Brief 49 | Zeichen-Setzung

Liebe B.,

Rückschau

[...] als ja auch das Nicht-Handeln eine Weise der Gestaltung ist – du hattest es in einem anderen Zusammenhang schon erwähnt. Wenn man die Dinge einfach laufen lässt, ist auch das eine Entscheidung. Ich meine jetzt nicht Situationen, in denen man unter einem wie auch immer gearteten Zwang steht, sondern solche, wo man wirklich eine Wahl hat. Ich rede da von mir selbst in meiner Rolle als „Zuschauerin“, in der ich sehr vieles einfach geschehen lasse anstatt einzugreifen. Das empfinde ich durchaus als bewusste Handlung.

Du hattest vor einem knappen Jahr im Zusammenhang mit der Figur der Kreuzfahrtschiff-Lady aus einer der Barnaby-Episoden in einem einzigen bildstarken Satz ein Lebensgefühl ausgedrückt, das ich damals sehr anziehend fand (und heute auch noch sehr anziehend finde). Du kommst nachhause in Deine Wohnung und wirfst Dich aufs Sofa mit dem Gefühl „Hach, wie schön ist das Leben!“ In Verbindung damit hattest Du auch von Deinem Wunsch erzählt, zu Deinem „Ganzheitserleben“ zurückfinden zu können. Nun hast Du kürzlich einmal (in einem e-mail-Brief) geschrieben, wie sehr Du Dein „Für-dich-sein“ derzeit genießen kannst. Ich bin sehr neugierig, ob die Situationen, in denen Du Dein Alleinesein mit Dir genießt, Deiner Impression von vor einem Jahr entsprechen. Ist Dein gegenwärtiges Genießen in dieser Szene mit diesem gesprochenen Satz zutreffend wiedergegeben? Oder ist es ein Erleben, das sich auf irgendeine Art und Weise von der von Dir damals entworfenen Zukunftsvorstellung unterscheidet? Besonders auch interessiert mich Deine Antwort in Hinsicht auf die Ganzheitserfahrung.

Mir selber schien meine Erinnerung zuerst in gar keiner Beziehung zu dem zu stehen, was Du oben geschrieben hast, aber ich glaube, das aktive Nicht-Handeln ist der Verbindungspunkt, denn in dem von Dir entworfenen Bild steht ja auch –so empfinde ich es zumindest- die Freude am Leben, am Lebendigsein im Mittelpunkt, das einfach nur „Da-sein“, das passive „Tun“. Dies nur zur Erläuterung, falls Du Dich von meiner Frage ebenso überraschend „überfallen“ siehst, wie es mir für einen Moment ging.                          

[...] Aber die Formulierung, „dass meine Seele Schaden nehmen könnte“ (an die ich mich gar nicht mehr erinnere), finde ich bemerkenswert konkret, das trifft es für mein Empfinden exakt! Vor kurzem habe ich diesen Spruch gelesen (ich mag Kalendersprüche ):

„Staying positive does not mean that things will turn out okay. Rather, it is knowing that YOU will be okay no matter how things turn out.”

Dass ich dieses Grundvertrauen verlieren könnte, war meine Befürchtung. Also eine tiefgreifende Persönlichkeitsveränderung, das, was man „gebrochen“ oder „zerbrochen“ nennt. Wie gut kennt man sich selbst? Mein Leben war bisher von Schicksalsschlägen verschont geblieben, ich hatte also keinerlei Erfahrung, wie ich reagieren würde, und hielt alles für möglich. Wie würde ich eine existentielle Krise verkraften? Man kann sich über seine eigene Stärke ja sehr täuschen – Illusionen machen –, solange sie nicht wirklich gefordert wird.

Ah, das ist doch schön, daß Du selber bereits die beste und das heißt auch eine präzise Umschreibung gefunden hattest :-))) – die nur mir nebulös schien. Und noch besser, daß ich Dich nun endlich verstehe, weil die Persönlichkeitsveränderung, die sich im Verlust des Grundvertrauens zeigt, für mich nachvollziehbar ist. Du hattest zwar im letzten Brief von Deinem Zweifel in die Stärke Deiner eigenen Kraft in der Zeit nach dem Tod Deines Mannes geschrieben, aber mir war die Verknüpfung zum möglichen „ich schaffe das nicht“ entgangen. Ich freue mich ja immer, wenn ich Äußerungen von Dir, die zu verstehen mir über längere Zeit nicht gelingt, irgendwann endlich begreife. 🐌 

Übrigens hatte ich zu Beginn diese Befürchtung nicht, ich könne es nicht schaffen, aber das, so vermute ich, ist darin begründet, daß ich die längere Zeit der Vorbereitung hatte. Unbewusst, unterschwellig muß ich mich mit der Vorstellung vertraut gemacht haben, wie es sein könnte, alleine weiterzuleben. Du hattest dazu keine Gelegenheit in Anbetracht der Kürze der Zeit und der raschen Folge der Ereignisse; Phasen der Besinnung gab es darin sicher gar nicht.

