Brief 32 | Geben und Nehmen

Liebe F.,

ich stoppele jetzt einiges zusammen, was in deinem Brief an verschiedenen Stellen steht, was sich für mich beim Nachdenken aber plötzlich zu einem Zusammenhang formte.

... daß mir nicht klar ist, worin Dein Veränderungswunsch dann begründet ist.

Während ich in erster Linie mich selber als Objekt der Veränderung in der neuen Situation im Auge hatte und habe, gehen Deine Überlegungen sehr viel stärker in die Richtung auch einer Veränderung der äußeren Lebensumstände (das „deutlich sichtbare Kenntlichmachen“ z.B.) […]

Findest Du, daß der Tod Deines Mannes bisher ohne größere Auswirkungen auf Dein Leben geblieben ist? 

Der Tod meines Mannes hatte gewaltige Auswirkungen auf mein Leben, in rücksichtslos negativer Bewertung: und zwar hauptsächlich in Verlustform. Daß ich mich gelegentlich frei und erwachsen fühle, ist angenehm, kann aber nicht aufwiegen, was ich als Verlust empfinde.

Und mit diesem letzten Zitat kehre ich zu deiner Ausgangsfrage zurück. Denn plötzlich ist mir klargeworden: Ich habe dieses Verlustgefühl so gut wie nie. Es ist, als hätte der Tod meines Mannes, nach der ersten Phase der fast mehr körperlichen als seelischen Reaktion, keinerlei Auswirkungen auf mein Leben, von gelegentlich mich überkommender Traurigkeit abgesehen. Und offenbar habe ich das Bedürfnis, wenigstens im Außen zu sehen, was ich im Innern nicht fühle (aber meine, dass ich es fühlen müsste?).

Jetzt stellt sich mir die Frage: Warum meine ich, dass ich etwas fühlen müsste, was ich ganz offensichtlich nicht fühle? Um einer Norm, einer Konvention zu entsprechen? Da habe ich jede Menge Trauerratgeber gelesen und fühlte mich jedesmal ganz besonders angesprochen von der Versicherung „Es gibt im Trauern kein Richtig oder Falsch“ – und dennoch meine ich, mein eigenes Verhalten sei irgendwie nicht richtig?

Dabei fällt mir ein, dass du vor einiger Zeit schriebst, dass das Wort Trauer für dich „leblos bleibt“ – vielleicht geht es mir ähnlich mit dem Begriff Verlust? Trauer kenne ich, das Verlustgefühl eher nicht. Dass es bei dir umgekehrt ist, „beruhigt“ mich, denn das zeigt mir, dass das Nichtvorhandensein des einen Gefühls – und sei es noch so weit verbreitet und als selbstverständlich erwartet – nicht bedeutet, dass ich überhaupt nichts oder nicht das Richtige fühle. Du hast allerdings Trauer durch Schmerz ersetzt – womit würde ich Verlust ersetzen, um doch ein ähnliches Gefühl bei mir zu finden? Spontan fällt mir nichts ein. Ein großes Bedauern eventuell, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nicht in eine andere Richtung geht.

 

Akzeptanz (mal wieder)

Ist Dein „Phlegma“ die Eigenschaft, die ich als „Unbeweglichkeit“ bei mir bezeichne? Die Folge daraus würde ich „aushalten“ oder „ertragen“ nennen, was mir Deinem „Abfinden“ recht nahe zu kommen scheint. Der „Leidensdruck“ muß schon intensiv sein, damit ich zum Handeln übergehe. Die Frage wirst Du sicher nicht beantworten können; nur dachte ich mir, ob wir mit verschiedenen Worten womöglich ungefähr dasselbe meinen.

Da ich die Begriffe „aushalten“ oder „ertragen“ für mich als eher nicht zutreffend empfinde, meinen wir wohl doch Unterschiedliches? Aushalten und ertragen verbinde ich mit negativen Dingen. Aber bei mir ist der springende Punkt, dass ich vieles gar nicht als negativ empfinde, daher auch nicht das Bedürfnis verspüre, es zu ändern. Ich „ertrage“ nicht, sondern ich „nehme hin“, ohne groß nachzufragen.

