Liebe F.,
Weder-noch
Mir ist bewusst geworden, als ich den Ausdruck noch einmal las, daß die Spur selbstverständlich zu den tiefen Spurrillen auf Hobbemas Gemälde „Die Allee von Middelharnis“ verläuft. Sie müssen einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen haben.
:-))) Ja, das ist ein tolles Bild. So profan und so geheimnisvoll. Bei mir hat das auch eine ziemliche Langzeitwirkung ausgelöst, umso mehr, als ich es beim ersten Sehen völlig nichtssagend fand.
Bezogen hatte ich mich zwar auf eine Eigenart Deiner Person, aber ich denke auch, daß „entweder – oder“ ein typisches Denken unserer Kultur ist. Entweder „männlich“ oder „weiblich“ (das war vor einiger Zeit mein Beispiel für das „polare Denken“). Ich weiß ebenso wie Du, wo ich ein „sowohl als auch“-Denken ausfindig machen könnte, aber mir sind die Anfangszeilen eines Gedichtes eingefallen (soweit ich informiert bin, ist es erlaubt, ohne Autorenrechte zu verletzen, auszugsweise zu zitieren, und das möchte ich aus einem Gedicht von Julia Grinberg tun): „als was fühle ich mich? als zwischenbemerkung eines zustandes. Als eine fortlaufende zweckentfremdung eines daseins. war dieses, bin jenes, auch etwas anderes,“ [...] Hier könnte man Montaignes „buntscheckige Fetzen“ noch hinzusetzen, die keinen Ausschluß zulassen ... wobei mir jetzt auffällt, daß im Hintergrund der Gedichtzeilen vielleicht der Wunsch nach Eindeutigkeit stehen dürfte und das bedeutete dann, entgegen meiner ersten Interpretation, doch wieder ein Denken des „entweder – oder“, hier als angestrebtes Ziel.
Beim ersten Lesen dieser Gedichtzeilen überkam mich weniger ein Gefühl der Vielfalt als der Haltlosigkeit oder Heimatlosigkeit. Auf jeden Fall wird der beschriebene Zustand, so wie ich es verstehe, nicht freudig begrüßt, anders als bei Montaigne. Ich vermute, im Zusammenhang mit dem Sowohl-als-auch ist es dir vor allem wegen der Zeile „war dieses, bin jenes, auch etwas anderes“ eingefallen? Für mich hört sich das allerdings eher nicht wie ein Sowohl-als-auch an, also eine Gleichzeitigkeit, sondern mehr wie ein Nacheinander. Aber das ist wohl Interpretationssache.
Zum „entweder männlich oder weiblich“ ist mir noch eingefallen, dass die nonbinären Leute durch ihr schieres Dasein bzw. durch ihr Bekenntnis zu sich als nonbinär solche Polaritäten auflösen. Und noch weiter gedacht: Vielleicht empfinden sie sich gar nicht wie ein „Sowohl-als-auch“, sondern mehr wie ein „Weder-noch“? Das ist natürlich reine Spekulation, weil ich überhaupt nicht weiß, wie sich selbst definieren (vielleicht wollen sie sich ja auch gar nicht so sehr definieren (lassen)?). Ich verlasse also dieses Beispiel und denke abstrakt weiter. Mir ist nämlich gerade aufgefallen, dass man mit dem Sowohl-als-auch die Polarität noch nicht wirklich verlassen hat, sondern die beiden Pole nur nebeneinander bestehen lässt, anstatt einen der beiden auszuschließen. Während man mit einem Weder-noch ein Drittes ins Spiel bringt, was bisher noch gar nicht in den Blick gekommen ist, oder sogar in ganz neue Bereiche aufbricht, für die es vielleicht noch gar keine Beschreibungen gibt. Ich will damit das Sowohl-als-auch nicht als ungenügend darstellen, ich denke, es passt in vielen Situationen sehr gut. Das Weder-noch verstehe ich mehr als eine Erweiterung der Denk- und Seinsmöglichkeiten. – Jetzt müsste natürlich die Anwendung auf das eigene Leben kommen, aber die lasse ich heute sein. Man muss ja nicht alles auf einmal erledigen wollen, das kann ja auch ruhig erst mal sacken.