(Naja, in den ersten Monaten nach dem Krisenjahr hatte ich an manchen Tagen Zweifel, ob ich es alleine „schaffen“ würde. An solchen Tagen sah ich mich für den Rest meines Lebens in einer betreuten Wohngruppe oder in der Psychiatrie. In der Zeit an diesen Tagen war mein Selbstbild (nicht meine Persönlichkeit oder meine Seele) „zerbrochen“. Das Selbstbild oder besser noch Selbstverständnis, ich hätte genügend positive Energie, mich alleine durchzukämpfen, das war „in Scherben gegangen“. Die therapeutische Unterstützung und die Trauerbegleiterin, die ich mir gesucht hatte, widersprachen meinem Selbstverständnis in keiner Weise. Es waren Schritte, die ich als Erwachsene tat; aber die Vorstellung, nur noch rundumbetreut leben zu können, die war „traumatisch“.)     

Ich glaube zwar, Deine Antwort zu wissen, nur sicher bin ich mir nicht und deswegen möchte ich nachfragen: Zweifelst Du gelegentlich noch?        

 

Zeichen

Ja, eigentlich ist diese Allgemeinheit des Todes heute nur noch auf dem Friedhof zu erfahren, im Alltag kommt das kaum vor. Mir begegnen vermutlich jeden Tag recht viele Trauernde, aber da Trauerkleidung nicht mehr üblich ist (auch ich habe nicht Schwarz getragen), sieht man das nicht. Und was man nicht sieht, ist in gewisser Weise auch nicht vorhanden. Früher trugen zumindest ältere Frauen nach dem Tod ihres Mannes bis an ihr Lebensende Schwarz (Männer haben wohl nur das obligatorische Trauerjahr eingehalten?), man wusste also, dass hier und hier und hier jemand gestorben war, es wurde einem jeden Tag vor Augen geführt. Ich selbst empfände das wie eine Stigmatisierung – ich möchte nicht gleich für den ersten Blick mein Witwendasein zur Schau stellen. Andererseits war es für mich gerade in der Anfangszeit sehr tröstend, wenn im Gespräch die Toten der Anderen zum Vorschein kamen. Und es waren viele! Fast jede*r hatte schon jemanden verloren, ohne dass ich davon gewusst hatte.

Meine –flüchtigen- Recherchen haben ergeben, daß es für Witwer offenbar zu keiner Zeit klare Konventionen hinsichtlich der Bekleidung und des Verhaltens gegeben hat. Ah, mir fällt ein, daß meine Mutter (Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts) ein Jahr nach dem Tod meines Vaters nur noch eine schwarze Binde am Oberarmärmel trug (Trauerflor, glaube ich, hieß diese Binde), und wenn ich mich nicht sehr täusche, trugen damals Männer diesen Trauerflor bereits unmittelbar nach dem Tod ihrer Ehefrau (oder naher Verwandter).

„Stigmatisierung“ (erleiden) und „mein Witwendasein zur Schau stellen“ (tun) – das sind starke Wertungen. Wie kommst Du darauf? Was verbindest Du mit Deinen Worten?

Mir fällt „Festlegung“ ein. Auf eine bestimmte innere Haltung wie Traurigkeit und schmerzliches Erleben. Fröhlichkeit, Lebensfreude und zuversichtliche Erwartung sind nicht erlaubt. Diese innere Haltung muß sich im Verhalten zeigen. Scarlett 0’Hara in „Vom Winde verweht“ möchte „auf einer Gesellschaft“ tanzen und darf aber, weil die Konvention es so erfordert, in schwarzem Trauerkleid nicht tanzen. Man muß die Rolle der Witwe übernehmen, die mit bestimmten Verhaltensregeln verbunden ist. Wenn man sich freiwillig sozial engagiert, so ist es in Ordnung; sich hingegen in Tanzgeselligkeiten zu begeben oder heiter zu lachen „geht nicht“. Unter diesem Aspekt kann ich Deine Bewertungen gut nachvollziehen. Ja, die alte Trauersitte empfände auch ich als beengend, wie ein Zwangskorsett für meine ganze Person.            

Ich suche nach dem richtigen Wort für mein Gefühl ... „Ärger“ ist es, ich bin verärgert, daß ich bei meinen allerersten Wegwerfaktionen einige Stunden nach dem Tod meines Mannes seinen Ehering, der vielleicht in einer Tasche seines Bademantels oder in einer Hosentasche lag, mit weggeworfen haben muß. Das Bestattungsinstitut hatte den Ring nicht, die Sterbebegleiterin und die Betreuerin des palliativen Pflegedienstes hatten den Ring nicht gesehen. Nein, ich möchte wie Du auch nicht, daß man mich auf den ersten oder zweiten Blick als Witwe erkennt. Weder in der ersten Zeit noch gegenwärtig wollte ich das. Allerdings würde ich es sehr schön finden, wenn andere Menschen bei näherem Hinsehen erkennen würden, daß ich meinen Mann verloren habe. Das heißt, ein unauffälliges Zeichen an mir, das die Wunde zeigt. Das habe ich eben aus einem Impuls heraus so geschrieben, anschließend habe ich überlegt, ob dies wirklich der Grund ist und ja, die Intuition stimmt. Die Wunde, wünsche ich mir, soll unauffällig sichtbar sein. Ich lebe jetzt alleine, mein „Leben geht weiter“, ich bin eine eigenständige Person, die sich nicht als Witwe definieren möchte, aber dieses Ereignis, das soll(te) sichtbar sein. Der Ring ist dafür aus meiner Sicht das stärkste und unauffälligste Symbol. Nun ist er weg, und ich find’s ärgerlich - tatsächlich immer noch, obwohl ich inzwischen über mein Dauermurren hauptsächlich belustigt bin.🐫        

F.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.