Und so nehme ich auch den Tod meines Mannes hin. Diesem Gefühl (oder eher der Abwesenheit eines Gefühls) habe ich anfangs nicht getraut, ich schrieb es einer Art Schockstarre zu. Aber da es nun schon länger unverändert anhält, handelt es sich wohl um so etwas wie meine natürliche Reaktion auf dieses Ereignis. Das schließt nicht aus, dass mich nicht manchmal eine große Traurigkeit überkommt. Aber die ist, soweit ich mich erinnere, nie mit einem Gefühl der Abwehr verbunden. Es ist „in der Ordnung der Dinge“, wie du mal so schön geschrieben hast, dass er gestorben ist, es ist nur eben sehr, sehr traurig.

Ein anderes Wort dafür wäre wohl Akzeptanz – die radikale Akzeptanz hatten wir ja schon mehrfach thematisiert. Beim Tod meines Mannes ist es wohl eher diese radikale Akzeptanz, bei anderen, kleineren Sachen eher eine beiläufige.

 

Glasglocke

Genau so, wie Du es beschreibst, kenne ich es auch und auch ziemlich extrem, allerdings mit dem Unterschied, daß ich mich in meiner Glasglocke nicht „ganz bei mir“, sondern abgeschnitten von der Welt fühle, eingeschlossen in mein Unglück (Ängste, Sorgen). Das scheint der Unterschied zwischen unserem Erleben, obwohl ich das Bild der „Glasglocke“ auch schon längere Zeit und öfter benutzt habe, um mein Erleben in Richtung „innen“ und „außen“ zu erfassen. In diesem Fall scheint es mir so, als würden wir, unter Heranziehung desselben Bildes, dennoch ganz Unterschiedliches meinen.

Dazu fällt mir der Satz eines Journalisten ein (Hanns-Joachim Friedrichs), der – wohl als eine Art Berufs-Credo – gesagt haben soll: „Dabeisein, aber nicht dazugehören.“ Im Zusammenhang mit Journalismus ist wohl gemeint, dass man Distanz wahren sollte zu dem, worüber man berichtet, vor allem zu Personen, um möglichst objektiv und unkorrumpiert bleiben zu können. Aber ich habe mir diesen Satz gleich zu eigen gemacht, weil er meinem eigenen Lebensgefühl so gut entspricht. Ab und zu bin ich ja ganz gern unter Menschen, aber es wird mir immer schnell zu nah, zu viel. Die Glasglocke bietet mir Schutz, sie lässt mich gleichzeitig anwesend und distanziert sein, ohne dass die anderen sich vor den Kopf gestoßen fühlen oder ich dumm auffalle.

 

Rollenverteilung

Mir ist schon vor einigen Monaten aufgefallen, wie ich dazu tendiere, die Rolle, die ich meinem Mann gegenüber eingenommen hatte, in meiner Beziehung zu Dir wieder einzunehmen. Ein bisschen hilfsbedürftig, ein bisschen mit Problemen behaftet, ein Kind, das gerne mit Erdverbundenheit und Gelassenheit unterstützt wird.

Und ich habe bei mir die Tendenz wahrgenommen, dich manchmal aufmuntern, fördern, stabilisieren zu wollen – also tatsächlich die Rolle zu spielen, die ich meinem Mann gegenüber eingenommen habe. 😊

Aber du hast Recht, ich nehme auch völlig andere Facetten an dir wahr. So bewundere ich beispielsweise – um eine Sache zu erwähnen, die besonders in unseren Briefen eine Rolle spielt – die radikale Ehrlichkeit und Gründlichkeit dir selbst gegenüber. Ich neige da manchmal zu etwas „Großzügigkeit“ oder biege auch mal ab, wenn es mir zu heikel wird.

Außerdem ist es ja auch so, dass ich von dir „profitiere“ – so hat unser Briefwechsel ja mal begonnen. Ich hatte Hilfe gesucht im Umgang mit der Trauer, und du konntest und kannst sie mir geben, mit deiner längeren Erfahrung mit diesem Thema und deiner Bereitschaft, nun schon über viele Monate dich damit und mit mir auseinanderzusetzen.

Es ist ein schönes Geben und Nehmen. Danke dafür. (Musste mal gesagt werden. 🌺)

B.

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