Liebe B.,
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Seit einigen Briefen kommst du immer wieder auf das Thema Aktivität/Passivität zurück. Ich glaube, ich selbst habe über die aktiven und passiven Anteile in meinem Handeln bisher noch kaum nachgedacht. Ist das Thema für dich von besonderer Bedeutung? Also für dich selbst, nicht nur in Hinsicht auf mich? Oder hat sich das mehr zufällig durch den Gang unseres Austausches so ergeben?
In meinem vorletzten Brief (83) hatte ich geschrieben: Mich fasziniert die Wirkung des „der Welt sanft abhanden gekommen“, weil ich das allererste Mal die für mich seltsame Verknüpfung von Aktivität und Passivität bei Dir zu verstehen meine. Dazu gehört zum Beispiel auch eine Deiner häufiger gebrauchten Redewendungen „es hat sich so ergeben“. Der Welt „sanft abhanden kommen“ changiert zwischen dem aktiven und passiven Modus. Weder die Welt noch Du sind das handelnde oder erleidende Subjekt. Es ereignet sich „etwas“, das die Folge einer Entwicklung zwischen Dir und der Welt ist. Der Ausgangspunkt war mein plötzliches Verstehen dessen, was mir bis dahin an Dir immer rätselhaft schien. Da Du darauf geantwortet hattest, haben wir das Thema weiter umrundet – die Aktivität und Passivität ist also ein spezielles Interesse von mir in Hinsicht auf Deine Person, zumindest was die letzten beiden Briefe angeht.
Allerdings empfinde ich es tatsächlich nicht so wie du, dass mein Leben sich als Gegeneinander von Kräften abspielt. Dazu ist mein eigener Wille vielleicht schwächer ausgeprägt als deiner? Ich habe sehr oft, besonders bei banalen Alltagsdingen, gar keine besondere Vorstellung, wie etwas jetzt ablaufen soll, sondern lasse mich da eher treiben, von den Umständen oder von anderen Menschen. Vieles ist mir einfach nicht wichtig genug, um mich da groß zu engagieren. Und oft bin ich auch gar nicht richtig bei der Sache, sprich im Außen, bemerke vieles gar nicht. Eventuelle Gegenkräfte des „Außen“ verpuffen also vielleicht einfach, ohne dass ich sie überhaupt wahrnehme?
Wenn du sagst, dass „Leben“ für dich aus dem Gegeneinander zweier Kräfte besteht, dann klingt das für mich so, als wenn das nicht nur bei gewichtigeren Entscheidungen der Fall ist, sondern generell, auch im alltäglichen Allerlei. Ist das so? Also ein permanenter Kampf, nicht nur sporadisch wie bei mir?
Ach nein, die „banalen“ Alltagsbegebenheiten nehme ich auch so hin, wie sie kommen, ich schenke ihnen keine besondere Aufmerksamkeit, jedenfalls nicht in Bezug auf das Kräftemessen.
Möglichkeiten der Beobachtung
Widerstreitende Kräfte in mir selbst, dazu fällt mir schon eher etwas ein. (Achtung, jetzt wird’s mikrologisch! Man kann das gern überspringen und weiter unten weiterlesen.) Gehe ich jetzt allein zu dieser Veranstaltung oder nicht? Das hängt davon ab, welche Kräfte in mir da in Widerstreit geraten. Auf der einen Seite Interesse, Pflichtgefühl, der Wunsch, mich endlich mal zu trauen … Auf der anderen Seite eigentlich doch kein so großes Interesse (vorgeschoben oder echt, beides kommt vor), Faulheit, Ängstlichkeit … Manchmal kann ich dieser Auseinandersetzung fast wie ein unbeteiligter, etwas belustigter Zuschauer zugucken. :-) Manchmal freue ich mich, wenn ich mich überwunden habe – entweder in die Gehen-Richtung (ich bin mutig!) oder in die Bleiben-Richtung (ich traue mich, die Erwartungen der anderen nicht zu erfüllen; ich tu das, was wirklich meinem Bedürfnis entspricht). Manchmal stellt sich diese Entscheidung im Nachhinein als falsch heraus („Die Veranstaltung war ätzend, wäre ich doch bloß zu Hause geblieben!“ – „Vielleicht hätte ich mich doch mal überwinden sollen, jetzt tut es mir fast leid, dass ich es nicht getan habe …“). Wenn das öfter vorkommt, baut sich in mir ganz allmählich ein innerer Druck auf, der mich irgendwann dazu bringt, doch mal etwas zu tun, was ich bisher, aus welchen Gründen auch immer, vermieden habe. (Dann bin ich manchmal von mir selbst überrascht! :-))
Das möchte ich nicht überspringen, weil ich toll, d.h. sorgsam und präzise ausgeführt finde, wie ich auch meine Regungen, Impulse und Erwägungen in verschiedenen Situationen wahrnehme, in denen ich mich zum Objekt meiner Beobachtung machen und –nicht unbeteiligt- ("fast" fügst Du vorsichtshalber ein) aber auf wohlwollende Art beteiligt zuschauen kann. Woher kommt eigentlich die Dramatik?
Das alles ist im akuten Moment zwar manchmal etwas aufwühlend, entwickelt sich im Grunde aber doch eher von selbst. So richtig feindlich stehen sich diese Kräfte nicht gegenüber, es ist eher eine allmähliche Entwicklung als ein Kampf.
