Liebe F.,
Wildwechsel
Dieses Bild, ist es ein Original von Dir oder handelt es sich um eine bekannte Redewendung, die nur mir bisher meinen Weg nicht gekreuzt hat? (die Elche müßten buchstäblich an mir vorbeigelaufen sein).
Das ist deutsches Sprichwort-Allgemeingut. :-) Dachte ich jedenfalls, aber dann habe ich doch gegoogelt und dabei gesehen, dass das 1. von F. W. Bernstein stammt, ehedem Pardon- und Titanic-Mitarbeiter, und dass ich es 2. falsch im Gedächtnis hatte – richtig muss es heißen „Die schärfsten Kritiker …“. So ist mir das allerdings nicht geläufig.
Denktraditionen
Ich glaube, ich werde Dir beispringen, gehe dazu allerdings nicht über die Suchfunktion, um mir alle Stellen anzeigen zu lassen, an denen Du „sowohl als auch“ erwähnt hast, sondern vertraue meinem Gedächtnis. Soweit ich mich erinnere, hast Du –zumindest häufiger- Deine Überlegungen unter dem Gesichtspunkt des „entweder-oder“ ausgeführt, um dann ganz zum Schluß Deinen Gedankengang zu beenden mit einem „aber wie wohl in den meisten Fällen dürfte ein ‚sowohl als auch’ angemessener sein“ (so oder ähnlich). Deine Formulierung oben also ist es, die meine Erinnerung aktiviert. Das „sowohl als auch“ blieb dann jeweils unausgeführt. Insofern kann ich Dein Bemühen ganz und gar bestätigen: „Entweder-oder“ verläuft in tiefen Spurrillen, aus denen herauszukommen Aufmerksamkeit erfordert und manchmal eben nur durch die theoretische Feststellung, daß außerhalb der Spurrillen zu denken sicher zutreffender ist.
Dieses Muster war mir nicht bewusst, aber es passt sehr gut. Ja, das Sowohl-als-auch ist mir nicht selbstverständlich, es fällt mir oft erst nachträglich ein.
Ich bin jetzt aber an den „tiefen Spurrillen“ des Entweder-Oder hängengeblieben. Ist das eine Eigenheit von mir und manchen anderen oder ist das tiefer in unserer Kultur verwurzelt? Ich glaube, du hattest zu diesem polaren Denken schon mal einiges geschrieben, aber ich weiß nicht mehr was. Mir fällt sofort Descartes ein und die ganze Tradition der Trennung von Körper und Geist, die auf ihn zurückgeht. Aber vielleicht war er ja auch gar nicht der Urheber dieses Denkens, sondern hat nur eine schon vorhandene Tendenz konsequent zu Ende gedacht. Gibt es prominente Beispiele für ein Denken im Sowohl-als-auch-Modus? Mir fällt spontan nichts ein. Dialektik vielleicht? Ich kann das nicht gut beurteilen, dazu weiß ich zu wenig darüber.
„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“
Der Gedanke, dass ich einfach nur mit dem umgehen muss, was „der Fall ist“, und nicht mit dem Roman, den ich darum herum schreibe, war sozusagen vom Kopf in den Körper gewandert.
Den Gedanken fand ich toll, er hat mich angesprungen. In einem plakativen und vereinfachenden Bild sehe ich ein Kaninchen, das das Bild von sich, ein Elefant zu sein, entwirft. Was soll das?! Nein, das ist noch nicht gut. Ich hatte nach dem Tod meines Mannes ein Bild von mir entworfen, meine äußere Erscheinung, mein Verhalten, mein Befinden, meine Empfindungen – und dieses Bild war ausschließlich im Kopf, es waren Gedanken. Mit meiner Person, wie ich tatsächlich bin, hatte das Bild nichts zu tun. Die Realität meiner Person und das Bild standen unverbunden nebeneinander. Es gab keine Verknüpfungspunkte. Um in dieses Bild hineinschlüpfen zu können, mich ihm überhaupt nur annähern zu können, hätte ich eine Andere sein müssen als die, die ich bin.
Du verwendest dieses „was der Fall ist“ ganz anders als ich. In meinen beiden Beispielen (Bus, Ausweichen auf Fußweg) war „der Fall“ nicht ich, sondern das, was sich „in der Welt“ tatsächlich gerade abspielte (im Gegensatz zu dem Roman in meinem Kopf). Während bei dir der „Fall“ das ist, was du bist (oder glaubst zu sein) und der Roman das, was du gern wärest. Das führt in eine ganz andere Richtung. (Für mein Gefühl spielt sich das beides in deinem Kopf ab, das erstere ist also keineswegs zwangsläufig „der Fall“.)
