Liebe B.,
„Der Augenblick des Begreifens hat sich tatsächlich niemals ereignet“ Dieser Satz kommt mir deswegen so ungemein tröstlich vor, weil auch ich, wenn auch wohl anders als du, erwartet oder vielmehr befürchtet hatte, dass da noch etwas in der Zukunft aussteht. [...] Dass du das im Zusammenhang mit Trumans Befreiung schreibst, legt allerdings eher eine positive Bedeutung nahe (deine Vorstellung des „besser leben“ nach dem Tod deines Mannes?); aber vielleicht lag hier ja, wie so oft, eine widersprüchliche Gemengelage vor?
Bei mir war diese Erwartung jedenfalls eindeutig negativ. Ich habe das ganze erste Jahr über befürchtet, dass irgendwann der schützende Schockzustand nachlässt, der mich relativ normal weiterleben ließ, und ich dann der Wucht der Erkenntnis ausgesetzt wäre, dass mein Mann wirklich tot ist. Und wie ich darauf reagieren würde, konnte ich überhaupt nicht voraussagen. Stattdessen war es aber wie bei dir: Dieser Augenblick der Erkenntnis hat sich nie ereignet. Und allmählich vertraute ich darauf, dass ich nicht weiterlebte, weil ich mich in einem Schockzustand befand, sondern weil ich es einfach konnte.
Ich hatte schon lange vor dem Tod meines Mannes bei M.-L. Kaschnitz, F. Mayröcker und A. Philipe, also in drei literarischen Texten, die sich mit dem Tod des Ehepartners auseinandersetzen, gelesen: „Der Schmerz vertiert“ (Kaschnitz), „ich spucke Blut“ (Mayröcker), es sei als würde ein brennendes Flugzeug durch den Körper ziehen (sinngemäß Philipe). Derartige Schmerzerfahrungen hatte ich erwartet. Von einer entfernten Freundin wusste ich, daß sie in den ersten Wochen nach dem Tod ihres Mannes manchmal verzweifelt gewesen war. Da ich weiß, wie sich Verzweiflung anfühlt, kann ich sicher sagen, daß ich verzweifelt nicht gewesen bin. Insofern war es wie bei Dir die Befürchtung, der überwältigende, der kaum auszuhaltende Schmerz, die Verzweiflung stünden noch aus.
Aber Du hast recht, meine Erwartung war zugleich, der Moment des Begreifens würde wie bei einer Krankheit die „Krisis“, den Umschwung zur Heilung, meiner Neugestaltung mit sich bringen.
Ich weiß gar nicht so recht, warum dein Satz trotzdem etwas so Beruhigendes für mich hat. Vielleicht ist es der Umstand, dass das Verflüchtigen dieses Gedankens bei dir schon von so langer Dauer ist. Das ist wie ein Versprechen, dass das auch bei mir dauerhaft so sein wird.
„Beruhigend“ ist nicht das zutreffende Wort für meine Reaktion, während ich hier sitze, lese, überlege und schreibe. Eher wächst eine Art von Selbstakzeptanz, daß mein Umgang mit dem Verlust, dem Tod meinem ganz eigenen Wesen/Charakter entspricht und es daran nichts zu bemäkeln gibt. Dabei habe ich allerdings die letzten 2 Jahre und die Gegenwart im Blick, nicht die Anfangszeit. Es gibt kein "richtig" und "falsch", auch nicht im 5. oder 10. Jahr, sage ich energisch zu mir selbst :-))).
Klärung von Missverständnissen
Hier liegt wohl ein Missverständnis vor. Denn ganz im Gegenteil: Das Bild des Umschaltens ist von mir, zumindest in diesem Zusammenhang, eindeutig negativ gemeint. Es bedeutet für mich, so beiläufig, gleichgültig, quasi „undankbar“ in mein neues Leben umzuschalten, wie die Fernsehzuschauer nach dem Ende einer Sendung zur nächsten zappen.
Ja, nun ist es klar.
(Mir scheint übrigens, unsere unterschiedlichen Gedanken zum Truman-Film zeigen wieder einmal unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten, bis hin zum symptomatischen (?) Unterschied, dass du dich mit der Person „mittendrin“ identifizierst, ich mich mit den Zuschauern am Rande des Geschehens. Das Fragezeichen bezieht sich auf meine Unsicherheit, ob du mit meiner Zuschreibung einverstanden bist – deine Identifizierung kann sich ja auch nur eher zufällig aus der Struktur dieses Beispiels ergeben haben; meine Identifizierung mit der Zuschauerrolle ist jedenfalls ganz und gar symptomatisch. )
Ich möchte Dein Selbstverständnis? Dein Existenzgefühl? oder besser noch Deine Selbstwahrnehmung? gerne –für mich- deutlicher machen. Du siehst Dich selbst als engagierte, gedanklich und emotional beteiligte, aber eben in der Rolle einer Zuschauerin Deines eigenen Lebens?
