Liebe B.,
Spurrillen
Ich bin jetzt aber an den „tiefen Spurrillen“ des Entweder-Oder hängengeblieben. Ist das eine Eigenheit von mir und manchen anderen oder ist das tiefer in unserer Kultur verwurzelt? Ich glaube, du hattest zu diesem polaren Denken schon mal einiges geschrieben, aber ich weiß nicht mehr was. Mir fällt sofort Descartes ein und die ganze Tradition der Trennung von Körper und Geist, die auf ihn zurückgeht. Aber vielleicht war er ja auch gar nicht der Urheber dieses Denkens, sondern hat nur eine schon vorhandene Tendenz konsequent zu Ende gedacht. Gibt es prominente Beispiele für ein Denken im Sowohl-als-auch-Modus? Mir fällt spontan nichts ein. Dialektik vielleicht? Ich kann das nicht gut beurteilen, dazu weiß ich zu wenig darüber.
Mir ist bewusst geworden, als ich den Ausdruck noch einmal las, daß die Spur selbstverständlich zu den tiefen Spurrillen auf Hobbemas Gemälde „Die Allee von Middelharnis“ verläuft. Sie müssen einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen haben. Bezogen hatte ich mich zwar auf eine Eigenart Deiner Person, aber ich denke auch, daß „entweder – oder“ ein typisches Denken unserer Kultur ist. Entweder „männlich“ oder „weiblich“ (das war vor einiger Zeit mein Beispiel für das „polare Denken“). Ich weiß ebenso wie Du, wo ich ein „sowohl als auch“-Denken ausfindig machen könnte, aber mir sind die Anfangszeilen eines Gedichtes eingefallen (soweit ich informiert bin, ist es erlaubt, ohne Autorenrechte zu verletzen, auszugsweise zu zitieren, und das möchte ich aus einem Gedicht von Julia Grinberg tun): „als was fühle ich mich? als zwischenbemerkung eines zustandes. Als eine fortlaufende zweckentfremdung eines daseins. war dieses, bin jenes, auch etwas anderes,“ [...] Hier könnte man Montaignes „buntscheckige Fetzen“ noch hinzusetzen, die keinen Ausschluß zulassen ... wobei mir jetzt auffällt, daß im Hintergrund der Gedichtzeilen vielleicht der Wunsch nach Eindeutigkeit stehen dürfte und das bedeutete dann, entgegen meiner ersten Interpretation, doch wieder ein Denken des „entweder – oder“, hier als angestrebtes Ziel.
„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“
Du verwendest dieses „was der Fall ist“ ganz anders als ich. In meinen beiden Beispielen (Bus, Ausweichen auf Fußweg) war „der Fall“ nicht ich, sondern das, was sich „in der Welt“ tatsächlich gerade abspielte (im Gegensatz zu dem Roman in meinem Kopf). Während bei dir der „Fall“ das ist, was du bist (oder glaubst zu sein) und der Roman das, was du gern wärest. Das führt in eine ganz andere Richtung. (Für mein Gefühl spielt sich das beides in deinem Kopf ab, das erstere ist also keineswegs zwangsläufig „der Fall“.)
Zuerst habe ich Deinen Gedanken bestechend gut gefunden, bin aber später in Zweifel gekommen, ob es zutrifft, daß das, wovon ich meine, ich sei es, sich nur im Kopf abspielt. Insbesondere im Zusammenhang mit der Episode im Bus sind mir Situationen in Gruppen eingefallen. Ich hatte mich gerne äußern wollen und mein ganzer Körper ist in dem Moment von einem Unwohlseinempfinden durchdrungen gewesen. Die Scham, mich zu zeigen, angesehen zu werden, wie bloßgelegt mein Körper, der, indem ich spreche, angesehen wird. Das Körperempfinden ist zweifellos unmittelbar, auch wenn es wahrscheinlich das Ergebnis von Gedanken über mich selber ist, von denen aber keiner in der Situation selbst mir präsent war. Andererseits, worauf Du hinauswillst, „der Fall ist das Sprechen in einer Gruppe“. Das ist alles. Mehr nicht und nicht weniger. Hm, ich glaube, Du hast recht. Im Laufe jeden Tages gibt es unzählige Momente, in denen ich mich unmittelbar so oder so erlebe –und was ich daraus entnehme, daß ich es sei, das ist im Kopf. Ich möchte die Zuspitzung, in der Du es formuliert hast, nicht zerfleddern, weil sich die schöne Erkenntnis dann lediglich in Nebel auflöst.