Die widerstreitenden Kräfte sind es wohl nicht, denke ich, denn Du schreibst ja auch, daß sie Dich für den Moment etwas aufwühlen. In Verbindung mit der „wohlwollenden“ Selbstbetrachtung glaube ich, daß der entscheidende Punkt die Stimme des Nicht-Wohlwollens ist, die auf einer Meta-Ebene die widerstreitenden Kräfte so dramatisch erscheinen läßt. Der beobachtende Teil sagt nicht, nagut, im Moment ist es zwar etwas aufwühlend, aber du weißt, die Wogen glätten sich auch wieder. Der beobachtende Teil ist hauptsächlich vernichtender Art und das heißt zugleich, er bezieht sich auf die ganze Person. „Manchmal stellt sich diese Entscheidung als falsch heraus“ eignet sich als Beispiel gut, denn gerade bei einer derartigen Feststellung gelingt es mir oft nicht, sie gelassen und freundlich zu tun. Eine falsche Entscheidung stellt meine Person als Ganze infrage; das bedeutet, zukünftig richtige Entscheidungen kann es nicht geben und alle anderen Aspekte meines Soseins spielen überhaupt keine Rolle. Wir haben zu Anfang häufiger über dieses Thema gesprochen und inzwischen ist die Selbstbewertung unter dem geringschätzenden Blick bei weitem nicht mehr so dominierend wie vor wenigen Jahren noch; „sanft abhanden gekommen“ allerdings ist er mir auch noch nicht.
Vielleicht ist das Beispiel, ja mein Leben selbst einfach zu banal, es gilt keine so richtig dramatischen Entscheidungen zu treffen, wo wirklich widerstreitende Kräfte aufeinanderprallen? Oder gehe ich doch einfach anders damit um als du? Mir fällt eine relativ wichtige Entscheidung des letzten Jahres ein: Nicht im ersten Jahr, aber seit dem zweiten nach dem Tod meines Mannes hatte ich den starken Wunsch, ans Meer zu fahren. Dieser Wunsch kam immer wieder hoch, wurde von mir gedanklich umrundet und dann wieder beiseite gelegt. Anfangs war es noch zu früh dafür, ich war noch nicht bereit dazu, das merkte ich genau. Dann konnte ich mir das immer besser vorstellen, aber die Hemmschwelle des Alleinverreisens war noch zu hoch. So ging das in größeren Abständen immer hin und her, der Gedanke kam hoch und versank wieder, bis ich irgendwann merkte: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen – jetzt kann ich das und jetzt möchte ich das auch. Und schon hatte ich gebucht. Das war zum Schluss gar keine große Entscheidung mehr, die hatte sich unterschwellig von selbst vorbereitet und war sozusagen fertig an die Oberfläche gekommen und musste nur noch in die Tat umgesetzt werden. Also auch hier kein Kampf, kein Widerstreit, kein Aufeinanderprallen, sondern eine viel unspektakulärere Entwicklung.
Entwicklungsprozesse, die im Hin und Her von Wünschen, Vorstellungen und gedanklichem Widerstreit bestehen, die sind mir auch vertraut. Wichtig finde ich Deine Formulierung „zum Schluß gar keine große Entscheidung mehr“, die ich sogar noch zuspitzen würde auf „es kommt mir gar nicht mehr wie eine Entscheidung vor“, obwohl es sich natürlich immer noch um eine Entscheidung handelt. Ein Beispiel von mir sind die mehrere Jahre andauernden Überlegungen, die Wohnung meiner Mutter zu übernehmen, falls sie stürbe. Einerseits und andererseits habe ich immer wieder abgewogen und am Ende, als sie aus der Wohnung ausgezogen ist, war es –fast ohne jedes Zögern- klar, daß ich die Wohnung nicht übernehme.
Eintracht der Seelen
Bei den inneren Auseinandersetzungen mag das vielleicht so sein. Aber das Schicksal? So wenig, wie ich mir einen Gott vorstellen kann, der mich meinen könnte (schon im Konfirmationsunterricht habe ich nicht verstanden, warum Gott ausgerechnet zu mir gucken sollte – nicht weil ich vielleicht zu unwichtig wäre, sondern weil es mir irgendwie absurd vorkam), so wenig kann ich das mit dem noch viel unpersönlicheren „Schicksal“.
Gerade fällt mir ein, dass mein Mann eine ähnlich animistische Weltsicht hatte wie du. Er konnte sehr hitzig werden, wenn irgendwas nicht so funktionierte, wie er das wollte, und schimpfte mit den Gegenständen wie mit renitenten Menschen. Hinterher sagte er dann oft im Scherz: „Das war wieder die widerspenstige Materie.“
Da wir das Thema schon länger umkreisen und besonders im Hinblick auf den Begriff „Animismus“ wird mir zunehmend klar, daß meine Weltsicht, auf mich, meine Person bezogen, doch mehr eine anthropomorphistische ist. Bei Gegenständen habe ich nicht die Tendenz, sie zu „beseelen“, und dem Schicksal oder einer Außenwelt eine Seele zuzudenken, trifft nicht die entscheidende Komponente meines Gegenübers, weil die „Seele“ für mich zart und gut und eine Harmonie ist. Ein feind“seliger“ Widerstreit der Seelen ist daher ausgeschlossen. Es handelt sich doch in erster Linie um eine „Person“ nach Art der Menschen. Ich deale mit ihr. Soundsoviel Jahre oder Ereignisse des Unglücks, dafür stehen mir jetzt soundsoviele Jahre und Ereignisse Glück zu. Oder: ich zeige dir mein Leiden und du musst ein Einsehen mit mir haben. Ich bin nicht allein, weil das Schicksal in Gestalt einer Person ein Gegenüber ist. Auf diese Aspekte bin ich gekommen, als ich mir den Vorteil einer solchen Weltsicht überlegte. „Ich bin nicht allein“ scheint mir nach einigen Tagen des Überlegens der entscheidende Punkt. Besser noch mich abhängig und abgelehnt zu fühlen als alleine im Universum zu existieren. Das exakte Gegenbild zu Deinem starken Autonomiebestreben.
F.
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