Liebe F.,
St. Mary Mead
Mehr als eine bewusste Übung ist es bisher nicht, aber ich probiere mir zu vergegenwärtigen, zu imaginieren, wie ich vom wackeligen Seil runtertrete auf den sicheren Boden. Wie es wohl nicht anders zu erwarten war, fühle ich mich unten auf dem sicheren Boden ganz schnell haltloser als oben auf dem Seil. „Leere“ ist ein gutes Wort für meine Empfindung. Das ist natürlich aufschlussreich, weil es zeigt, daß man sich in einer kippeligen Erlebenswelt, in der man sich auskennt („tief verwurzelt“), zugleich sicher fühlen kann, während die unangespannte und unangestrengte Situation mich zunächst einmal verunsichert.
Das stelle ich mir so ähnlich vor wie das Gefühl, wenn ich nach längerer Schifffahrt wieder festen Boden betrete. Die unentwegte Bewegung des Schiffes setzt sich so sehr im ganzen Körper fest, dass die plötzliche Unbewegtheit des Festlandes ausgesprochen irritierend ist, bis hin zum Stolpern während der ersten Schritte, weil ich unwillkürlich ein Schlingern auszugleichen versuche, das gar nicht mehr vorhanden ist.
Ich halte es genau so wie Deine Kollegin und bin von Deinem Einfall beeindruckt, eine höchst banale Alltagssituation zur Demonstration einer Lebenshaltung heranzuziehen.
Das ist der Miss-Marple-Effekt. 😊 Miss Marple löst viele Kriminalfälle dadurch, dass ihr immer wieder Parallelen zu Leuten aus ihrem abgeschiedenen Dörfchen St. Mary Mead einfallen. Genauso springe auch ich gern zwischen dem „Großen“ und dem „Kleinen“ hin und her. Ich lebe mein Leben ja hauptsächlich im alltäglichen „Kleinen“, nicht im großen Wurf. So etwas Nebensächliches wie der Umstand, ob jemand an 365 Tagen im Jahr einen Schirm mit sich herumträgt, obwohl er vielleicht nur an 20 davon wirklich überraschend gebraucht wird, oder es einfach darauf ankommen lässt, ab und zu mal nass zu werden, sagt vielleicht mehr über eine Person aus als irgendwelche großen, aber singulären Entscheidungen. (Diese „Schirmträger“ sind es dann übrigens, die Leuten wie mir aus diversen Patschen helfen, weil sie in Notfällen einfach alles dabeihaben. 😊)
Ich habe es bisher immer für einigermaßen „normal“ gehalten, daß man von Gedanken an Krankheiten, an Verluste von Menschen und Dingen, die einem möglicherweise widerfahren könnten, behelligt wird (warum eigentlich nicht von Gedanken an freudige, angenehme Ereignisse, die möglicherweise eintreten könnten). Bist Du die Ausnahmeerscheinung oder ich?
Ich vermute, weder noch. Es gibt bestimmt ganz viele Menschen, die so ähnlich sind wie ich, ganz viele, die so ähnlich sind wie du, und noch viel mehr irgendwo dazwischen.
Illusionen
Wie im Zeitraffer blicke ich zurück auf die vergangenen 36 Jahre (meine Ehe und anschließend ohne meinen Mann) und stelle fest, daß und wie viel ich mitgestaltet, worauf ich Einfluß genommen habe. Die Frage ist vielleicht eher die, wie man sich selbst wahrnimmt? Mir wird nämlich deutlich, daß ich den Teil des Einflußnehmens, das Initiativwerden, die aktive Gestaltung (zur passiven Gestaltung fällt mir im Augenblick nur die Depression, d.h. die Verweigerung ein, möglicherweise gibt es da aber doch auch positive Aspekte) bisher nicht genug gesehen habe. Um einen Punkt aus der gleich folgenden „Selbstwirksamkeitserwartung“ vorwegzunehmen, nur um der aparten Formulierung willen: Die „Illusion der Nicht-Mitgestaltung“ hatte sich bei mir in den Vordergrund gedrängt.
Illusion auch in der Hinsicht, als ja auch das Nicht-Handeln eine Weise der Gestaltung ist – du hattest es in einem anderen Zusammenhang schon erwähnt. Wenn man die Dinge einfach laufen lässt, ist auch das eine Entscheidung. Ich meine jetzt nicht Situationen, in denen man unter einem wie auch immer gearteten Zwang steht, sondern solche, wo man wirklich eine Wahl hat. Ich rede da von mir selbst in meiner Rolle als „Zuschauerin“, in der ich sehr vieles einfach geschehen lasse anstatt einzugreifen. Das empfinde ich durchaus als bewusste Handlung.
