Liebe B.,
ich greife Deine Briefüberschrift auf und verbinde sie mit der Frage nach dem gegenseitigen Verstehen, weil mich Deine Äußerung zum „Sinn“ (auf dem „Tummelplatz“) plötzlich, nachdem wir nun schon über ein Jahr lang miteinander sprechen, zweifeln ließ, ob ich Dich wirklich, d.h. nach-fühlend, verstehe. Erst einmal auf die Frage nach der Verständigung gestoßen, finde ich in Deinem Brief nun auch einige Punkte, die mir nicht nachvollziehbar sind. Falls es in den einzelnen Abschnitten nicht zweifelsfrei deutlich wird, ich bin mir nicht sicher, ob ich immer den richtigen Ton getroffen habe ... mein Brief ist mit einem humorvollen Lächeln geschrieben.
Mein Veränderungswunsch dagegen hat seinen Grund nicht in einem Unglücklichsein mit mir selbst. Alles in allem finde ich mich ganz gut so, wie ich bin, inklusive meiner negativen Eigenschaften. Ich würde manches gern verstärken, anderes abschwächen, aber nichts Prinzipielles ändern wollen. Sicher kann man sich immer wünschen, irgendwie anders zu sein; dann hätte ich zwar einige positive Eigenschaften, die ich jetzt nicht habe, dafür aber andere negative Eigenschaften – welche sind besser, welcher schlechter? Eigentlich ist es egal. ABER: Das kann ich, im Unterschied zu dir, nur deshalb so sehen, weil ich nicht an mir selbst leide. Daraus erklärt sich vermutlich auch unser „entgegengesetzter Impetus“.
Aber was folgt daraus – folgt daraus was?
... daß mir nicht klar ist, worin Dein Veränderungswunsch dann begründet ist. Es gibt ja durchaus Momente, in denen ich mich mit mir und mit meinem Leben im Einklang befinde, d.h. ich leide nicht an mir; diese Erfahrung kenne ich also, sie ist mir keineswegs fremd. Aber in diesen Momenten habe ich nie den Wunsch, mich oder mein Leben überhaupt zu verändern.
Daher vermute ich, auf diesem Unterschied zwischen uns (unglücklich mit sich oder nicht) beruht die unterschiedliche Ausrichtung unserer Vorstellungen und Wünsche. Während ich in erster Linie mich selber als Objekt der Veränderung in der neuen Situation im Auge hatte und habe, gehen Deine Überlegungen sehr viel stärker in die Richtung auch einer Veränderung der äußeren Lebensumstände (das „deutlich sichtbare Kenntlichmachen“ z.B.) und ja, vielleicht diskreter Selbst-Veränderungen.
Die Sorge, ich könnte steckenbleiben, kommt nicht so sehr von einem „resignierten oder sich ergebenden Einrichten“, sondern eher von meinem Phlegma. Es gehört zu meinen ambivalenten Eigenschaften, dass ich mich mit (fast) allem abfinden kann. Es könnte also passieren, dass dieses – ich muss es jetzt mal so dramatisch ausdrücken – furchtbare Ereignis, dass mein Mann gestorben ist, ohne größere Auswirkungen auf mein Leben bleibt. Und diese Vorstellung beunruhigt mich manchmal.
Ist Dein „Phlegma“ die Eigenschaft, die ich als „Unbeweglichkeit“ bei mir bezeichne? Die Folge daraus würde ich „aushalten“ oder „ertragen“ nennen, was mir Deinem „Abfinden“ recht nahe zu kommen scheint. Der „Leidensdruck“ muß schon intensiv sein, damit ich zum Handeln übergehe. Die Frage wirst Du sicher nicht beantworten können; nur dachte ich mir, ob wir mit verschiedenen Worten womöglich ungefähr dasselbe meinen.
Findest Du, daß der Tod Deines Mannes bisher ohne größere Auswirkungen auf Dein Leben geblieben ist? Wenn ja, welche Auswirkungen schweben Dir dann vor, die sich noch einstellen sollten und falls nein, dann sind die Auswirkungen doch eine bereits eingetretene Tatsache? Das sind bohrende Nachfragen, ich bin mir dessen bewusst!
Würde ich meine Fragen an Dich für mich beantworten, dann so: Der Tod meines Mannes hatte gewaltige Auswirkungen auf mein Leben, in rücksichtslos negativer Bewertung: und zwar hauptsächlich in Verlustform. Daß ich mich gelegentlich frei und erwachsen fühle, ist angenehm, kann aber nicht aufwiegen, was ich als Verlust empfinde. Und diesen Verlust würde ich, an den Abschnitt davor anknüpfend, vor allen Dingen als einen Verlust des Gegenparts bezeichnen. Der dauerhaften Bestätigung, daß „alles mit mir in Ordnung ist“. Ich male heute in „schwarz-weiß“, d.h. ich spitze den Kontrast sehr zu und außerdem fällt mir auf, daß ich im letzten Brief schrieb, die Liebe und später dann, der Sinn würden fehlen ... ich weiß selber nicht recht, was es denn nun ist :-))).
