterben, dass das Leben nicht nach meinen Wünschen verläuft, dass es holpert, dass es manchmal traurig und manchmal schön ist, manchmal schwer und manchmal leicht … Warum sollte ausgerechnet ich aus der Zeit fallen?
Das „Hinnehmen“ („auf das es immer wieder hinauszulaufen scheint“) möchte ich zu gerne aufgedröselt haben :-))). Weil ich Dich im mail-Brief schon dazu gefragt hatte, schreibe ich Dir an dieser Stelle nur meinen jüngsten Einfall, von dem ich selber ganz angetan bin, weil ich vermute, daß er einigermaßen ins Schwarze trifft. Heißt „hinnehmen“ für Dich, das Beste aus einer nicht freiwillig gewählten Situation zu machen? Du bist nun verwitwet und versuchst zielstrebig, diese neue Lebenssituation so zu gestalten, daß Du ein gutes Leben hast?
Inwieweit helfen solche Gedanken? [...] Du hattest mal sinngemäß geschrieben, die Veränderung der Gefühle müsse über die Veränderung der Gedanken laufen, und ich weiß noch, dass ich mich damals flüchtig darüber gewundert hatte. Doch nun mache ich genau das, und es fühlt sich für mich richtig an. Ja, es ist Rationalisieren. Ja, es ist in gewisser Weise der Versuch, sich selbst etwas schönzureden. Aber zumindest bei mir ist es so, dass das tatsächlich hilft. Diese Gedanken fühlen sich für mich richtig an. Denken und Fühlen gehören zusammen und wirken wechselseitig aufeinander ein. Na ja, eigentlich banal.
Damit will ich aber nicht dem zwanghaften Positivdenken das Wort reden. Es wird nicht alles leichter dadurch, dass man sich das einredet. Aber es wird auch nichts besser dadurch, dass man in seinen Gefühlen versinkt. Mit Fühlen allein kommt man nicht aus den Gefühlen heraus. So wie man durch Denken allein nichts an seinem Handeln verändert. Erst wenn man das Gedachte sich auch gefühlsmäßig zu eigen macht, findet eine Veränderung statt. Und so, wie ich manchmal spüre: Ja genau, das fühlt sich jetzt richtig an, so weiß ich auch bei manchen Gedankengängen intuitiv: Ja genau, dieser Gedanke fühlt sich richtig an. Er ist stimmig.
Und ich „stimme“ Dir ganz und gar zu. Ich merke es intuitiv auch unmittelbar und mit festester Gewissheit :-))), ob ich das „Richtige“ für mich erkannt habe oder nicht. Es ist tatsächlich wie ein Übereinklang von Herz, Verstand, Seele und Leib (mit „Schönreden“ meinte ich Gedanken, die an der Peripherie bleiben und nichts verändern, weil sie „nicht stimmen“).
(Kurzer Exkurs: Mich erinnern Deine Überlegungen an die kurze Verhaltenstherapie, die ich Ende 2017 im Krankenhaus absolviert hatte. Am leichtesten noch ist ein Verhalten direkt zu verändern; Gefühle hingegen sind wie sie sind, entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Aber da sie engstens mit Gedanken verknüpft sind, können Gefühle über gedankliche Veränderungen ebenfalls verändert werden (nicht die entsprechenden Gefühle selbst, aber ob sie auftauchen oder nicht, darin besteht die Veränderung), und über Gedanken ihrerseits kann man sich mit weiteren Gedanken verhalten, d.h. man kann sie verwerfen, korrigieren, modifizieren und Neue entwickeln).
Am Ende möchte ich mich für Deine Frage nach der „Maßlosigkeit“ bedanken. 🥰 Obwohl Du es natürlich nicht hast ahnen können, hat meine Antwort mir die „Augen geöffnet“.
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare