Brief 50 | "Wie geht es dir?"

Liebe F.,

I.

Du hattest vor einem knappen Jahr im Zusammenhang mit der Figur der Kreuzfahrtschiff-Lady aus einer der Barnaby-Episoden in einem einzigen bildstarken Satz ein Lebensgefühl ausgedrückt, das ich damals sehr anziehend fand (und heute auch noch sehr anziehend finde). Du kommst nachhause in Deine Wohnung und wirfst Dich aufs Sofa mit dem Gefühl „Hach, wie schön ist das Leben!“ In Verbindung damit hattest Du auch von Deinem Wunsch erzählt, zu Deinem „Ganzheitserleben“ zurückfinden zu können. Nun hast Du kürzlich einmal (in einem e-mail-Brief) geschrieben, wie sehr Du Dein „Für-dich-sein“ derzeit genießen kannst. Ich bin sehr neugierig, ob die Situationen, in denen Du Dein Alleinesein mit Dir genießt, Deiner Impression von vor einem Jahr entsprechen. Ist Dein gegenwärtiges Genießen in dieser Szene mit diesem gesprochenen Satz zutreffend wiedergegeben? Oder ist es ein Erleben, das sich auf irgendeine Art und Weise von der von Dir damals entworfenen Zukunftsvorstellung unterscheidet? Besonders auch interessiert mich Deine Antwort in Hinsicht auf die Ganzheitserfahrung.

Ich habe nachgeguckt, was ich damals geschrieben habe, und der Satz lautete wörtlich so: „Ach, herrlich, dies ist jetzt mein Leben!“ Dieses „mein“ ist zwar nur ein kleiner, aber in meinen Augen entscheidender Unterschied. Nein, dieses Leben ist nicht immer schön oder herrlich. Aber ich genieße es tatsächlich oft, dass ich jetzt mein Leben führe. Ich habe meinen Mann ja sehr früh kennengelernt, damals war ich erst 19, und ich bin dankbar sowohl für die mehr als 40 gemeinsamen Jahre als auch für die Gelegenheit, jetzt auch noch das Alleinleben kennenlernen zu dürfen. Auch wenn das an manchen Tagen schwerer fällt, aber das gehört mit zu dieser Erfahrung.

Was die Ganzheit angeht, so habe ich mehr und mehr das Gefühl, mich ihr zu nähern (auch wenn ich im Moment dieses Wort nicht unbedingt verwenden würde – zu geschlossen kommt es mir vor). Und ich erkenne immer klarer, welch ein Wunder meine Ehe gewesen ist. Ich war „schon immer“ Einzelgängerin (das geht tatsächlich bis in meine frühe Kindheit zurück, bis in meine Kindergartenzeit). Das Wunder, einem anderen Einzelgänger begegnet zu sein, eine Lebensform gefunden zu haben, die es uns ermöglichte, diese Wesensart nicht ablegen, nicht bekämpfen zu müssen, sondern – bei allen Schwierigkeiten, die eine solche Konstellation mit sich bringt – als glücklich zusammenlebendes Paar trotzdem Einzelgänger bleiben zu können – das haben wir zwar auch schon während unserer Ehe deutlich gesehen; aber jetzt im Nachhinein will es mir noch viel unwahrscheinlicher und wunderbarer erscheinen als zu der Zeit, als ich das gelebt habe.

Jetzt befinde ich mich also im Zustand der alleinlebenden Einzelgängerin, und ich beginne zu begreifen, warum mir das, nach der schwierigen Anfangszeit, so überraschend leichtfällt: weil es gar keine so große Umstellung ist, sondern meinem Wesen entspricht. Das empfinde ich an meiner Situation als das eigentlich „Herrliche“: dass ich, auf mich allein gestellt, das Wesentliche in mir kennenlerne.

(Naja, in den ersten Monaten nach dem Krisenjahr hatte ich an manchen Tagen Zweifel, ob ich es alleine „schaffen“ würde. An solchen Tagen sah ich mich für den Rest meines Lebens in einer betreuten Wohngruppe oder in der Psychiatrie. In der Zeit an diesen Tagen war mein Selbstbild (nicht meine Persönlichkeit oder meine Seele) „zerbrochen“. Das Selbstbild oder besser noch Selbstverständnis, ich hätte genügend positive Energie, mich alleine durchzukämpfen, das war „in Scherben gegangen“. Die therapeutische Unterstützung und die Trauerbegleiterin, die ich mir gesucht hatte, widersprachen meinem Selbstverständnis in keiner Weise. Es waren Schritte, die ich als Erwachsene tat; aber die Vorstellung, nur noch rundumbetreut leben zu können, die war „traumatisch“.)

(Ja, die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen, wenn man welche braucht, halte ich für ganz entscheidend, wenn man allein zurechtkommen will. Das nur als kleine Randbemerkung.)

Ich glaube zwar, Deine Antwort zu wissen, nur sicher bin ich mir nicht und deswegen möchte ich nachfragen: Zweifelst Du gelegentlich noch?  