Aber ich will gern in diese Richtung weitergehen. Über diese Zeit der Identitätsunsicherheit, Identitätsoffenheit, Identitätssuche oder wie immer man das nennen will hatten wir ja zu Anfang ausführlich gesprochen. Und ich finde das Thema immer noch spannend. Wobei wir, wie mir jetzt scheinen will, unterschiedliche Ansätze hatten. Ich fragte mich „Wer bin ich?“, du fragtest dich „Wer will ich sein?“.
Interessant finde ich, dass du deine äußere Erscheinung erwähnst. Das war während dieser Zeit der Identitätssuche nach dem Tod meines Mannes für mich überhaupt kein Thema, soweit ich mich erinnere. Irgendwie irritiert mich das, aber ich kann nicht sagen weswegen. War ich so sehr mit meinem Inneren beschäftigt? Vielleicht war mir aber auch nur die Außenwelt weitgehend egal und damit alle Gedanken darüber, wie ich in ihr erscheine. Oder vielleicht liegt der Grund darin, dass ich ja gar keine Andere werden wollte, sondern eine Vollständigere (als nächsten Schritt nach der Selbstvergewisserung). Insofern war ich nicht auf eine so krasse Verwandlung aus wie du.
Einen Schritt zurücktreten
Du hattest einmal wenige Jahre nach dem Tod Deines Mannes eine Morgenepisode erzählt, wie Du am Frühstückstisch gesessen hast, alleine und traurig und ein Gefühl des „alles ist gut, so wie es ist“ sich in Dir ausgebreitet hat. Ein Einverständnis also auch mit dem, was nicht gut ist –falls ich Dich richtig verstanden habe. Das Einverständnis ist für mich der entscheidende Punkt. Ein solches Gefühl oder besser vielleicht ein solches Gedanken- und Gefühlszusammenspiel dürfte nicht das Ergebnis einer Gedankenarbeit, eines rationalen Abwägens sein. Es ist unmittelbar präsent und durchzieht den ganzen Körper.
Ja, mit dem Denken hat das nicht viel zu tun, es ist ein sich ereignendes Gefühl. Ich kann mich an diese Episode am Küchentisch nur noch ganz vage erinnern, aber mir fällt ein Erlebnis ein, das sich sehr nachdrücklich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Als ich vor zwei Jahren im Krankenhaus lag, frisch operiert und reanimiert, mich kaum rühren konnte, weil bei jeder Bewegung der dicke Schlauch in meinem Thorax wehtat, ich auch gar nicht wusste, ob ich überhaupt lebend hier wieder rauskommen würde, da sah ich jeden Morgen, noch bevor auf dem Flur das Hin und Her anfing, aus meinem Zimmer im 7. Stock den Sonnenaufgang über einem bewaldeten Hügel. Da hatte ich auch dieses Gefühl eines tiefen Einverständnisses mit der gesamten Situation, wie sie war. Ich glaube, da hat es bei mir mit dem Zen so richtig angefangen.
„Einverständnis“ bedeutet doch, das Getrennte durch ein „ja“ zu verbinden oder bedeutet es, überhaupt gar nicht erst Getrenntes zu denken? Ich möchte versuchen, ohne „innen“ und „außen“ auszukommen. Zugefügt wurde Dir der Verlust ohne Dein Zutun, gegen Deinen Willen und die Realität daraus ist der Morgen alleine am Frühstückstisch. Die Traurigkeit ist kein glücklicher Moment, sie wird aber angenommen durch ein „ja“.
Es handelt sich dabei ja wie gesagt nicht um Denkvorgänge, die werden höchstens nachträglich obendrauf gesetzt. Aber ich bin unabhängig davon etwas verwirrt an diesem „Getrennten“ hängengeblieben. Was soll man sich darunter vorstellen? Sind Trauer und Glück, Gutes und Schlechtes, Erwünschtes und Abgelehntes voneinander getrennt? Ja sicher, man kann sie voneinander unterscheiden, das ist ja nicht alles ein Einheitsbrei. Aber sie sind doch miteinander verbunden, gehören komplementär oder polar oder wie immer man das ausdrücken will zusammen. Insofern empfinde ich es nicht als grundsätzliche Schwierigkeit, sie gemeinsam im Einverständnis zu umschließen, weder gefühlt noch gedacht. Beides gehört dazu, zu mir.