Der Kopf auf meinem Körper
Zuerst habe ich Deinen Gedanken bestechend gut gefunden, bin aber später in Zweifel gekommen, ob es zutrifft, daß das, wovon ich meine, ich sei es, sich nur im Kopf abspielt. Insbesondere im Zusammenhang mit der Episode im Bus sind mir Situationen in Gruppen eingefallen. Ich hatte mich gerne äußern wollen und mein ganzer Körper ist in dem Moment von einem Unwohlseinempfinden durchdrungen gewesen. Die Scham, mich zu zeigen, angesehen zu werden, wie bloßgelegt mein Körper, der, indem ich spreche, angesehen wird. Das Körperempfinden ist zweifellos unmittelbar, auch wenn es wahrscheinlich das Ergebnis von Gedanken über mich selber ist, von denen aber keiner in der Situation selbst mir präsent war. Andererseits, worauf Du hinauswillst, „der Fall ist das Sprechen in einer Gruppe“. Das ist alles. Mehr nicht und nicht weniger. Hm, ich glaube, Du hast recht. Im Laufe jeden Tages gibt es unzählige Momente, in denen ich mich unmittelbar so oder so erlebe –und was ich daraus entnehme, daß ich es sei, das ist im Kopf. Ich möchte die Zuspitzung, in der Du es formuliert hast, nicht zerfleddern, weil sich die schöne Erkenntnis dann lediglich in Nebel auflöst.
Ich glaube, ich verstehe, warum du meinst, dass das, was du bist (was immer man darunter verstehen will), keineswegs nur in deinem Kopf ist, sondern sich ganz konkret in deinem Körper, in deinen Handlungen oder Vermeidungen ausdrückt. Ja, wenn mein Selbstbild sich ausschließlich in meinem Kopf befände, wäre das Leben manchmal wohl leichter. Die Schwierigkeiten entstehen ja gerade dadurch, dass diese Selbstbilder ganz konkrete Auswirkungen außerhalb meines Kopfes haben. Was dann natürlich wieder zurückwirkt.
Ich muß mich korrigieren oder zumindest modifizieren. Im ersten Jahr meines Alleineseins habe ich auch keinen Gedanken an mein Äußeres verwendet oder noch richtiger und vor allen Dingen besser, meine äußere Erscheinung war für mich in Ordnung. Die Erkrankung, im Zuge derer sich mein Gesicht neuerlich anfing zu verändern, hat dann die Ablehnung meines Äußeren, das mich mein Leben lang begleitet hat, nur auf die Spitze getrieben.
Ah, ich hatte diesen Satz: „Ich hatte nach dem Tod meines Mannes ein Bild von mir entworfen, meine äußere Erscheinung, mein Verhalten, mein Befinden, meine Empfindungen...“ als eine Utopie verstanden, als die Hoffnung auf ein verwandeltes, neues, passenderes Ich, wobei ein verändertes Äußeres dazugehört, als Sichtbarmachung des Inneren. Als ein Leser in der Bibliothek mich das erste Mal mit hochgesteckten Haaren sah, fragte er spontan: „Aha, ein neuer Mann?“ Und eine Kollegin mit sehr kurzen Haaren erzählte, dass ihre früher sehr langen Haare nach ihrer Scheidung mit dem „Trennungsschnitt“ radikalabkamen. Aber durch deine Krankheit wird dieser Teil der Verwandlung, die du dir nach dem Tod deines Mannes erträumt hattest, natürlich überlagert.
Zustimmungen
Ich bin zurückgegangen zu der Situation, in der ich vom „Getrennten“ geschrieben habe, weil ich jetzt beim Lesen auch gar nicht wusste, wie ich darauf gekommen bin. Und seltsamerweise ... oder auch nicht, kann ich einfach nicht mehr sagen, was ich mir dazu dachte, als ich „Getrenntes“ schrieb. Es ist da eine Lücke. Aber das macht wohl nichts :-))).
:-)))
Ich folge Dir und ja, es gibt nichts Getrenntes.