Aber ich will gern in diese Richtung weitergehen. Über diese Zeit der Identitätsunsicherheit, Identitätsoffenheit, Identitätssuche oder wie immer man das nennen will hatten wir ja zu Anfang ausführlich gesprochen. Und ich finde das Thema immer noch spannend. Wobei wir, wie mir jetzt scheinen will, unterschiedliche Ansätze hatten. Ich fragte mich „Wer bin ich?“, du fragtest dich „Wer will ich sein?“.
Den Unterschied finde ich sehr gut herausgearbeitet, ich stimme Dir zu.
Interessant finde ich, dass du deine äußere Erscheinung erwähnst. Das war während dieser Zeit der Identitätssuche nach dem Tod meines Mannes für mich überhaupt kein Thema, soweit ich mich erinnere. Irgendwie irritiert mich das, aber ich kann nicht sagen weswegen. War ich so sehr mit meinem Inneren beschäftigt? Vielleicht war mir aber auch nur die Außenwelt weitgehend egal und damit alle Gedanken darüber, wie ich in ihr erscheine. Oder vielleicht liegt der Grund darin, dass ich ja gar keine Andere werden wollte, sondern eine Vollständigere (als nächsten Schritt nach der Selbstvergewisserung). Insofern war ich nicht auf eine so krasse Verwandlung aus wie du.
Ich muß mich korrigieren oder zumindest modifizieren. Im ersten Jahr meines Alleineseins habe ich auch keinen Gedanken an mein Äußeres verwendet oder noch richtiger und vor allen Dingen besser, meine äußere Erscheinung war für mich in Ordnung. Die Erkrankung, im Zuge derer sich mein Gesicht neuerlich anfing zu verändern, hat dann die Ablehnung meines Äußeren, das mich mein Leben lang begleitet hat, nur auf die Spitze getrieben.
Gefühlsereignisse
Ja, mit dem Denken hat das nicht viel zu tun, es ist ein sich ereignendes Gefühl. Ich kann mich an diese Episode am Küchentisch nur noch ganz vage erinnern, aber mir fällt ein Erlebnis ein, das sich sehr nachdrücklich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Als ich vor zwei Jahren im Krankenhaus lag, frisch operiert und reanimiert, mich kaum rühren konnte, weil bei jeder Bewegung der dicke Schlauch in meinem Thorax wehtat, ich auch gar nicht wusste, ob ich überhaupt lebend hier wieder rauskommen würde, da sah ich jeden Morgen, noch bevor auf dem Flur das Hin und Her anfing, aus meinem Zimmer im 7. Stock den Sonnenaufgang über einem bewaldeten Hügel. Da hatte ich auch dieses Gefühl eines tiefen Einverständnisses mit der gesamten Situation, wie sie war. Ich glaube, da hat es bei mir mit dem Zen so richtig angefangen.
Ich habe spontan 2 Einfälle zur Situation. In der Psychologie spricht man gelegentlich vom Krankenhaus als der „guten Mutter“ (ja, d i e Spurrille ist bei mir tief). Wenn ich mich bei allen meinen Krankenhausaufenthalten, abgesehen von dem Generve, das man da hat, außergewöhnlich wohl befunden habe, dann spielt dieser Aspekt bei mir die entscheidende Rolle. Ich fühlte mich sicher und geborgen, wie ich es draußen, außerhalb des Krankenhauses, fast nie tue. Das Zweite: Man hat im Krankenhaus keine Angst vor dem Sterben? Die Geräte, die Schläuche, das Personal – man ist überwacht. Es kann zwar dennoch passieren, das Sterben, der Tod, aber man ist nicht allein. Dies schreibe ich im Bewusstsein des Unterschiedes zwischen uns. Meine Aufenthalte im Krankenhaus hatten mehr oder weniger schwerwiegende Anlässe, mein Herz jedoch war gesund.
Zustimmungen
Was soll man sich darunter vorstellen? Sind Trauer und Glück, Gutes und Schlechtes, Erwünschtes und Abgelehntes voneinander getrennt? Ja sicher, man kann sie voneinander unterscheiden, das ist ja nicht alles ein Einheitsbrei. Aber sie sind doch miteinander verbunden, gehören komplementär oder polar oder wie immer man das ausdrücken will zusammen. Insofern empfinde ich es nicht als grundsätzliche Schwierigkeit, sie gemeinsam im Einverständnis zu umschließen, weder gefühlt noch gedacht. Beides gehört dazu, zu mir.