(Gewiß ist für mich nur, daß mir die Zuschauerrolle für die Wahrnehmung meines eigenen Lebens so fern liegt wie ein Stern am Himmel. Das ist schon richtig, wenn Du hierin einen grundlegenden Unterschied zwischen uns siehst. Nur weiß ich trotz längeren Begrübelns nicht zu sagen, ob ich mich als Akteurin auf der Bühne sehe ... Du hattest die Szenerie der Zuschauer ja sehr anschaulich beschrieben. Sie „leiden“, „fiebern“, „freuen“ und zittern mit, und ja, s o betrachtet und beschrieben, leide, fiebere, freue und zittere ich.)
Ich spreche nicht von Abschnitten, sondern von Abschnitt, im Singular und vor allem wörtlich genommen: etwas ist abgeschnitten worden. [...] Was ich mit Abschnitt meine, ist also nicht wie eine Perle mehr auf meiner Lebensschnur (ein Lebensabschnitt von vielen), sondern der radikale Schnitt, der mein altes Leben beendet hat, ohne dass da zunächst etwas Neues an seine Stelle trat. (Was natürlich nicht ganz stimmt. Denn das neue Leben war von Anfang an da, einfach weil ich weiterlebte.)
Oja, da hatte ich komplett missverstanden!!! Ich erinnere mich, daß wir über den „radikalen Schnitt“ schon einmal gesprochen hatten, suche jetzt aber nicht nach, was wir damals dazu gesagt haben. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil wir heute an einer anderen Stelle der „Spirale“, wie Du es nanntest, angekommen sind.
Mir kommt ein anderes meiner (Arbeits-)Bilder in den Sinn, nicht die Schnur, :-))) das mich in der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes begleitet hat. Du kennst es. Ich bin in einen tiefen Abgrund, schluchtähnlich, gefallen, unten ist es wie in einer großen Höhle dunkel; ich sehe hohe feuchte Felswände um mich herum, die ich hochklettern muß, damit ich oben wieder ans Licht komme. Fällt Dir relativ spontan ein Bild ein, das Deine „Schnitt“-Vorstellung veranschaulicht?
Dialektisch gedacht
[...] Mir gefällt das Bild, wie ich staunend durch dieses neue Leben gehe, es berührt sich mit der Neugier, von der ich mal schrieb. Aber gleichzeitig ist da auch das Ungläubige, das Kopfschütteln, dass das doch nicht wahr sein kann … Wobei ich nicht nur darüber staune, dass die Welt gleichbleibt, sondern auch darüber, dass ich selbst mehr oder weniger gleichgeblieben bin.
Andererseits habe ich immer wieder dieses Gefühl des Bruchs – die Bilder des Abschnitts, des Umschaltens zeigen das ja deutlich. Anders als dein glücklicher Nachbar nehme ich mein altes Leben nicht nahtlos in mein neues mit hinüber, ja habe im Gegenteil oft das Bedürfnis, diesen Bruch auch äußerlich noch stärker zu zeigen.
Mich überfällt gerade eine Eingebung, die Erinnerung an eines der Highlights meines Lebens, von dem ich Dir zumindest erzählen möchte, auch falls es überhaupt nicht Deine Intention trifft. Meine erste große Liebe, nur aus der Ferne, ein Schulkamerad, von dem ich wusste, daß ich ihn nach dem Abitur niemals mehr in meinem Leben wiedersehen würde - wochenlang war ich sehr unglücklich. An irgendeinem Abend floß es mir wie aus dem Nichts zu: Niemals mehr werde ich diesen Mann sehen dürfen, aber ich habe diese Liebe erlebt, diese Erfahrung wird immer bei mir bleiben -und von nun an gehe ich mein eigenes Leben. Es war ein vollkommenes Einverständnis mit dem, was ist, ein Abschied für immer, und ich fühlte mich tatsächlich wie „neu“, weil ich das Alte losgelassen hatte. Die Dimensionen liegen natürlich Welten auseinander, aber worauf es mir ankommt, das sind der Abschied (der scharfe Schnitt) und der Neubeginn. Das „feeling“ dabei. Vielleicht ein ganz klein wenig -hinkend- vergleichbar der Situation, als Eure Töchter aus dem „Haus gingen“ und Ihr in einer neuen Wohnung das neue Leben zu Zweit begonnen habt.
Worüber ich also gerade jetzt staune, das ist die Gleichzeitigkeit eigentlich unvereinbarer Zustände, nämlich der Kontinuität und des Bruchs. Aber vielleicht muss man auch hier dialektisch denken …
Da die „Dialektik“ Dein Terrain ist, versuche ich unsachverständig Deine Pünktchen fortzusetzen ... was bedeutet, daß eines ohne das Andere nicht zu denken ist. Den „Bruch“ denken zu können, setzt das Denken der „Kontinuität“ voraus und andersherum ist die Bedingung dafür „Kontinuität“ zu denken, der Gedanke des „Bruches“? Ich frage zwar nie aus Höflichkeit, sondern immer, weil ich interessiert bin, aber hier bin ich besonders an Deiner Antwort interessiert Pünktchen usw. ⚽
F.
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