Ich schwenke zu mir und versuche die Anwendung auf mich. Einverständnis bedeutet auf meine Person übertragen, die widerstreitenden Gefühle und Gedanken, die Zerrissenheit, die Kämpfe zwischen Ablehnung und Akzeptanz meiner Person, die erbitterten „Neins“ gegen manche der mir widerfahrenden Ereignisse mit einer Klammer, die davor steht, zu versehen und vor der Klammer ist ein „ja“!
Vielleicht genügt es, einen Schritt zurückzutreten und erst einmal nur die Klammer wahrzunehmen? Sie ist ja schon da: Dies alles widerfährt DIR, dies alles BIST du, egal, ob du damit einverstanden bist oder nicht.
Nun hatte ich das Einverständnis an die Stimme des guten Vaters gebunden, was jedoch, wie ich schrieb, von mir aus auch weggelassen werden kann. Wie funktioniert die Geschichte dann folgendermaßen:
Man muß gar nicht viel denken, oder? Man wägt nicht ab, Vor- und Nachteile, angenehm und unangenehm, Fort- oder Rückschritt, stellt nicht die Frage nach dem Sinn des Ganzen, es fühlt sich insgesamt gut an. Das ist es.
Ich denke ununterbrochen, es fühlt sich insgesamt nicht gut an, :-) Wie kommt mir das Einvernehmen mit mir mühelos zu, ohne Denken? Da ich einen solchen Seelenzustand einige wenige Male in meinem Leben erfahren habe, bewusst jedenfalls nur wenige Male, weiß ich, wie es sich anfühlt, nämlich insgesamt gut.
Man muss nicht viel denken, nein. Aber man tut es unentwegt, das lässt sich gar nicht abschalten; zu glauben, das ginge, halte ich für illusorisch. Ich fand deinen Satz toll, aber vielleicht sollte er besser heißen: Ich muss gar nicht so viel auf mein Denken geben, es ist nur ein Teil meiner Person (allerdings ein ziemlich aufdringlicher Teil :-)). Du zitiertest neulich den Satz „Ich muss nicht alles glauben, was ich denke“, das geht in eine ähnliche Richtung.
Vielleicht kann man aber auch hier einen Schritt zurückgehen und zuerst einmal überhaupt wahrnehmen, DASS man denkt. (Das ist keineswegs so selbstverständlich, wie es klingt, wie ich nach vier Jahren Zazen leider feststellen muss. :-)) Es macht einen Unterschied, ob ich gegen mich selbst wüte oder ob ich MERKE, dass ich gegen mich selbst wüte.
Zukunft ist das, was auf mich zukommt
Kurz vor dem Absenden dieses Briefes ist mir noch etwas zum Thema Ideal und Einverständnis eingefallen: Vielleicht hatte ich schon immer diese Tendenz, eher mit dem Faktischen als mit dem Idealen umzugehen. (Ich finde es spannend, wie sich in unserem Gespräch solche Dinge herauskristallisieren. Ich danke dir sehr dafür.) Als eine Freundin an Krebs erkrankte, erzählte sie mir, wie sehr sie es bedaure, dass sie jetzt eventuell dies und das und jenes nicht mehr würde machen oder erleben können – „Ich hatte noch so viel vor!“. Und sie fragte mich, ob ich auch so viele Zukunftspläne hätte. Ich war ziemlich überrascht, dass ich auf diese Frage nur unschlüssig mit den Achseln zucken konnte, weil mir nichts einfiel. Wie konnte das sein? Es ist doch so normal, dass man Pläne, Wünsche, Zukunftsvorstellungen hat!?
Sicher habe ich auch Wünsche und Vorstellungen, aber eher akute, kurzfristige, und wenn die nicht verwirklicht werden können, dann hat das keine weitere Bedeutung. Hier kommt wieder meine Passivität ins Spiel, die nachzuvollziehen dir so schwerfällt: Ich lasse die Dinge meistens auf mich zukommen und sage dann: „Aha, so ist das also.“ Selbst beim Tod meines Mannes, nach der ersten Phase des fast körperlichen Schmerzes oder eigentlich schon vermischt damit: „So fühlt es sich also an, wenn man einen geliebten Menschen verliert und einen die Trauer zu zerreißen droht.“ Kein Aufbäumen, sondern ein Zur-Kenntnis-Nehmen, ein fast neugieriges Beobachten all dessen, was ist. Solch eine Prädisposition macht mir die Akzeptanz vermutlich leichter.
B.
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