Brief 81 | Goldene Worte oder Buchstaben

Liebe B.,

das war jetzt eine sehr lange Pause! Aber manchmal hat das Leben anderes mit einem vor, da muss man sich dann fügen. Dukkha – der Wagen hat diesmal etwas heftiger gerumpelt! Aber nun geht es hoffentlich wieder mit größerer Regelmäßigkeit hier weiter.

Doch wo setze ich nun an? Ich kann mir vorstellen, dass vieles aus unseren letzten Briefen inzwischen überholt ist, auch mein Antwortentwurf zu deinem letzten Brief. Aber ganz neu anzusetzen käme mir auch merkwürdig vor.

Ich werde weiter unten an das, was Du schreibst, auch mit einer Frage anknüpfen, die sich auf die Wochen unserer brieflichen Schweigezeit bezieht. Du musst dann bitte entscheiden, ob Du Dich darauf einlassen möchtest oder nicht.

Das transzendente Gegensatzpaar „Himmel“ und „Hölle“ stelle ich ans Ende meines Briefes und vereine es zu einem Stück. Am Anfang bin ich „dran“, die unreflektierte „Eingebung“ des „ich identifiziere mich“ (mit meinem Grundbedürfnis) mir und Dir zu erklären. Was meine ich mit dieser „seltsamen Formulierung“, als die ich sie bezeichnete.  

Bei deinem zweiten Bild, mit dem du mir dein Leid verständlich machen wolltest, dem der Obdachlosigkeit, schreibst du, dass du alle Möglichkeiten, mit dieser Lebensform so umzugehen, dass sie irgendwie erträglich wird, verwirfst.

Wenn ich das richtig verstehe, besteht dein Verhalten also darin, dich sozusagen nicht zu verhalten? Unter Verhalten verstünde ich in diesem Zusammenhang die Variationsmöglichkeiten, die du alle ablehnst. Ist das mit diesem „identifizieren“ gemeint? Du nimmst dieses Höllenschicksal ganz und gar an (radikale Akzeptanz!), aber willst es von deiner Seite her nicht verändern? Nein, das stimmt so nicht, denn du hast ja sehr viel versucht, um deine Lage zu ändern. Aber du bleibst bei dem Entweder-Oder, alles andere käme dir wie Schönrednerei vor? (Für mich wäre das eher ein produktiver Umgang mit den gegebenen Möglichkeiten.)

Es ist mein Herzens- und Seelenwunsch, in Liebe zu leben, und ich werde mich nicht verraten. Das heißt, ich werde mich von diesem Wunsch weder distanzieren, ihn blasser werden lassen noch werde ich ihn aufgeben, weil das hieße, meine Seele, mich zu verraten. Die Obdachlosigkeit war mir als Bild gegen das Schön- und das Schlechtreden eingefallen. Sieh doch, wie viel Schönes es sonst zu erleben gibt und denk’ nur daran, wie viele Leute Ärger mit ihrer Wohnung und ihrem Vermieter haben. Alles andere, das wichtig und schön ist und alle Gedanken daran, daß ein Heim nicht zwangsläufig der Himmel auf Erden ist, können dieses Bedürfnis nicht in einen anderen Rang versetzen. Die Obdachlosigkeit bleibt der Rahmen, in dem alles andere geschieht.  

Es ist vor allem das, was aus dieser Weigerung folgt: Eine vollkommene Auslieferung an ein Außen. (Du betonst ja auch immer wieder, dass es überhaupt nicht in deiner Macht stünde, an deinem Zustand etwas zu ändern.) Ich glaube, ich schrieb schon einmal von meinen „geistigen Autarkiefantasien“, um es mal so zu nennen. Ich habe z.B. mal den „Prometheus“ von Goethe auswendig gelernt, weil ich mir vorstellte (ich muss damals so 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein), falls ich jemals in Isolierhaft sitzen würde (warum auch immer das geschehen sollte! – ich war damals manchmal etwas schräg drauf), müsste ich unbedingt etwas haben, damit mein Lebenswille nicht gebrochen wird. Das heißt, ich wollte mein Schicksal nicht von einem Außen bestimmen lassen, unter gar keinen Umständen, sondern ich wollte es in meinen eigenen Händen behalten. Und so hatte ich auch nie die eine große Zukunftsvorstellung, einen Mann zu finden, der mich liebt und damit mein Leben heil und ganz macht (so sehr ich mir andererseits einen Freund wünschte, wie man das in der Pubertät und darüber hinaus halt tut). Mir sträubt sich heute noch so manches Nackenhaar bei der Vorstellung, von irgendjemandem dermaßen abhängig zu sein. Wenn jemand da ist – umso schöner! Aber ich will es auch allein schaffen können. Das ist so meine Grundeinstellung. Das macht es für dich vielleicht etwas verständlicher, warum ich die totale Fixierung deines Lebensglücks an eine andere Person ziemlich schauerlich finde.

Darauf habe ich 2 Antworten. Die erste: Du hast Deinen Mann kennengelernt, als Du 19 Jahre alt warst, und nun bist Du seit guten 2 1/2 Jahren alleine. Dein langes, bisher gelebtes Leben war ein komplett anderes als Deine Theorie. Die zweite, abstrahierende und generalisierende Antwort: Ja, ich hatte öfter schon an unser Gespräch über unsere Lebensvorstellungen gedacht, an Dein Befremden, Dein Erstaunen, als ich mehrmals davon erzählte, wie ich als junges Mädchen nur diesen einen Plan –an einen Mann- im Kopf hatte. Das ist tatsächlich ein völlig anderer Lebensentwurf als der Deine, in dem die Unabhängigkeit von Umständen und Menschen eine entscheidende Rolle spielt. Es scheint sich also, wie Du schreibst, um eine „grundlegende Einstellung“ zum Leben zu handeln, die mit dem, was praktisch gelebt worden ist, gar nichts zu tun hat. In der gegenwärtigen Situation knüpfe ich nun wieder an die Zeit als junges Mädchen an. Das ist übrigens eine wertfreie Feststellung. Ich betrachte es weder als ein positives „mir treu bleiben“ noch als ein Versagen in Hinsicht auf ein Verändern. Ob ich Deine Grundhaltung wirklich nachvollziehen kann, weiß ich nicht. Ich habe gelegentlich Anflüge von einem Bestreben, mich von keinem Menschen abhängig zu fühlen, meine gesamte Lebenskraft nur aus mir selber schöpfen zu wollen. Das ist immer dann der Fall, wenn ich an manchen Tagen (wie es so gehen kann) mich von X unbeachtet, von Y abgelehnt fühle, mit Z in einen Streit gerate und mich an einen weiteren Menschen gar nicht halten kann, weil niemand da ist. Wenn also meine Sicherheit, zu gelungenen Beziehungen fähig zu sein, tageweise verloren geht. Das scheint mir allerdings hauptsächlich eine Form schlechter Lösungsstrategie für eine bestimmte Situation, während für Dich, wenn ich es richtig verstehe, die Autonomie/Autarkie grundsätzlich und das heißt, unabhängig von bestimmten Situationen an oberster Stelle steht.                          

Zum Glück des Alleinseins

Da ich hierzu meine Antwort schon fertig geschrieben hatte, setze ich sie hierhin, egal, wie aktuell das noch ist.

Ich glaube, bei mir ist das um einige Stufen profaner. Wenn ich aufatme, weil ich endlich wieder allein bin, dann nicht, weil ich das als wesentlicher empfinde als das Zusammensein mit anderen, sondern weil ich dann endlich wieder entspannen kann. Ich finde Kontakte, egal wie angenehm, interessant, bereichernd etc. sie sind, als anstrengend. Und diese Anstrengung fällt von mir ab, wenn ich wieder allein bin. Das Aufatmen ist ein geradezu körperliches. [...]

Aber du hast insofern vielleicht Recht, als ich, wenn ich allein bin, oft das Gefühl habe, nun klärt sich manches wieder. So wie verwirbeltes Wasser sich klärt, wenn es zur Ruhe kommt, die Schwebstoffe zu Boden sinken und es wieder durchsichtig wird. Der Bodensatz ist weiterhin da, er ist nicht wesentlicher oder unwesentlicher als das Wasser. Aber das schöne, klare Wasser – das Nichts, wenn man so will – ist dann wieder spürbar, erlebbar, und das empfinde ich als beglückend.

Besonders auch, weil Du oben die Aktualität offen lässt, möchte ich gerne wissen, ob Du in der Zwischenzeit Erfahrungen gemacht hast, die Deinen Blick auf Deine Grundbedürfnisse in Bezug aufs Alleinesein und das Mit-Anderen-Sein verändert haben oder aber überhaupt Deine Aufmerksamkeit von diesem Aspekt des Lebens auf einen oder andere Aspekte des Lebens verschoben haben.  