Aber deine „Illusion“ bezieht sich ja gerade nicht auf das Nicht-Handeln, sondern auf das Handeln, weil dir bisher viel zu wenig bewusst gewesen ist, schreibst du, wie oft du tatsächlich Einfluss genommen, dein Leben aktiv gestaltet hast. Ja, die Selbstwahrnehmung spielt bestimmt eine große Rolle. Worauf lege ich mein Augenmerk, was ist mir wichtig? Was stärke ich mit dieser Fokussierung, was schwäche ich durch Nicht-Beachtung?
Falls es –noch- nicht der richtige Zeitpunkt ist, dann übersieh meine Frage, aber mich interessiert, was Dein „ich schaffe es vielleicht nicht“ bedeutet. Du hattest einmal in einem Brief auf meine Frage hin gesagt, „daß meine Seele Schaden nehmen könnte“, aber diese Antwort ist ähnlich unkonkret. Anknüpfend an das Obige vermute ich nun, „ich schaffe es nicht“ hätte bedeutet, daß Dich der Schmerz und die Bilder für immer quälen? In gleichbleibender Intensität und gleichbleibender zeitlicher Frequenz.
Nein, um Letzteres ging es dabei nicht. Aber die Formulierung, „dass meine Seele Schaden nehmen könnte“ (an die ich mich gar nicht mehr erinnere), finde ich bemerkenswert konkret, das trifft es für mein Empfinden exakt! 😊 Vor kurzem habe ich diesen Spruch gelesen (ich mag Kalendersprüche 😊):
Staying positive does not mean that things will turn out okay. Rather, it is knowing that YOU will be okay no matter how things turn out.
Dass ich dieses Grundvertrauen verlieren könnte, war meine Befürchtung. Also eine tiefgreifende Persönlichkeitsveränderung, das, was man „gebrochen“ oder „zerbrochen“ nennt. Wie gut kennt man sich selbst? Mein Leben war bisher von Schicksalsschlägen verschont geblieben, ich hatte also keinerlei Erfahrung, wie ich reagieren würde, und hielt alles für möglich. Wie würde ich eine existentielle Krise verkraften? Man kann sich über seine eigene Stärke ja sehr täuschen – Illusionen machen –, solange sie nicht wirklich gefordert wird.
Die Toten der Anderen
„Nichts Besonderes“ – ja, der Tod ist allgemein und zugleich einzigartig. Die Aufgehobenheit in der Gemeinschaft, das habe ich, wie mir jetzt wieder einfällt, auf dem Friedhof erlebt. Die Gemeinschaft der Trauernden und der Toten, und dort, auf dem Friedhof, das ist ein faszinierender Gedanke, eine „tiefe Wahrheit“, Danke!, hat das Nicht-Besondere die Einzigartigkeit meiner Erfahrung, meines Leids nicht geringer gemacht. Das heißt, das Allgemeine und zugleich Einzigartige habe ich als Verbundenes, wie ein Zusammenfallen der -scheinbaren- Gegensätze erlebt. In der normalen Welt ist es mir oft auseinandergefallen. Das Einzigartige, das ich erlebt hatte und erlebte, schien unerheblich angesichts der Allgemeinheit des Todes.
Ja, eigentlich ist diese Allgemeinheit des Todes heute nur noch auf dem Friedhof zu erfahren, im Alltag kommt das kaum vor. Mir begegnen vermutlich jeden Tag recht viele Trauernde, aber da Trauerkleidung nicht mehr üblich ist (auch ich habe nicht Schwarz getragen), sieht man das nicht. Und was man nicht sieht, ist in gewisser Weise auch nicht vorhanden. Früher trugen zumindest ältere Frauen nach dem Tod ihres Mannes bis an ihr Lebensende Schwarz (Männer haben wohl nur das obligatorische Trauerjahr eingehalten?), man wusste also, dass hier und hier und hier jemand gestorben war, es wurde einem jeden Tag vor Augen geführt. Ich selbst empfände das wie eine Stigmatisierung – ich möchte nicht gleich für den ersten Blick mein Witwendasein zur Schau stellen. Andererseits war es für mich gerade in der Anfangszeit sehr tröstend, wenn im Gespräch die Toten der Anderen zum Vorschein kamen. Und es waren viele! Fast jede*r hatte schon jemanden verloren, ohne dass ich davon gewusst hatte.
Mir will scheinen, dass dieses Schweigen über die Toten nicht nur etwas mit der heutigen Tabuisierung des Todes zu tun hat, sondern auch mit dieser Erfahrung der Einzigartigkeit innerhalb der Allgemeinheit des Todes. Du schriebst mal in einer E-Mail, dass du anfangs nach dem Tod deines Mannes von dem Gefühl getragen wurdest: „Ich habe etwas sehr Großes erlebt“, und dieses Gefühl kannte ich auch! Aber es war so etwas wie ein beglückendes Geheimnis, das ich mit niemandem teilen konnte und wollte. Das Reden darüber hätte es zerstört.
B.
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