Die Glasglocke
[...] Manchmal, wenn ich einkaufen gehe, befinde ich mich in meiner „Glasglocke“ (auch wieder so ein Bild, das mich schon viele Jahrzehnte begleitet). Ich sehe alles, alle sehen mich, aber ich lehne jeden Kontakt ab, ich will von der Welt nur das Nötigste wissen, bin lieber ganz bei und mit mir allein. An anderen Tagen dagegen bin ich sehr offen für alles, was auf mich zukommt, gehe bereitwillig auf jedes Lächeln, jedes Wort ein.
Dazu hatte ich in Verbindung mit den virtuellen Kontakten, die ich dann aber aus meinem letzten Brief rausgenommen habe, schon etwas schreiben wollen. Nun tue ich es an dieser Stelle. Genau so, wie Du es beschreibst, kenne ich es auch und auch ziemlich extrem, allerdings mit dem Unterschied, daß ich mich in meiner Glasglocke nicht „ganz bei mir“, sondern abgeschnitten von der Welt fühle, eingeschlossen in mein Unglück (Ängste, Sorgen). Das scheint der Unterschied zwischen unserem Erleben, obwohl ich das Bild der „Glasglocke“ auch schon längere Zeit und öfter benutzt habe, um mein Erleben in Richtung „innen“ und „außen“ zu erfassen. In diesem Fall scheint es mir so, als würden wir, unter Heranziehung desselben Bildes, dennoch ganz Unterschiedliches meinen.
Unter der Glasglocke zu leben oder Zugang zur Welt zu haben, das hat allerdings nichts mit virtuellem oder persönlichem Kontakt zu tun. Ich kann mich draußen und in der Begegnung mit anderen Menschen von der Welt abgeschnitten fühlen, und ich kann mich in meiner Wohnung und alleine, mit der Welt verbunden fühlen. Die Aufenthaltsorte und die An- oder Abwesenheit von anderen Menschen spielen keine Rolle. Aber das ist nun tatsächlich eine schöne Entwicklung in den vergangenen Jahren des Alleinelebens, daß ich diese Art der extremen Abgeschnittenheit nur noch ganz selten erlebe. Die „sehr große“ Offenheit für alles, wie Du sagst, ist zwar auch nicht der normale Zustand, sondern eher die Ausnahme. Als „normal“ würde ich den „mittleren“ Zustand bezeichnen.
Rollenverteilung
Und ich komme mir manchmal wie die notorisch Fröhliche und Positive vor, was ja auch ganz schön nerven kann! (Meinen Mann hat es manchmal genervt. Auch wenn er es in anderer Hinsicht zu schätzen wusste – ich war sein Gegengewicht zu seiner pessimistisch-depressiven Grundstimmung, ich habe sein Leben hell gemacht.) Also ganz so eindimensional bin ich gar nicht.
Mir ist schon vor einigen Monaten aufgefallen, wie ich dazu tendiere, die Rolle, die ich meinem Mann gegenüber eingenommen hatte, in meiner Beziehung zu Dir wieder einzunehmen. Ein bisschen hilfsbedürftig, ein bisschen mit Problemen behaftet, ein Kind, das gerne mit Erdverbundenheit und Gelassenheit unterstützt wird. Das fand ich sehr spannend zu entdecken, weil ich auf der anderen Seite natürlich bemerkt habe, an Deinen Reaktionen oder einfach der Art und Weise, wie Du mit mir sprichst, daß Du völlig andere Facetten an mir wahrnimmst, oder ich meine zumindest, daß es so ist. Wirklich wissen tust ja nur Du es. Aus dieser aktiven Rollenaneignung habe ich geschlossen, daß man –ich würde es gerne verallgemeinern, nicht nur ich speziell- wohl dazu neigt, vertraute Grundrollen in Beziehungen zu wiederholen. „Vertraut“ finde ich fürs Erklären entscheidend, denn weil man sich in bestimmten Rollen gut auskennt, fühlt man sich sicher darin. Seither, seit mir dieser Umstand bewusst geworden ist, beobachte ich mich ziemlich genau, wo und wie ich in meine alte Rolle schlüpfen möchte, und wie und wo ich andere Facetten meines So-Seins, manchmal angenehm überrascht und manchmal verunsichert, entdecke und mir aktiv aneigne. Umgekehrt herum denke ich mir, daß Du Deine alte Rolle ebenso aktiv übernimmst – was mich nicht nervt, bisher jedenfalls nicht; sollte es irgendwann einmal so kommen, dann werde ich es Dir sagen ... und damit übergebe ich an Dich. 🍃
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare