Brief 82 | Schnipsel

Liebe F.,

Es ist mein Herzens- und Seelenwunsch, in Liebe zu leben, und ich werde mich nicht verraten. Das heißt, ich werde mich von diesem Wunsch weder distanzieren, ihn blasser werden lassen noch werde ich ihn aufgeben, weil das hieße, meine Seele, mich zu verraten. Die Obdachlosigkeit war mir als Bild gegen das Schön- und das Schlechtreden eingefallen. Sieh doch, wie viel Schönes es sonst zu erleben gibt und denk’ nur daran, wie viele Leute Ärger mit ihrer Wohnung und ihrem Vermieter haben. Alles andere, das wichtig und schön ist und alle Gedanken daran, daß ein Heim nicht zwangsläufig der Himmel auf Erden ist, können dieses Bedürfnis nicht in einen anderen Rang versetzen. Die Obdachlosigkeit bleibt der Rahmen, in dem alles andere geschieht.

Ein grundsätzlicher Mangel – so kann ich es endlich nachvollziehen. Dieser grundsätzliche Mangel besteht einfach, egal ob drumherum schöne oder schlechte Dinge geschehen. Und ja, sie geschehen, die schönen und die schlechten Dinge, darum geht es gar nicht. Deine Bilder des Abgrundes und der Hölle hatten mich auf eine falsche Fährte gebracht, ich hatte sie so verstanden, als wenn die Welt für dich kaum noch existiert, solange du nicht „in Liebe lebst“, wie du es ausdrückst. Aber trotz deiner Bilder wandelst du ja weiterhin „oben“ auf der Erde, „nur“ emotional befindest du dich im Abgrund? („Nur“ in Anführungszeichen, weil das natürlich für dein Lebensgefühl bestimmend ist.)

 

Darauf habe ich 2 Antworten. Die erste: Du hast Deinen Mann kennengelernt, als Du 19 Jahre alt warst, und nun bist Du seit guten 2 1/2 Jahren alleine. Dein langes, bisher gelebtes Leben war ein komplett anderes als Deine Theorie.

Vielleicht kommen daher meine während der langen Zeit der Ehe immer mal wieder auftauchenden Gedanken, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich es allein geführt hätte? Und daher auch die relative Leichtigkeit, mit der ich jetzt dieses neue Leben allein annehme, weil auch ich sozusagen an meine Zeit als junges Mädchen anknüpfe?



Besonders auch, weil Du oben die Aktualität offen lässt, möchte ich gerne wissen, ob Du in der Zwischenzeit Erfahrungen gemacht hast, die Deinen Blick auf Deine Grundbedürfnisse in Bezug aufs Alleinesein und das Mit-Anderen-Sein verändert haben oder aber überhaupt Deine Aufmerksamkeit von diesem Aspekt des Lebens auf einen oder andere Aspekte des Lebens verschoben haben.

Mit den zwischenzeitlichen Erfahrungen meinst du meinen Krankenhausaufenthalt, der der Grund für die längere Pause hier gewesen ist? Nein, so einschneidend diese Erlebnisse waren – sie haben nichts an meinem Bedürfnis nach Alleinsein geändert. Eher im Gegenteil. Diese unvermutete Endlichkeitserfahrung hat mich natürlich darüber nachdenken lassen, was für mich wirklich entscheidend, wirklich wichtig ist. Das vorherrschende Gefühl dabei war dasselbe wie nach dem Tod meines Mannes, nur jetzt noch klarer, weil ich in der Zwischenzeit mit dir gemeinsam so viel darüber nachgedacht habe: Ja, Kontakte sind wichtig; aber das, wohin es mich wirklich zieht, ist das Alleinsein. Es kann natürlich sein, dass sich das nach einigen Jahren noch ändert, dass mir das Alleinsein irgendwann zuviel wird, wenn ich es zu lange auslebe. Aber die Todesnähe hat mich, momentan jedenfalls, nicht zurück in die Arme der Menschheit getrieben.

So, wie dir das Bild der Hölle durch den Kopf geistert, ohne dass du anfangs recht wusstest, woher es kommt, so habe ich in letzter Zeit oft an den Anfang eines Gedichtes von Friedrich Rückert denken müssen:

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben.

