Liebe F., liebe Mitlesende,
das war jetzt eine sehr lange Pause! Aber manchmal hat das Leben anderes mit einem vor, da muss man sich dann fügen. Dukkha – der Wagen hat diesmal etwas heftiger gerumpelt! 😊 Aber nun geht es hoffentlich wieder mit größerer Regelmäßigkeit hier weiter.
Doch wo setze ich nun an? Ich kann mir vorstellen, dass vieles aus unseren letzten Briefen inzwischen überholt ist, auch mein Antwortentwurf zu deinem letzten Brief. Aber ganz neu anzusetzen käme mir auch merkwürdig vor. Ich fange deshalb mit dem Ende deines letzten Briefes an, der Augustinischen Hölle – ich wüsste gern, ob du dich immer noch in diesem Abgrund befindest.
Hölle
Ich nehme einen neuen Anlauf und versuche es mit dem Bild, das mich schon seit Monaten begleitet. Mit meinem Leben ohne Liebe befinde ich mich in einem Abgrund, der vom Erleben her der Höllenbeschreibung von Augustinus gleichkommt. Es bedeutet „nichts weiter“ als einen ununterbrochenen Schmerz der Seele zu empfinden. Mit einem Leben mit Liebe befände ich mich außerhalb, oberhalb des Abgrundes, auf der Erde, ohne den fortdauernden Schmerz.
Ich musste erst einmal nachschlagen, wie Augustinus sich die Hölle vorgestellt hat, damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Puh – das ist ein ungemein heftiges Bild! Ich habe lange überlegt, wie ich darauf eingehen könnte, denn mir ist eine solche Befindlichkeit sehr fremd, es fällt mir schwer sie nachzuempfinden. Auf jeden Fall habe ich verstanden, dass dein Leid für dich ein immenses ist.
Bei deinem zweiten Bild, mit dem du mir dein Leid verständlich machen wolltest, dem der Obdachlosigkeit, schreibst du, dass du alle Möglichkeiten, mit dieser Lebensform so umzugehen, dass sie irgendwie erträglich wird, verwirfst:
[…] das ist möglich, nur kann und will ich das nicht. Menschen können sich zu ihren Bedürfnissen und wohl auch Grundbedürfnissen verhalten. Wie verhalte ich mich? Mir fällt eine ganz seltsame Formulierung ein, die ich jetzt nicht weiter bedenken möchte und mit der ich meinen Brief beende: Ich identifiziere mich.
Wenn ich das richtig verstehe, besteht dein Verhalten also darin, dich sozusagen nicht zu verhalten? Unter Verhalten verstünde ich in diesem Zusammenhang die Variationsmöglichkeiten, die du alle ablehnst. Ist das mit diesem „identifizieren“ gemeint? Du nimmst dieses Höllenschicksal ganz und gar an (radikale Akzeptanz!), aber willst es von deiner Seite her nicht verändern? Nein, das stimmt so nicht, denn du hast ja sehr viel versucht, um deine Lage zu ändern. Aber du bleibst bei dem Entweder-Oder, alles andere käme dir wie Schönrednerei vor? (Für mich wäre das eher ein produktiver Umgang mit den gegebenen Möglichkeiten.)
Ich schließe das aus deiner Frage an mich:
Es ist nicht so sehr die Zweiteilung, bei der Dein wohlwollendes Verstehenwollen endet, falls ich es richtig sehe, sondern es ist die Weigerung, irgendetwas anderes als die Liebe für eine Möglichkeit halten zu wollen, aus dem Abgrund raus und auf die Erde zu kommen?