Ich bin zurückgegangen zu der Situation, in der ich vom „Getrennten“ geschrieben habe, weil ich jetzt beim Lesen auch gar nicht wusste, wie ich darauf gekommen bin. Und seltsamerweise ... oder auch nicht, kann ich einfach nicht mehr sagen, was ich mir dazu dachte, als ich „Getrenntes“ schrieb. Es ist da eine Lücke. Aber das macht wohl nichts :-))).
Vielleicht genügt es, einen Schritt zurückzutreten und erst einmal nur die Klammer wahrzunehmen? Sie ist ja schon da: Dies alles widerfährt DIR, dies alles BIST du, egal, ob du damit einverstanden bist oder nicht.
Ich folge Dir und ja, es gibt nichts Getrenntes.
Gedankenereignisse
Man muss nicht viel denken, nein. Aber man tut es unentwegt, das lässt sich gar nicht abschalten; zu glauben, das ginge, halte ich für illusorisch. Ich fand deinen Satz toll, aber vielleicht sollte er besser heißen: Ich muss gar nicht so viel auf mein Denken geben, es ist nur ein Teil meiner Person (allerdings ein ziemlich aufdringlicher Teil :-)). Du zitiertest neulich den Satz „Ich muss nicht alles glauben, was ich denke“, das geht in eine ähnliche Richtung.
Der Satz lautete so: „Man muß nicht alles glauben, was man über sich denkt“ -:). Er war hineingesprochen in eine Gruppe von Menschen, die es gewöhnt sind, Schlechtes über sich zu denken.
Vielleicht kann man aber auch hier einen Schritt zurückgehen und zuerst einmal überhaupt wahrnehmen, DASS man denkt. (Das ist keineswegs so selbstverständlich, wie es klingt, wie ich nach vier Jahren Zazen leider feststellen muss. :-)) Es macht einen Unterschied, ob ich gegen mich selbst wüte oder ob ich MERKE, dass ich gegen mich selbst wüte.
Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich den Punkt erfasse, um den es Dir geht. Du meinst nicht oder am Rande allenfalls das reflektierende Denken? Es ist nicht die Metaebene, auf der man auch schon interpretiert, sondern es geht Dir in erster Linie um die Wahrnehmung des Denkens?
[...] Und sie fragte mich, ob ich auch so viele Zukunftspläne hätte. Ich war ziemlich überrascht, dass ich auf diese Frage nur unschlüssig mit den Achseln zucken konnte, weil mir nichts einfiel. Wie konnte das sein? Es ist doch so normal, dass man Pläne, Wünsche, Zukunftsvorstellungen hat!?
Sicher habe ich auch Wünsche und Vorstellungen, aber eher akute, kurzfristige, und wenn die nicht verwirklicht werden können, dann hat das keine weitere Bedeutung. Hier kommt wieder meine Passivität ins Spiel, die nachzuvollziehen dir so schwerfällt: Ich lasse die Dinge meistens auf mich zukommen und sage dann: „Aha, so ist das also.“ Selbst beim Tod meines Mannes, nach der ersten Phase des fast körperlichen Schmerzes oder eigentlich schon vermischt damit: „So fühlt es sich also an, wenn man einen geliebten Menschen verliert und einen die Trauer zu zerreißen droht.“ Kein Aufbäumen, sondern ein Zur-Kenntnis-Nehmen, ein fast neugieriges Beobachten all dessen, was ist. Solch eine Prädisposition macht mir die Akzeptanz vermutlich leichter.
Lasse ich mich darauf ein? Zukunftspläne? Die hatte ich auch nie. Meine Zukunftswunschvorstellung war immer die –und ist es noch- endlich glücklich sein zu wollen. Gehört das schon zu „Ideal“ und „Faktizität“? Klar ist, daß ich glücklich nicht war und bin, denn andernfalls könnte es keine Wunschvorstellung sein. „Glücklich sein“ heißt „mein Leben war/ist gut“, „mein Leben ist erfüllt (worden)“, „ich habe Frieden in mir“. Bin ich an derselben Stelle, an der mein letzter Brief geendet ist? Die Sätze umschreiben ein Gefühlsereignis und sind, wie mir auffällt, auf nichts Konkretes bezogen. Im Unterschied zu dem, was ich im Brief schrieb, ist nun das Einverständnis aber auch auf die Faktizität meiner Lebenswiderfahrnisse erweitert, es betrifft nicht nur meine Person. Dennoch: Ist es nicht eher ein Ideal? Ja, ich glaube, es bleibt dabei. Das, was hier und jetzt ist, ist nicht gut. Was nicht bedeutet, daß nicht gelegentlich für einen Moment „etwas“ gut ist.
F.
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