Uijuijui, das wird mir allmählich zu viel und zu radikale Zustimmung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich so empfindest. Und wenn ich das so isoliert und zugespitzt lese, regt sich auch in mir Widerspruch. Natürlich gibt es Getrenntes! Aber ebenso ist das Getrennte auch Teil einer Einheit. Die eine Sichtweise ist ja nicht verkehrt und die andere richtig, sondern beide haben im entsprechenden Zusammenhang ihre Wahrheit. Ob ich etwas als Getrenntes oder als Vereintes wahrnehme, hängt ja von der Ebene ab, von der aus ich es betrachte. Wenn ich im Kino einen Film sehe, bin ich dann mit ihm vereint oder von ihm getrennt? Beides! Wenn ich mich auf die Geschichte einlasse, mit den Protagonisten mitfiebere und mitleide, bin ich gefühlsmäßig mit ihnen vereint. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich da ja „nur“ einen Film sehe (besonders bei gruseligen Szenen ganz nützlich), dann bin ich von ihm getrennt. Auch auf formaler Ebene findet beides statt: Wenn ich auf die Leinwand schaue, trete ich in Verbindung zum Film, er zeigt mir etwas und ich nehme es auf; das funktioniert nur in diesem Zusammenspiel. Gleichzeitig ist da aber auch auf der einen Seite die Leinwand und auf der anderen Seite ich selbst im Zuschauerraum, und das wird sich nie vereinen (außer wiederum im Film, wenn die Hauptfigur plötzlich in einen Film im Film eintritt oder umgekehrt eine Figur aus einem Film im Film diesen Film verlässt und in das Leben des Hauptdarstellers eintritt).
Ebenso ist es in manchen Situationen nützlich sich klarzumachen, dass man sich gerade in der Negativspirale eines Gedankenfilms befindet, den man auch unterbrechen kann; aber manchmal ist es auch wichtig sich ganz auf sein Innenleben einzulassen, nicht immer nur als Beobachter des eigenen Lebens außen vor zu bleiben, sonst ist man ja nur eine halbe Person.
Einverstanden?
Lasse ich mich darauf ein? Zukunftspläne? Die hatte ich auch nie. Meine Zukunftswunschvorstellung war immer die –und ist es noch- endlich glücklich sein zu wollen. Gehört das schon zu „Ideal“ und „Faktizität“? Klar ist, daß ich glücklich nicht war und bin, denn andernfalls könnte es keine Wunschvorstellung sein. „Glücklich sein“ heißt „mein Leben war/ist gut“, „mein Leben ist erfüllt (worden)“, „ich habe Frieden in mir“. Bin ich an derselben Stelle, an der mein letzter Brief geendet ist? Die Sätze umschreiben ein Gefühlsereignis und sind, wie mir auffällt, auf nichts Konkretes bezogen. Im Unterschied zu dem, was ich im Brief schrieb, ist nun das Einverständnis aber auch auf die Faktizität meiner Lebenswiderfahrnisse erweitert, es betrifft nicht nur meine Person. Dennoch: Ist es nicht eher ein Ideal? Ja, ich glaube, es bleibt dabei. Das, was hier und jetzt ist, ist nicht gut. Was nicht bedeutet, daß nicht gelegentlich für einen Moment „etwas“ gut ist.
Ich habe Schwierigkeiten diesen Absatz zu verstehen. Ich kann deiner Unterscheidung zwischen Ideal und Faktizität und der Verbindung zum Einverständnis nicht ganz folgen. Es klingt fast so, als sei dir dieses Einverständnis schon gelungen? Aber „dennoch“ ist es eher ein Ideal? Oder ist dieses „ist nun das Einverständnis aber auch auf die Faktizität meiner Lebenswiderfahrnisse erweitert“ keine Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern eine Beschreibung dessen, was alles unter ein Einverständnis fallen müsste, also eine Begriffsklärung?
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Als Kleinigkeit am Rande noch eine Antwort auf deine Frage:
Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich den Punkt erfasse, um den es Dir geht. Du meinst nicht oder am Rande allenfalls das reflektierende Denken? Es ist nicht die Metaebene, auf der man auch schon interpretiert, sondern es geht Dir in erster Linie um die Wahrnehmung des Denkens?
Ja genau. Ich muss die Gedanken gar nicht bewerten, ich versuche nur überhaupt mitzukriegen, dass ich mich in meinen Gedanken befinde. Allein diese Wahrnehmung bewirkt schon eine Veränderung. Und ich finde es faszinierend mitzukriegen, wie oft und wie schnell ich wieder vom Gedankenstrom mitgezogen werde, ohne es zu merken. Ich merke immer nur das Auftauchen, aber nie das Eintauchen.
B.
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