Brief 83 | Der Reiz des Unverbundenen

Liebe B.,

[...]dieser Brief besteht über weite Strecken lediglich aus kleinen Assoziationen zu dem von dir Geschriebenen, die ich nicht in größere Zusammenhänge bringen mochte/konnte. Ich lasse sie deshalb einfach als Schnipsel stehen. Ich hoffe, ich erschwere dir dadurch das Antworten nicht allzu sehr!

Nein, ganz im Gegenteil! Schon beim ersten Lesen Deines Briefes sind meine Gedanken angenehm bewegt worden. Das assoziativ Unverbundene ist, glaube ich, eine ausgezeichnete Methode, um eingerastete Gedankenverknüpfungen „anzustoßen“, sie wie Steine „ins Rollen zu bringen“. Die Überschrift für meinen Brief ist mir also mühelos „zugeflossen“.  

Übersetzung der Bilder

Ein grundsätzlicher Mangel – so kann ich es endlich nachvollziehen. Dieser grundsätzliche Mangel besteht einfach, egal ob drumherum schöne oder schlechte Dinge geschehen. Und ja, sie geschehen, die schönen und die schlechten Dinge, darum geht es gar nicht. Deine Bilder des Abgrundes und der Hölle hatten mich auf eine falsche Fährte gebracht, ich hatte sie so verstanden, als wenn die Welt für dich kaum noch existiert, solange du nicht „in Liebe lebst“, wie du es ausdrückst. Aber trotz deiner Bilder wandelst du ja weiterhin „oben“ auf der Erde, „nur“ emotional befindest du dich im Abgrund? („Nur“ in Anführungszeichen, weil das natürlich für dein Lebensgefühl bestimmend ist.)

Das ist eine tolle Beobachtung, weil ich mir öfter überlegt hatte, in welcher Beziehung der Abgrund und die Erde zueinander stehen; ob ich immer dann, wenn ich beschäftigt bin, mich oben aufhalte, und sobald ich die Augen schließe, befinde ich mich unten? Oder tagsüber oben und am Abend und in der Nacht unten? Oder ob mich das, was ich auf der Erde sehe und was aber nicht ist, in seiner Abwesenheit unten im Abgrund ausfüllt? Richtig gepasst hat keine der Lösungen, wie ich fand. Die Lösung, mein Leben nicht in zwei getrennten Räumen stattfinden zu lassen, sondern es auf der Erde zu sehen, gefällt mir spontan ... und es ist ja auch richtig. Den „emotionalen Abgrund“ würde ich in diesem Bild als einen andauernden Zustand des Sehnens und des Schmerzes beschreiben. Vorläufig mache ich mir dieses Bild zu eigen, und ich bin auch bereit dazu; mich auf der Erde zu sehen, ist weniger bedrohlich, weil ich dort ... oder besser hier in der Nähe von Menschen bin.     

Welt und Ich        

[...] Das vorherrschende Gefühl dabei war dasselbe wie nach dem Tod meines Mannes, nur jetzt noch klarer, weil ich in der Zwischenzeit mit dir gemeinsam so viel darüber nachgedacht habe: Ja, Kontakte sind wichtig; aber das, wohin es mich wirklich zieht, ist das Alleinsein. Es kann natürlich sein, dass sich das nach einigen Jahren noch ändert, dass mir das Alleinsein irgendwann zuviel wird, wenn ich es zu lange auslebe. Aber die Todesnähe hat mich, momentan jedenfalls, nicht zurück in die Arme der Menschheit getrieben.

Das überrascht mich s e h r, weil ich das Gegenteilige vermutet hatte. Daß die Erfahrung der plötzlichen Schwäche bzw. der körperlichen Gebrechlichkeit das Bedürfnis nach menschlicher Fürsorge ins Bewusstsein bringen und den Wunsch nach Nähe verstärken. In diese Richtung gingen meine Gedanken. Hm, wenn ich an meine wenigen Krankenhausaufenthalte -allerdings aus wenig schwerwiegenden Gründen- denke, dann waren sie alle mit einer starken Konzentration auf mich verbunden; ich gewann eine größere Distanz zu mir und meinem Leben, wobei ich mich selber zwar nicht explizit fragte, was „wichtig“ ist und was nicht, aber diese Frage stand im Hintergrund. (O, mir fällt ein, daß ich bei zweien von meinen Krankenhausaufenthalten meine geistigen Interessen entdeckt und anschließend weitergeführt habe.) Jedenfalls war es nicht der Wert der menschlichen Beziehungen, den ich damals entdeckte. Das heißt, die Konzentration auf mich war mit einer geistigen Weitung verbunden. Dies in Betracht ziehend, bin ich doch nicht mehr überrascht von Deiner Erfahrung.                