Es ist vor allem das, was aus dieser Weigerung folgt: Eine vollkommene Auslieferung an ein Außen. (Du betonst ja auch immer wieder, dass es überhaupt nicht in deiner Macht stünde, an deinem Zustand etwas zu ändern.) Ich glaube, ich schrieb schon einmal von meinen „geistigen Autarkiefantasien“, um es mal so zu nennen. Ich habe z.B. mal den „Prometheus“ von Goethe auswendig gelernt, weil ich mir vorstellte (ich muss damals so 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein), falls ich jemals in Isolierhaft sitzen würde (warum auch immer das geschehen sollte! – ich war damals manchmal etwas schräg drauf), müsste ich unbedingt etwas haben, damit mein Lebenswille nicht gebrochen wird. Das heißt, ich wollte mein Schicksal nicht von einem Außen bestimmen lassen, unter gar keinen Umständen, sondern ich wollte es in meinen eigenen Händen behalten. Und so hatte ich auch nie die eine große Zukunftsvorstellung, einen Mann zu finden, der mich liebt und damit mein Leben heil und ganz macht (so sehr ich mir andererseits einen Freund wünschte, wie man das in der Pubertät und darüber hinaus halt tut). Mir sträubt sich heute noch so manches Nackenhaar bei der Vorstellung, von irgendjemandem dermaßen abhängig zu sein. Wenn jemand da ist – umso schöner! Aber ich will es auch allein schaffen können. Das ist so meine Grundeinstellung. Das macht es für dich vielleicht etwas verständlicher, warum ich die totale Fixierung deines Lebensglücks an eine andere Person ziemlich schauerlich finde.
Zum Glück des Alleinseins
Da ich hierzu meine Antwort schon fertig geschrieben hatte, setze ich sie hierhin, egal, wie aktuell das noch ist.
Das feeling, „jetzt endlich bin ich wieder für mich“ oder „jetzt bin ich endlich wieder bei mir“ (was trifft besser?) das kann ich sehr gut nachvollziehen. Mich interessiert, ob Du dieses Gefühl in Verbindung bringen kannst mit einer Begrifflichkeit wie „hier ist das Wesentliche“, „das Eigentliche“ oder „hier fallen Ich und Welt in eins zusammen“? Als ich eben das Gefühl noch genauer fassen wollte, fielen mir diese Worte und auch die leicht schwülstig angehauchte Formulierung ein.
Ich glaube, bei mir ist das um einige Stufen profaner. Wenn ich aufatme, weil ich endlich wieder allein bin, dann nicht, weil ich das als wesentlicher empfinde als das Zusammensein mit anderen, sondern weil ich dann endlich wieder entspannen kann. Ich finde Kontakte, egal wie angenehm, interessant, bereichernd etc. sie sind, als anstrengend. Und diese Anstrengung fällt von mir ab, wenn ich wieder allein bin. Das Aufatmen ist ein geradezu körperliches. Ob ich dann auch zum „Wesentlichen“ komme? – ich weiß nicht. Mal ja, mal nein. Manchmal findet etwas „Wesentliches“ ja auch in Begegnungen statt. Und manchmal versumpfe ich allein in irgendwelchen Trivialitäten, die nun alles andere als wesentlich sind.
Aber du hast insofern vielleicht Recht, als ich, wenn ich allein bin, oft das Gefühl habe, nun klärt sich manches wieder. So wie verwirbeltes Wasser sich klärt, wenn es zur Ruhe kommt, die Schwebstoffe zu Boden sinken und es wieder durchsichtig wird. Der Bodensatz ist weiterhin da, er ist nicht wesentlicher oder unwesentlicher als das Wasser. Aber das schöne, klare Wasser – das Nichts, wenn man so will – ist dann wieder spürbar, erlebbar, und das empfinde ich als beglückend.
Immanenz
Noch mal zurück zur Hölle. Die Assoziation „Himmel und Hölle“ liegt ja nahe. Du befindest dich in der Hölle des Alleinseins, ich im Himmel des Alleinseins. Mal abgesehen von der Plattheit und damit Falschheit dieses Gedankens, kommt er mir auch aus einem anderen Grund nicht richtig vor. Beides sind sozusagen „jenseitige“ Vorstellungen, während ich für mich sagen würde, ich lebe ganz und gar in der profanen Immanenz. Das lasse ich jetzt auch einfach mal so stehen. 😊
Nein, doch noch etwas: Eben fiel mir auf, dass ich zweimal das Wort „profan“ verwendet habe. Ich habe deshalb nachgeschlagen, was genau das eigentlich heißt. Es bezeichnet im Lateinischen ursprünglich den Bereich außerhalb des heiligen Bezirkes. Das Nicht-Heilige, das Weltliche, das Alltägliche.
Kaiser Wu fragte den Zen-Patriarchen Bodhidharma:
„Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit?“
Bodhidharma antwortete: „Offene Weite – nichts von heilig.“
B.
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