Immanenz

– ich wüsste gern, ob du dich immer noch in diesem Abgrund befindest. Ich musste erst einmal nachschlagen, wie Augustinus sich die Hölle vorgestellt hat, damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Puh – das ist ein ungemein heftiges Bild! Ich habe lange überlegt, wie ich darauf eingehen könnte, denn mir ist eine solche Befindlichkeit sehr fremd, es fällt mir schwer sie nachzuempfinden. Auf jeden Fall habe ich verstanden, dass dein Leid für dich ein immenses ist.

Zu Deiner Frage: Ja. Mit meiner knappen Umschreibung hatte ich deutlich machen wollen, daß das Bild hinter dem Begriff weniger schlimm ist als das, was man mit dem Begriff assoziiert. Dennoch: Wenn mich dieser Begriff seit einigen Monaten begleitet, dann muß er eine Bedeutung haben, die allerdings, soweit ich es sagen kann, nicht in der Intensität des Leides begründet ist, sondern an einer anderen Stelle.

[...] Die Assoziation „Himmel und Hölle“ liegt ja nahe. Du befindest dich in der Hölle des Alleinseins, ich im Himmel des Alleinseins. Mal abgesehen von der Plattheit und damit Falschheit dieses Gedankens, kommt er mir auch aus einem anderen Grund nicht richtig vor. Beides sind sozusagen „jenseitige“ Vorstellungen, während ich für mich sagen würde, ich lebe ganz und gar in der profanen Immanenz. Das lasse ich jetzt auch einfach mal so stehen.

Nein, doch noch etwas: Eben fiel mir auf, dass ich zweimal das Wort „profan“ verwendet habe. Ich habe deshalb nachgeschlagen, was genau das eigentlich heißt. Es bezeichnet im Lateinischen ursprünglich den Bereich außerhalb des heiligen Bezirkes. Das Nicht-Heilige, das Weltliche, das Alltägliche.

Es ist mir sofort aufgefallen, daß ich zwar von der Hölle spreche, das Gegenstück dazu, was sich aufdrängt, jedoch nicht der Himmel ist. Das Gegenstück ist die Erde. Vielleicht ist also das Abgrundbild passender, auch deswegen, weil der Raum, in dem ich mich befinde, nach oben hin offen ist. Der Himmel ist es jedenfalls nicht, weil ich weiß, daß die Liebe das Nicht-Gute, das Nicht-Schöne, das Nicht-Glückliche nicht zum Verschwinden bringt; es ist das irdische Dasein mit allen seinen Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten, das bleibt. Befände ich mich auf der Erde, würde ich Deine Grundeinstellung aufgreifen. Hier kommt es auf mich an, ich kann meine Handlungskraft einsetzen. Entweder um die Bedingungen so zu gestalten, wie ich sie mir wünsche, und ist mir diese Möglichkeit verwehrt, weil die Umstände zu verändern unmöglich ist, dann kann ich meine Haltung ihnen gegenüber verändern. Die Hölle hingegen, das ist der entscheidende Beweggrund für die Wahl des Begriffes, hat es an sich, daß man von einem Außen gezwungen wird in ihr zu sein und sich nicht aus eigener Kraft daraus befreien kann. Es ist ein Urteilsspruch.

Kaiser Wu fragte den Zen-Patriarchen Bodhidharma: „Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit?“ Bodhidharma antwortete: „Offene Weite – nichts von heilig.“

Bei dieser Ansammlung von bedeutungsschweren Wörtern wird mir bewusst, daß die bedeutungsvollsten Wörter zugleich die bedeutungsleersten Wörter sind. Man kann überhaupt nicht sagen, was „Sinn“, „heilig“ und „Wahrheit“ bedeuten, die Bedeutung liegt in den Wörtern selbst. Es ist so, als würde man die Buchstaben im Geiste zu Worten vergolden und eine andere Person sagt: Ich sehe nur Buchstaben. Obwohl die oben aufgeführten Wörter bei mir vergoldet sind, kann ich die andere Sichtweise, es handle sich um Wörter ohne jede Bedeutung, vollkommen nachvollziehen. Ähnlich wie bei einem Kippbild. Obwohl mir das Kippen in die Bedeutungslosigkeit Mühe macht, so gelingt es mir dennoch. Wie ende ich nun? Ich möchte mich nicht auf das Wort „Hölle“ festlegen. Den Aspekt, der mir daran wichtig ist, den habe ich herausgefunden.            

F.

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