Brief 79 | Menschen verhalten sich zu ihren Bedürfnissen

Liebe B.,

Nochmal zur Ganzheit

Gerne -

[...] Zu dieser Ganzheit gehören ja auch alle negativen Anteile ­­­– Ängste, Trauer, unerfüllte Träume, Zorn, Unzufriedenheit … Und ist man in gewisser Hinsicht nicht immer eine Ganzheit? Das hatte ich in meinem letzten Brief gemeint, als ich in Klammern schrieb, ich sei zwar einerseits weit von einer Ganzheit entfernt, andererseits aber auch wieder nicht. Das klingt natürlich paradox, aber vielleicht kann man das so auflösen: Es geht um den Unterschied, sich als Ganzheit zu fühlen und eine Ganzheit zu sein. Man ist immer eine Ganzheit, das geht ja gar nicht anders; all die vielen einzelnen Aspekte und ihr Zusammenspiel machen das aus, was ich insgesamt gerade jetzt bin. Dies auch bewusst zu fühlen und zu akzeptieren ist aber eine etwas andere Sache.

Und was habe ich davon, wenn mir das bewusst wird? [...]

Ja, vor allem auf die negativen Aspekte dieser Ganzheit bezogen ist Versöhntsein der bessere Ausdruck. Ich heiße sie ja nicht wirklich alle willkommen, aber alles in allem bin ich schon in Ordnung so, wie ich bin. Sich dieses Gefühls bewusst zu sein empfinde ich als sehr wohltuend.

Ja, die Worte ... nachdem ich Deine neuerliche Umschreibung gelesen habe, setze ich, in meinen Worten ausgedrückt, „im Einklang mit sich sein“ ein, was annähernd dem entspricht, was Du als „Ganzheit“ bezeichnest. „Im Einklang mit sich“ ist für mich mehr in der Alltagssprache verwurzelt, während ich „Ganzheit“ in anspruchsvolleren philosophischen Konzepten ansiedle – was mich dann wiederum an Paradieseszustände denken lässt.

Dennoch bleibt der personengebundene Unterschied, daß es für Dich ein andauernder oder länger währender Zustand sein kann, ich mich hingegen nur punktuell, tageweise im Einklang mit mir befinde. Da mir hauptsächlich wichtig ist, das Gefühl (wie es sich anfühlt) verstehen zu können, lasse ich den Unterschied unberücksichtigt, daß man eine „Ganzheit“ sowieso immer ist, wie Du schreibst, während im „Einklang mit sich sein“ lediglich den Gefühlsaspekt ausdrückt.        

Vom Glück der Kontakte und vom Glück des Alleinseins

Ich glaube, dass das Alleinsein sich bei mir so in den Vordergrund geschoben hat (so sehr, dass ich darüber die Bedeutung der sozialen Kontakte fast vergessen habe), liegt daran, dass ich immer noch erstaunt darüber bin, wie wichtig es für mich ist. Dazu muss ich wohl etwas weiter ausholen.

Mein Mann hatte immer mal wieder die Befürchtung geäußert, er könne mich mit seiner ausgeprägten Menschenscheu an einem offeneren, fröhlicheren, geselligeren Leben hindern. Ich hatte ihn zwar immer beruhigt und versichert, dass dem nicht so sei. Einerseits holte ich mir die Geselligkeit halt ohne ihn, wenn ich ein Bedürfnis danach hatte, andererseits war meine Ungeselligkeit manchmal sogar noch ausgeprägter als die seine. Meistens jedoch waren wir uns in dieser Hinsicht sehr einig.

Dennoch hatte ich manchmal den Verdacht, dass wir uns vielleicht einfach sehr aneinander angepasst hatten. Was wäre, wenn ich mit einem anderen, kontaktfreudigeren Mann leben würde? Hätte ich dann eben meine gesellige Seite mehr ausgeprägt, das vielleicht sogar genossen? (Meine spontane Reaktion: Es hätte mich nach kurzer Zeit genervt.) Das wiederum warf in mir die Frage auf, die mich nun schon die ganze Zeit begleitet, seit mein Mann tot ist: Wer oder wie bin ich eigentlich ganz für mich allein, ohne den Einfluss eines Partners?