[...] so habe ich in letzter Zeit oft an den Anfang eines Gedichtes von Friedrich Rückert denken müssen:

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben.

Dieses „verdorben“ ist sehr ungerecht, denn ich habe ein wirklich schönes Leben geführt, was Ehe, Familie und Beruf, also alles Soziale betrifft, in dem mir kaum Schlechtes passiert ist, aber viel Beglückendes. Trotzdem hatte ich immer dieses untergründige Gefühl, dass mir die Welt zu nahe kommt, ich am liebsten von ihr abrücken möchte. Das schlechte Gewissen dabei lege ich nun nach und nach ab. Ich wende mich nicht im Groll von der Welt, sondern ich komme ihr sanft abhanden.

Mich fasziniert die Wirkung des „der Welt sanft abhanden gekommen“, weil ich das allererste Mal die für mich seltsame Verknüpfung von Aktivität und Passivität bei Dir zu verstehen meine. Dazu gehört zum Beispiel auch eine Deiner häufiger gebrauchten Redewendungen „es hat sich so ergeben“. Der Welt „sanft abhanden kommen“ changiert zwischen dem aktiven und passiven Modus. Weder die Welt noch Du sind das handelnde oder erleidende Subjekt. Es ereignet sich „etwas“, das die Folge einer Entwicklung zwischen Dir und der Welt ist. Das Älterwerden, die Zäsur durch den Tod Deines Mannes, Dein So-Sein. Das heißt, ich verstehe auf einmal, was es heißen könnte, im Fluß des Lebens mitzuschwimmen. Das Mitschwimmen ist der aktive Part.        

Vielleicht kommen daher meine während der langen Zeit der Ehe immer mal wieder auftauchenden Gedanken, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich es allein geführt hätte? Und daher auch die relative Leichtigkeit, mit der ich jetzt dieses neue Leben allein annehme, weil auch ich sozusagen an meine Zeit als junges Mädchen anknüpfe?

Das Obige bezieht sich auf das starke Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und Autonomie in Hinsicht auf andere Menschen und hier:

Ja, vielleicht Ähnliches kam mir in den Sinn, als ich über die Bedeutung von „profan“ nachdachte. Einfach nur das alltägliche Leben (die Buchstaben), ohne irgendwelche Überhöhungen (Vergoldungen). Alles „Heilige“, „Bedeutungsschwere“, alles, was über das Hier und Jetzt hinausgeht, kann Bedeutung haben, muss es aber nicht. Deshalb mag ich diese Geschichte mit Bodhidharma so, weil sie so wundervoll respektlos alles „Heilige“ vom Tisch wischt.

bin ich ins Sinnieren gekommen, wie Du den Wunsch nach Autonomie in Einklang bringst mit einem -nicht menschlichen- "Außen", womit ich von Dir nicht zu beeinflussende Umstände meine wie Krankheit und Tod. Du hattest dieses „Außen“ vor einiger Zeit auch als „Schicksal“ bezeichnet, das Du demütig annimmst. Gehört es zur Profanität dazu, daß dieses unbestimmte Außen tatsächlich bedeutungs-los bleibt? Ein anderer Begriff dafür wäre „Wertung“. Das Schicksal ist weder feindlich noch freundlich, es ist „offene Weite“? Oder es ist das „Kontingente“? Es ereignet sich ohne Dein Zutun und Du passt Dich ihm an; indem Du mitschwimmst, bist Du selbstbestimmt? Ich merke, daß die Autonomie und das Außen eine Fortsetzung und weitere Umrundung des Themas „Aktivität“ und „Passivität“ von oben ist.

Ich möchte mit meinen Gedanken, die ich so für sich habe dahinfließen lassen, an ein Ende kommen. Was ist wichtig? „Der Welt sanft abhanden kommen“ ist wie ein Schlüssel für mich, Dich auf einer tieferen Ebene als zuvor zu verstehen. Für mich zugleich eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, die Umstände, das Außen für kontingent (ein schönes Wort) zu halten – was Urteilssprüche ausschließt.                

F.

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