Dieses „verdorben“ ist sehr ungerecht, denn ich habe ein wirklich schönes Leben geführt, was Ehe, Familie und Beruf, also alles Soziale betrifft, in dem mir kaum Schlechtes passiert ist, aber viel Beglückendes. Trotzdem hatte ich immer dieses untergründige Gefühl, dass mir die Welt zu nahe kommt, ich am liebsten von ihr abrücken möchte. Das schlechte Gewissen dabei lege ich nun nach und nach ab. Ich wende mich nicht im Groll von der Welt, sondern ich komme ihr sanft abhanden.



Es ist mir sofort aufgefallen, daß ich zwar von der Hölle spreche, das Gegenstück dazu, was sich aufdrängt, jedoch nicht der Himmel ist. Das Gegenstück ist die Erde. Vielleicht ist also das Abgrundbild passender, auch deswegen, weil der Raum, in dem ich mich befinde, nach oben hin offen ist. Der Himmel ist es jedenfalls nicht, weil ich weiß, daß die Liebe das Nicht-Gute, das Nicht-Schöne, das Nicht-Glückliche nicht zum Verschwinden bringt; es ist das irdische Dasein mit allen seinen Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten, das bleibt. Befände ich mich auf der Erde, würde ich Deine Grundeinstellung aufgreifen. Hier kommt es auf mich an, ich kann meine Handlungskraft einsetzen. Entweder um die Bedingungen so zu gestalten, wie ich sie mir wünsche, und ist mir diese Möglichkeit verwehrt, weil die Umstände zu verändern unmöglich ist, dann kann ich meine Haltung ihnen gegenüber verändern. Die Hölle hingegen, das ist der entscheidende Beweggrund für die Wahl des Begriffes, hat es an sich, daß man von einem Außen gezwungen wird in ihr zu sein und sich nicht aus eigener Kraft daraus befreien kann. Es ist ein Urteilsspruch.

Ich erinnere mich, wie ich am ersten Todestag meines Mannes zusammen mit meinen Töchtern an seinem Grab stand und plötzlich das Gefühl hatte, nun für den Rest meines Lebens zur Einsamkeit verdammt zu sein (ich hatte davon schon mal geschrieben). Vielleicht ähnelt das deinem jetzigen Zustand, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass es bei mir nur ein relativ kurzer Moment war, bei dir aber inzwischen lebensbestimmend.



Bei dieser Ansammlung von bedeutungsschweren Wörtern wird mir bewusst, daß die bedeutungsvollsten Wörter zugleich die bedeutungsleersten Wörter sind. Man kann überhaupt nicht sagen, was „Sinn“, „heilig“ und „Wahrheit“ bedeuten, die Bedeutung liegt in den Wörtern selbst. Es ist so, als würde man die Buchstaben im Geiste zu Worten vergolden und eine andere Person sagt: Ich sehe nur Buchstaben. Obwohl die oben aufgeführten Wörter bei mir vergoldet sind, kann ich die andere Sichtweise, es handle sich um Wörter ohne jede Bedeutung, vollkommen nachvollziehen. Ähnlich wie bei einem Kippbild. Obwohl mir das Kippen in die Bedeutungslosigkeit Mühe macht, so gelingt es mir dennoch.

Ja, vielleicht Ähnliches kam mir in den Sinn, als ich über die Bedeutung von „profan“ nachdachte. Einfach nur das alltägliche Leben (die Buchstaben), ohne irgendwelche Überhöhungen (Vergoldungen). Alles „Heilige“, „Bedeutungsschwere“, alles, was über das Hier und Jetzt hinausgeht, kann Bedeutung haben, muss es aber nicht. Deshalb mag ich diese Geschichte mit Bodhidharma so, weil sie so wundervoll respektlos alles „Heilige“ vom Tisch wischt.



Liebe F., dieser Brief besteht über weite Strecken lediglich aus kleinen Assoziationen zu dem von dir Geschriebenen, die ich nicht in größere Zusammenhänge bringen mochte/konnte. Ich lasse sie deshalb einfach als Schnipsel stehen. Ich hoffe, ich erschwere dir dadurch das Antworten nicht allzu sehr!

B.

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