Ja, sicher. (War das deine Vermutung?) Nicht mehr so häufig, nicht mehr so intensiv; vielleicht auch nicht mehr so sehr im Zusammenhang mit dem Tod meines Mannes, sondern eher grundsätzlich. Ich halte mich nicht für ein „geschlossenes System“, glaube nicht, dass ich ein für alle Mal gefestigt bin, nur weil ich mich momentan als ziemlich stabil empfinde. Das Wunder der Seele – was geht da im Verborgenen vor sich? Aber mein Vertrauen in mich selbst ist in den letzten zwei Jahren doch ziemlich gewachsen.

 

II.

„Stigmatisierung“ (erleiden) und „mein Witwendasein zur Schau stellen“ (tun) – das sind starke Wertungen. Wie kommst Du darauf? Was verbindest Du mit Deinen Worten?

Darüber musste ich jetzt erst einmal eine Weile nachdenken, die obigen „Wertungen“ hatte ich völlig unreflektiert geschrieben. Und jetzt wundere ich mich gerade über die Wandlung, die sich in dieser Hinsicht in den letzten zwei Jahren in mir vollzogen hat.

Anfangs tat es mir gut, wenn die Leute „Bescheid“ wussten, sich vielleicht sogar trauten mich darauf anzusprechen. Ich wollte diesen Tod nicht als ein tabuisiertes Gewicht mit mir herumtragen, ich wollte, dass der Umgang mit mir so normal wie möglich war, für beide Seiten, ohne Angst, an etwas „Verbotenes“, zu Schmerzhaftes, Unkontrolliertes zu rühren. Ich signalisierte, dass man mit mir darüber sprechen konnte, und gab (meistens) bereitwillig Auskunft über die Todesumstände und meine Gefühle. Das führte zu einer doppelten Entlastung: Ich lernte darüber zu sprechen und die anderen lernten, dass man mit mir weiterhin ganz normal umgehen konnte.

Es folgte eine Zwischenphase, in der ich manchmal, wenn ich jemandem begegnete, dachte: Ob ihr jetzt wohl bei meinem Anblick als erstes einfällt, dass ich verwitwet bin? „Das ist die arme Kollegin, die ihren Mann verloren hat.“ Und das begann mir unangenehm zu werden.

Inzwischen hat sich das wieder gelegt, und auch das Mitteilungsbedürfnis ist verschwunden. Jetzt – und damit komme ich endlich zu deiner Frage – ist der Tod meines Mannes mehr zu etwas Innerlichem geworden, und wie es meiner Persönlichkeit entspricht, so möchte ich diesen Teil, der so viel mehr wiegt als das meiste andere, nicht unkontrolliert zeigen. Es geht damit eine Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten einher, wie du schreibst (obwohl ich das in meinem Alltag bisher nicht erlebt habe), auch eine Reduzierung auf diesen einen Aspekt. Ich bin aber mehr als Witwe – so wie ich vorher mehr als Ehefrau war.

Ein weiterer Grund ist, dass ich mittlerweile gar nicht mehr so leicht Antworten geben kann, wenn ich auf Tod und Trauer angesprochen werde. Waren meine Gefühle und Gedanken anfangs stark und eindeutig und deshalb auch gut kommunizierbar, so haben sie sich während der vergangenen zwei Jahre ja verändert, sind vielfältiger geworden; einiges wurde schwächer, anderes stärker, viel Neues kam hinzu, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse … Ich merke das besonders an meiner Reaktion auf die Frage „Wie geht es dir?“ Anfangs war das leicht zu beantworten, die Frage bezog sich immer auf meine „Tagesform“ im Verhältnis zum Todesereignis, und da ging es mir an manchen Tagen besser und an manchen schlechter. Wenn ich jetzt gefragt werde, so denke ich kurz darüber nach, was gemeint ist bzw. auf welchen Aspekt ich antworten möchte: Wie geht es mir im Hinblick auf den Tod meines Mannes, wie komme ich inzwischen zurecht? – oder: Wie geht es mir heute, einfach so als Person? Um den ersten Aspekt zu beantworten, müsste ich inzwischen viel weiter ausholen, das würde ziemlich kompliziert, deshalb beschränke ich mich meistens auf den zweiten.

Dass ich mein Witwendasein nicht „zur Schau stellen“ möchte, hat auch damit etwas zu tun, dass mir mein eigenartiges Gefühl des Stolzes („Seht her, mir ist ein außergewöhnliches Schicksal widerfahren!“) inzwischen etwas peinlich ist. Das Zurschaustellen hat für mich ja nicht nur den Aspekt, dass ich einen Makel, einen Mangel, etwas Trostloses o.ä. Negatives präsentiere (die Stigmatisierung), sondern auch den, dass ich mich damit wichtigtue.

Allerdings würde ich es sehr schön finden, wenn andere Menschen bei näherem Hinsehen erkennen würden, daß ich meinen Mann verloren habe. Das heißt, ein unauffälliges Zeichen an mir, das die Wunde zeigt.

Ja! So geht mir das auch. Und ich trage meinen doppelten Ehering mit sehr viel Stolz und Freude und Liebe (merkwürdiges Konglomerat – aber doch, es stimmt). Ein aufmerksamer Beobachter sieht und versteht ihn – und bei einem aufmerksamen Menschen wäre mir dieses Erkennen recht. Bisher haben mich allerdings erst zwei Menschen darauf angesprochen, und beides waren Witwen (davon eine du 😊).

B.

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