Es ist s o gut, daß Du den Hintergrund erzählst, weil ich vor diesem Hintergrund die Bedeutung, die dieses Thema überhaupt für Dich hat, erst richtig begreifen kann. Das Thema hat Dich also schon während Deiner Ehe beschäftigt, was ich keineswegs selbstverständlich finde. Ich zum Beispiel habe mir das niemals überlegt, zumindest nicht in Verbindung mit meinem Mann. Meine Überlegungen, wenn ich sie anstellte, kreisten hauptsächlich darum, was mich an Kontakten so schreckt.    

Damals war gerade der Corona-Lockdown, was mir in dieser ersten, akuten Trauerphase sehr guttat, mir aber auch vor Augen führte, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich in einigen Jahren in Rente gehe und dann buchstäblich niemanden mehr hätte außer meinen Töchtern. Und das erschien mir sowohl für mich selbst als auch für meine Töchter unzumutbar. Ich habe also ziemlich schnell verstanden, dass ich ein paar weitere Ankerpunkte in der Welt brauchte, und habe sie gesucht und glücklicherweise ziemlich schnell gefunden.

Dann folgte jedoch Phase 2. Nachdem dieses Grundbedürfnis nach Kontakten – und ja, das ist wirklich ein elementares Bedürfnis – einigermaßen und vor allem (so hoffe ich) nachhaltig befriedigt war, stellte ich zunehmend fest, dass ich mich über diese (wenigen) Kontakte zwar sehr freute, dass sie mir aber immer wieder schnell zu viel wurden. Ganz wie zu Lebzeiten meines Mannes! Nach jedem Kontakt, und wenn er noch so interessant oder erfreulich war, bin ich unglaublich froh, allein in meine Wohnung zurückkehren zu können. Ich atme dann regelrecht auf, noch viel stärker als früher. (Gerade flasht eine Erinnerung hoch: Ich habe es schon als Kind – oder vermutlich wohl eher als Heranwachsende – geliebt, wenn ich nach Hause kam und überraschenderweise niemand da war. Eine Weile ganz für mich allein zu sein war so beglückend!) Der Genuss des Alleinseins ist so groß, dass ich nicht das geringste Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung habe, ja sie mir geradezu als eine Störung vorstelle. Und es ist gewiss kein Zufall, dass meine engeren Kontakte alle virtuell sind.

Das feeling, „jetzt endlich bin ich wieder für mich“ oder „jetzt bin ich endlich wieder bei mir“ (was trifft besser?) das kann ich sehr gut nachvollziehen. Mich interessiert, ob Du dieses Gefühl in Verbindung bringen kannst mit einer Begrifflichkeit wie „hier ist das Wesentliche“, „das Eigentliche“ oder „hier fallen Ich und Welt in eins zusammen“? Als ich eben das Gefühl noch genauer fassen wollte, fielen mir diese Worte und auch die leicht schwülstig angehauchte Formulierung ein. Möglicherweise sind sie allerdings dem „Sinn“ vergleichbar und das heißt, sie kommen Dir „unsinnig“ vor („Sinn“ als ein Imaginiertes zu verstehen, habe ich noch niemals irgendwo gelesen –vielleicht nur mit Worten benannt, die Ähnliches meinen- aber jedenfalls ist es eine tiefgründige Beobachtung (das meine ich unironisch), denn tatsächlich findet sich zum „Sinn“ keine Entsprechung im Erleben). Mir sind „wesentlich“ usw. nun aber eingefallen, deswegen stelle ich meinen Einwand zurück und frage Dich.        

Aber du hast natürlich Recht: Dieser Pol benötigt einen Gegenpol als Balance. Mir fällt die Gewichtung ein, die ich vor einiger Zeit mal vorgenommen habe: Gleichgewicht bedeutet für mich nicht 50 : 50, sondern eher 80 : 20, also mindestens 80 % Alleinsein und höchstens 20 % Kontakte.

Neulich las ich den netten Ausdruck von den „nährenden“ Kontakten. Je mehr nährende Kontakte man hat, desto weniger (quantitativ) braucht man. Die Qualität ist maßgeblich.

Offene Fragen

und weitere dazu -

Sinn – ich komme mit diesem Wort einfach nicht zurecht. War mein Leben sinnvoll, als ich es mit meinem Mann zusammen verbracht habe? Ist mein Leben sinnlos, weil ich nun allein durch die Welt gehe? Ist mein Leben dadurch sinnvoll, dass ich Kinder in die Welt gesetzt habe? Sind alle einsamen Menschen sinnlos?

Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Immer, wenn ich über „Sinn“ nachdenke, will es mir so scheinen, als ob das eine Sache ist, die wir uns konstruieren, mit der unterschwelligen Implikation, dass es sich hier nicht um etwas Reales, sondern um etwas Imaginiertes handelt. Was dann bei mir die Frage aufwirft: Ja und – hat etwas Imaginiertes etwa keine Bedeutung? Hier überstürzen sich meine Gedanken dann regelmäßig, und ich breche das ab.

Dass du dein Leben während deiner Ehe als „gut“ empfunden hast, kann ich dagegen sehr gut nachvollziehen. Das ist so ein Konglomerat aus Geliebtwerden, Gebrauchtwerden, Geschätztwerden, wichtig für jemanden sein, eine durch niemanden zu ersetzende Bedeutung haben … Dieses über viele Jahre gewachsene und tief verwurzelte Lebensgefühl ist mit dem Tod des Partners weggebrochen. Wodurch ersetzt man es? Kann man es überhaupt ersetzen? Oder kann man es nur wieder in einer Beziehung herstellen?

Ich stelle all diese Fragen, ohne eine Antwort zu haben.

Der Ausgangspunkt ist die von mir vorgenommene Zweiteilung meines Lebens gewesen, bei der es kein „Dazwischen“ gibt. Die Einteilung in „Glücklich“ und „Unglücklich“ hatte ich aufgrund Deiner Antwort aufgegeben und anstelle dessen den „Sinn“ gesetzt. Am Ende ist dabei herausgekommen, daß „Sinn“ mir doch nicht richtig schien ... oder vorsichtiger ausgedrückt, daß mir Zweifel gekommen sind. Deine Fragen und Deine Beschreibung der Ehe zielen genau auf den Punkt, in dem für mich die Schwachstelle beim „Sinn“ liegt. Kann man unter Sinnlosigkeit leiden?

Ich nehme einen neuen Anlauf und versuche es mit dem Bild, das mich schon seit Monaten begleitet. Mit meinem Leben ohne Liebe befinde ich mich in einem Abgrund, der vom Erleben her der Höllenbeschreibung von Augustinus gleichkommt. Es bedeutet „nichts weiter“ als einen ununterbrochenen Schmerz der Seele zu empfinden. Mit einem Leben mit Liebe befände ich mich außerhalb, oberhalb des Abgrundes, auf der Erde, ohne den fortdauernden Schmerz.

Es ist nicht so sehr die Zweiteilung, bei der Dein wohlwollendes Verstehenwollen endet, falls ich es richtig sehe, sondern es ist die Weigerung, irgendetwas anderes als die Liebe für eine Möglichkeit halten zu wollen, aus dem Abgrund raus und auf die Erde zu kommen? Hm, die Zweiteilung zieht logischerweise nach sich, daß man sich entweder oben oder unten aufhält, es gibt darin keine Zwischenbereiche. Immer wieder läuft es darauf hinaus. Und immer wieder gibt es die eine Bedingung, die zu erfüllen nicht in meiner Kraft steht.  

Und ein letzter Versuch, mir selber und Dir die Dimension verstehbar zu machen. Du hattest in Deinem letzten Brief den Begriff „Grundbedürfnis“ eingeführt, hier fragst Du nach der „Ersetzbarkeit“ (des Lebensgefühls in einer ehelichen Beziehung), und mir ist dazu der Vergleich mit Menschen eingefallen, die keine Wohnung haben, die obdachlos sind. Das ist aus meiner Sicht etwas so Grundlegendes, daß das gesamte übrige Leben davon geprägt ist. Man kann die Wohnungslosigkeit kultivieren, zu einer eigenen Lebensform ausbilden, man kann sie zu einer Ort- und Heimatlosigkeit werden lassen, die ersetzt wird durch ein „in der Welt“ zuhause sein ... das ist möglich, nur kann und will ich das nicht. Menschen können sich zu ihren Bedürfnissen und wohl auch Grundbedürfnissen verhalten. Wie verhalte ich mich? Mir fällt eine ganz seltsame Formulierung ein, die ich jetzt nicht weiter bedenken möchte und mit der ich meinen Brief beende: Ich identifiziere mich.                  

F.

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